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Schwenkitten 1945

 
     
 
Ostdeutschland 1945 - Alexander Solschenizyn berichtet in seiner autobiographischen Erzählung "Schwenkitten 45" erstmals über seine Kriegserfahrungen. Die Verteidigung der Heimat bei Kursk im Sommer 1943 und der Vorstoß nach Ostdeutschland im Winter 1945 sind Thema dieser deutschen Erstveröffentlichung. Mit dieser Erzählung, die nun erstmals in deutscher Sprache vorliegt, knüpft der Literat
urnobelpreisträger an die großartige Prosa seines "Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch" an. Hier folgt nun Teil III, der bei Langen-Müller erschienenen Veröffentlichung Alexander Solschenizyns, die seit Folge 46 in der Freiheits-Depesche abgedruckt wird.

Es wurden Leute losgeschickt, um die Häuser zu untersuchen. Sie waren leer, aber alle geheizt. Die Bewohner waren offenbar erst vor wenigen Stunden geflüchtet. Das bedeutete: Weit konnten sie noch nicht gekommen sein. Junge Frauen wären vielleicht in den Wald geflohen - aber hier war überhaupt niemand mehr.

Am Ostrand von Schwenkitten wurden acht Kanonen aufgestellt. Nicht alle zwölf, das wäre sinnlos gewesen. Bojew befahl dem Batterieführer Kassjanow, seine 6. Batterie 800 Meter südlich zu postieren, rückwärts, schräg gegenüber dem Dörfchen Klein Schwenkitten.

Auch dort - niemand. In Liebstadt hatten sie nicht gesucht. Und seit Liebstadt hatten sie keine lebende Seele mehr gesehen. Wo steckt die Infanterie? Überhaupt - keine Spur von unseren Brüdern.

Es war ganz unbegreiflich: Stellen wir hier Geschütze zu weit weg von den Deutschen auf? Oder sind wir im Gegenteil zu weit vorgeprescht? Vielleicht hocken sie im nahen Wäldchen. Jedenfalls müssen wir bis zu diesem Wäldchen Sicherung vorschieben.

Nichts zu machen. Die Zugmaschinen röhrten. Die 6. Batterie zog auf der Seitenstraße nach Klein Schwenkitten. Die 4. und 5. hatten nebeneinander Stellung bezogen. Die Geschützbedienungen liefen aus der Marschordnung an ihre Geschütze und machten sie schießbereit. (Und natürlich machten sie die nächstliegenden Häuser ausfindig, in denen man sich ausruhen und schlafen kann.)

Ein Häuschen - wie ein Spielzeug. Soll das etwa eine Dorfhütte sein? Die Einrichtung ist städtisch. Behaglich, hübsch verteilt. Keine Elektrizität, weil die Leitung unterbrochen ist. Aber sie fanden zwei Petroleumlampen, stellten sie auf den Tisch. Bojew studierte die Karte. Eine Karte erzählt immer viel. Betrachtet man sie genau, kann man noch in der hoffnungslosesten Situation etwas Hilfreiches erkennen.

Bojew drängte niemanden zur Eile, es mußte ohnehin auf die Schlitten gewartet werden. Auch früher schon war Bojew gelegentlich in eine ungewisse Lage geraten. Aber das war in seinem eigenen Land gewesen.

Der Funker hatte schon Verbindung zum Brigadestab. Antwort: "Wir brechen in Kürze auf." (Sie waren also noch nicht unterwegs.) Und Neuigkeiten? Anordnungen? Einstweilen keine.

Plötzlich - Schritte im Flur. Der Führer der Schallmeßbatterie, die Bojew unterstand, im gut sitzenden Offiziersmantel, trat ein. Ein alter Bekannter, schon seit Orjol. Mathematiker. Er breitete sofort seine Karte unter der Lampe aus und überlegte dann so: Da ist der direkte Feldweg nordöstlich nach Dittrichsdorf, etwas mehr als zwei Kilometer von hier. Dort wird die Zentralstation sein, dahin muß die Leitung gelegt werden.

Bojew betrachtete die Karte. Er las Karten schneller als Bücher. Und: "Ja, wir werden irgendwo in der Nähe sein. Ich etwas weiter rechts. Lasse die Leitung legen. Und die Topographen?"

"Ich habe einen Trupp bei mir. Aber was für eine Vermessung nachts? Sie werden die Koordinaten ungefähr abstecken und zu euch kommen."

So wird auch der Beschuß werden. Ungefähr. Er hatte es eilig. Zum Reden blieb keine Zeit. Nur ein freundschaftlicher Händedruck.

