|  | Es war nachts um halb vier, als mich das Telefon aus dem     Schlaf riß. "Hello! Here San Francisco, California. Mein Name ist Henry Smith"      es klang wie Heinrich Schmidt und ganz nah , "ich vertrete eine große     Investment company. Wir bauen weltweit Unterhaltungs- und Vergnügungsparks. Gerade jetzt     haben wir einen großen, weißen Fleck auf unserer Landkarte entdeckt: das Königsberger     Gebiet. Dort wollen wir nun eine solche Anlage bauen. Kennen Sie dort einen passenden     Platz, den Sie uns empfehlen können?"
 Spätestens da war ich hellwach. "Ich kenne sogar den schönsten Platz auf der     Erde", sagte ich, "aber empfehlen kann ich ihn nicht." "Wo ist dieses     wunderbare Land?" fragte Mister Smith atemlos vom Pazifik her. "Das ist     Pillau-Neutief und die Frische Nehrung. Eine Trümmerwüste und ein Naturparadies. Ein     Niemandsland im untergegangenen Ostdeutschland, das seine Zukunft sucht 
"     "Ja, ja", unterbrach mich der smarte Investor
   , "das ist genau das     Richtige." "Nein, nein", beschied ich ihn, "trotzdem das Falsche. Denn      abgesehen vom Schutz der Natur im Urzustand  hätten Sie dort nicht die     Gäste, die Sie brauchen. Woher sollen sie kommen? Wie sollen sie dort hinkommen? Und das     Schlimmste: Wollen Sie Ihr Geld riskieren, wo niemand weiß, wie sicher es angelegt ist     und wie es weitergeht?" "Das begreife ich nicht", sagte Mister Smith     resigniert und legte auf. Sorry! 
 Ja, wer kann das begreifen? Mehr als ein halbes Jahrhundert war das ganze Königsberger     Gebiet hermetisch abgeriegelt. Pillau ist immer noch ein Sperrbezirk in dem 1991     geöffneten Königsberger Gebiet, nur mit schriftlicher Genehmigung erreichbar. Seit gut     zwei Jahren dürfen Besucher auch schon mal einen Fuß auf die andere Seite des Tiefs     setzen, seit einem Jahr sogar gelegentlich nach Neutief hinein vorstoßen. Mit     Sondergenehmigung und in Begleitung gelang uns, was bis vor kurzem noch unvorstellbar war:     ein gründlicher Besuch in Neutief und eine Erkundungstour auf die Frische Nehrung bis an     die Grenze zu ihrem polnischen Teil hinter Narmeln.
 
 Peter der Große hätte es sich nicht träumen lassen, als er vor fast 300 Jahren im     Pillauer Zeughaus mit Preußenkönig Friedrich Wilhelm I. tafelte, daß er einmal den     Platz des Großen Kurfürsten vor dem Leuchtturm einnehmen würde. Seit zwei Jahren steht     sein imposantes Standbild dort, in der westlichsten Stadt des Nachkriegsrußlands, auf     einem neuen Sockel; der alte "ziert" das völlig heruntergekommene Gelände in     der Zitadelle. Der Große Kurfürst, entscheidender Förderer Pillaus und Schöpfer der     preußischen und damit auch deutschen Flotte, hat  als einziges gerettetes Denkmal     aus Ostdeutschland  Zuflucht in der Patenstadt Eckernförde gefunden.
 
