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Schröders Gespür

 
     
 
In der zweiten Januarwoche besuchte ein Regierungschef die Hauptstadt, der sein Land gerne als EU-Mitgliedsland sehen würde: Recep Tayyip Erdogan. Und weil in Berlin so viele seiner Landsleute ansässig sind, schaute er auch mal kurz in Kreuzberg - alias Klein-Istanbul - vorbei. Dort habe er sich daheim gefühlt, hieß es in der Lokalpresse. Kein Wunder - Deutsche fühlen sich in Kreuzberg ja auch nicht mehr zu Hause. Erdogan nahm auch gleich zu aktuellen Fragen deutscher Innenpolitik Stellung: Das Tragen eines Kopftuches sei Privatsache und solle verbeamte
ten Lehrern nicht untersagt werden. Ist nicht in öffentlichen Gebäuden in der Türkei das Kopftuch tabu? Aber Erdogans Stippvisite diente einem handfesten politischen Anliegen und nicht der Kleiderordnung in deutschen Schulen. Erdogan sagte: "Wir wollen zur Familie der Europäischen Union gehören." Dreiviertel seiner Landsleute unterstützen den Kurs ihres Regierungschefs. Bundeskanzler Schröder macht dieses Thema große Sorgen. Denn in Deutschland dürften Meinungsumfragen zu dem Thema genau umgekehrt ausgehen. Die Deutschen wollen keine Ausdehnung der EU bis an die Grenzen Persiens. Schröder, der ein Gespür für solche Stimmungen hat und zuweilen nationale Interessen in der EU umsetzt, hat sich voreilig für den EU-Beitritt festgelegt. Jetzt liegt ihm das Thema schwer im Magen. Als Erdogan nach Berlin kam, meldete sich Schröder deswegen erst einmal krank und ließ sich von Außenminister Fischer vertreten. 

Bei der Europawahl könnte Schröder ein Waterloo erleben, wenn die Union die Tür-keifrage thematisiert. Sogar der Bush-Fan Friedbert Pflüger (CDU) widersetzt sich der Aufnahme der Türkei. Er plant, diesen Punkt ganz oben auf der Unionsagenda zu plazieren. Für die Wähler wird es wohl die letzte Chance sein, den EU-Beitritt zu verhindern. Als Ursache ihrer Ablehnung führen Unionsvertreter an, die Staatengemeinschaft habe so fürchterlich viele neue Beitrittskandidaten zu verkraften. Außerdem sei die Türkei nicht reif. Das sind alles Gründe, die zutreffen. Der eigentliche Einwand bleibt ungenannt: Die Türkei ist ein islamisches Land, und Europa ist ein christlicher Kontinent. Das paßt nicht zusammen. Etwas mehr Ehrlichkeit wäre dieser Debatte förderlich. Ehrlichkeit gegenüber den Wählern in Deutschland. Außerdem gebietet der Anstand, daß man Erdogan und seinen Landsleuten, von denen immerhin drei Millionen hier leben, keine falschen Hoffnungen macht.
 
     
     
 
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