"Bis dann." Irgendwas blieb ungesagt. Er hätte seinen Batterieführern Instruktionen geben sollen, doch die waren ohnehin beschäftigt. Und dann - die Pferde abwarten.

Und Bojew legte sich auf ein kleines Sofa, denn in Stiefeln zu Bett zu gehen, ist unschicklich. Und ohne Stiefel ist man kein Soldat.

Für manch einen hatte der Krieg 1941 begonnen, für Bojew schon 1938 in den Kämpfen gegen die Japaner am Chassan-See. Dann kam der Finnische Winterkrieg. So zog sich der Krieg für ihn schon das siebte Jahr hin, zweimal durch Verwundungen unterbrochen. Heimaturlaub hatte es nicht gegeben - in seine Ischimischen Steppen mit den Hunderten von spiegelnden Seen und den Wildrudeln, auch nicht zur Schwester nach Petropawlowsk. Schon das elfte Jahr hatte sein Weg nicht zu ihr geführt.

Als er zur Armee kam, hatte Pawel Bojew noch kaum etwas vom Leben gesehen. Was für Möglichkeiten hatte er davor? Südsibirien hatte sich lange nicht vom Bürgerkrieg, vom niedergeschlagenen ischimischen Bauernaufstand 1921 erholen können. In Petropawlowsk lagen hier und da kaputte Zäune und Barrikaden herum, wo sie heil geblieben waren, waren sie krumm und schief. Fensterscheiben waren durch Lumpen ersetzt, durch zusammengeschnürtes Papier. Der Filz an den Haustüren hing in Fetzen, da und dort ragten Stroh und Bast heraus. Und die Wohnverhältnisse? Sehr schlecht. Er hauste bei seiner verheirateten Schwester Praskowja. Mit dem Schuhwerk stand es nicht besser: Du nähst und nähst Sohlen drunter, aber die Zehen liegen frei. Und das Essen? Noch schlechter: Dieses Brot auf Lebensmittelkarten - ein Nichts für einen gesunden Mann ... Überall mußte man Schlange stehen, manchmal ab fünf Uhr morgens. Wo anders stürmt ein ganzer Haufen los, ohne zu fragen, was es gibt. Aber wo sich Menschen ansammeln, wird s schon irgendwas geben. Und viele, viele Bettler auf den Straßen.

Dagegen in der Armee: Zum Mittagessen Borschtsch mit Fleisch und Brot satt. Die Uniform, wenn auch nicht immer neu, so doch heil. Die Soldaten sind die geliebten Söhne des Volkes. Es gibt Litzen: himbeerfarbene für die Infanterie, schwarze für die Artillerie, blaue für die Kavallerie und noch weitere (rote für die GPU). Klare Ordnung der Beschäftigungen: Antreten, Marschieren, Grüßen. Das Leben ist durch und durch sinnvoll. Das Leben ist Dienst, und keiner ist überflüssig. Er ging zur Armee, noch ehe er eingezogen wurde.

So hatte ihn, den nichts außer dem Soldatenleben freute, der nicht geheiratet hatte, die Trompete auch in diesen Krieg gerufen.

In der Armee begriff sich Pawel als geborener Soldat, die Armee war sein Zuhause. Für ihn bestand das Leben nun aus Gefechtsordnung, Schießen, Stellungswechsel, Vormarsch, Kartenaustausch. 1941 hatten sie Geschütze und Zugmaschinen verloren, später passierte so etwas nicht mehr, höchstens wenn das Geschütz einen Volltreffer bekam oder die Zugmaschine von einer Mine zerrissen wurde. Der Krieg ist einfach Arbeit, ohne Erholungstag, ohne Urlaub, die Augen am Scherenfernrohr. Die Abteilung ist die Familie, die Offiziere sind die Brüder und die Soldaten Söhne, und jeder für sich ist ein Schatz. Gewohnt an die ständigen Drangsale des Lebens, an die Wechselhaftigkeit des Glücks, konnte keine Wendung der Ereignisse ihn verwundern oder erschrecken. Tatsächlich, er hat vergessen, sich zu fürchten. Wenn eine zusätzliche oder gefährliche Aufgabe zu leisten war - er übernahm sie. Auch unter heftigster Bombardierung und dichtestem Beschuß dachte Bojew nie an den Tod, sondern nur daran, wie die begonnene Operation am besten durchzuführen sei.

Alexander Solschenizyn: "Schwenkitten 45", Langen-Müller, München 2004, geb., 205 Seiten, 19.90 Euro

 
     
     
 
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