 Zar Peter blickt streng südwestlich über Vorhafen, Molenweg und das Pillauer Tief,     das sich wie ein übergroßer Kanal schnurgerade in die Ostsee streckt, so als ob er uns     beobachtet auf unserer Entdeckungsreise. Er sieht auf das Westfort, das unser erstes Ziel     drüben ist. Die Straße  oder das, was von ihr übriggeblieben ist  nahe am     blauen Wasser des Tiefs, das wir noch vor acht Jahren während der Fahrt auf dem     Königsberger Seekanal vom Riesennetz einer U-Boot-Sperre durchzogen sahen, führt an     alten Wohnhäusern von Flugplatzbediensteten vorbei  in 54 Jahren russischer     Nichtpflege dahinsiechend. Ein Giebel ist von Geschoßeinschlägen durchlöchert. Gardinen     verraten: Hier wohnen Menschen. Das Westfort öffnet sich uns panoramaartig wie ein     gewaltiges Kolosseum. Dünensand hat die "Arena" hoch und breitbucklig gefüllt;     Buschwerk an den Rändern und dünnes Gras mit zaghaft blühenden Blumen. Schwarzbunte     Kühe haben hier ihre kümmerliche Weide, plazieren ihre Fladen auf das einst heroische     Gelände oder dösen in den Kasematten. Das Westfort  ebenso wie auf der anderen     Seite des Tiefs das Ostfort nahe der früheren Strandhalle und die siebenzackige Zitadelle     im Herzen der späteren Stadt  war das Werk Gustav Adolfs von Schweden, der im Krieg     gegen Polen als erster die strategische Lage dieser Gegend erkannte. Der Bau dauerte von     1626 bis 1635, insgesamt bis 1670. Viel Nutzen hat die Bastion an exponierter Stelle über     die Jahrhunderte nicht gebracht. Nur zeitweilig waren Soldaten dort kaserniert. Zum     Einsatz kamen sie nicht. Bis auf eine kleine Batterie im letzten Krieg. Und sie stand auf     verlorenem Posten, als das Inferno über Pillau hereinbrach.
 
 Weit geht der Blick oben auf den gewaltigen Umfassungsmauern über das Tief mit Süder-     und Nordermole und auf die leicht bewegte See hinüber nach Pillau, wo die begrenzte     Zivilisation dieser Gegend endet, und auf die unwirkliche Welt vor uns, die das Auge     feucht werden läßt.
 
 Südlich liegt ein fast menschenleerer, breiter Strand vor uns. Nur ein paar     Bernsteinsammler suchen den weißen Sand ab. Eine mächtige Blütendolde auf hoher Staude     setzt einen kräftigen gelben Farbtupfer ins herzbewegende Bild. Grüner Strandhafer     überlappt die von Fluten und Stürmen zerrissene Vordüne wie ein Riesenteppich. Dort     hinten, wo sie verflacht und der Wald sich duckt, muß der Ort sein, den wir suchen, die     Stelle, wo am 27. April 1945 der Kampf um Pillau sein Ende fand: der Bunker Lehmberg mit     seinen Verteidigern unter Generalmajor Carl Henke. Namen, die in die Kriegsgeschichte     eingegangen sind. Werden wir den Platz finden?
 
 Ostwärts auf sanft hügeliger Düne stellen hochgewachsene, breitkronige Laubbäume     die Kulisse für einen vielfältigen, herrlichen Bewuchs; weiße Birken, kuschelige     Weiden, stachelige Akazien, Gebüsche, die grüne Zierflecken auf dem hellen Buckel     bilden, blühende Heckenrosen, dornige Stranddisteln, Netze von Flechten, wilde     Stiefmütterchen. Doch der Blick ins Naturparadies bleibt nicht ungetrübt. Ruinen,     eingestürzte Bauten, Gerippe einstiger Häuser, die in den Lücken sichtbar werden,     reißen uns aus allen schönen Träumen.
 
 Die Trümmerwüste im Naturparadies offenbart sich schockartig, wenn wir weitergehen     und das Gelände der früheren Siedlung am Seefliegerhorst betreten. Nicht ein Gebäude,     das nicht von Verfall und Zerstörung gezeichnet ist. Dann und wann leidlich erhaltene     Häuser, die bewohnt sind; sogar zwei, drei Blocks der alten Kasernen, durch russische     Einheits-Eternitdächer verfremdet. ()
 
 
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