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Verspätete Büttenrede

 
     
 
Gerhard Schröder hat eine Idee. Er will der Kakophonie im eigenen Lager einen Überbau geben. Früher, so vor 150 Jahren, hätte man gesagt, einen geistigen Leitfaden durch den historischen und dialektischen Materialismus, kurz: einen roten Faden bieten. Darin sollen auch Begriffe wie "Zivilgesellschaft" und "Gemeinsinn" vorkommen. Schröder versucht sich als politischer Philosoph des 21. Jahrhunderts. Es wird wieder viel Begeisterung in den Rängen der SPD geben. Ähnlich dem Wort, das ein Urahn dieser Partei, Engels, von seinem Freund Marx sagte: "Daß die wirkliche Vernunft und Gerechtigkeit bisher nicht in der Welt geherrscht haben, kommt nur daher, daß man sie nicht richtig erkannt hatte. Es fehlte eben der geniale einzelne Mann, der jetzt aufgetreten ... Er hätte ebensogut 500 Jahre früher geboren werden können und hätte dann der Menschheit 500 Jahre Irrtum, Kämpfe und Leiden erspart."

Man darf also gespannt sein. Natürlich gibt es da einige humorlose Skeptiker
, vorwiegend in den Reihen der Opposition, die diese für den 14. März angekündigte Regierungserklärung für eine verspätete Büttenrede halten. Gerhard Schröder als Lehrer im Fach "Gemeinsinn der Deutschen", womöglich noch "Glaubwürdigkeit in Fragen von Steuern und Abgaben" - das erfordert schon ein gewisses, ja anstrengendes Maß an Phantasie.

Schwer vorstellbar ist auch, wie dieser Kanzler zum Beispiel das Thema Kündigungsschutz, das mittlerweile schon witzigerweise einen hohen Symbolgehalt für die Reformfähigkeit von Rot-Grün hat, Gewerkschaften und Union gleichermaßen mundgerecht servieren will. Mit einem Appell an Gemeinsinn oder gar Gemeinwohl kommt er da nicht weiter. Es wäre der beste Dienst für das Gemeinwohl, wenn er selbst zurückträte und damit die innere Führungslosigkeit der Regierungskoalition beendete. Nur: Bis jetzt hat sich noch keiner gefunden, der Schröders Worte Wochen nach der Wahl ernst nimmt und sagt: Ja, ich kann es besser.

Das gilt auch für den als möglicher Ersatzmann gehandelten Bundesarbeits- und Wirtschaftsminister Clement. Der müht sich redlich, aber die sozialdemokratischen Beharrungskräfte in Partei und Gewerkschaft sind stärker. Kein Wunder: Fast dreiviertel der SPD-Abgeordneten sind auch Mitglieder der Gewerkschaft. Für sie ist jede Lockerung des Kündigungsschutzes ein Vergehen am Sozialstaat. Daß vier von fünf Unternehmern angeben, sie würden bei einer Lockerung Neueinstellungen vornehmen, ist für sie kein Argument. Es geht um Besitzstandswahrung für die Mitglieder der Gewerkschaft, also die Arbeithabenden, nicht um Beistand für die Arbeitsuchenden. Womit wir wieder beim Thema Gemeinsinn wären.

Die Grünen lösen das Problem auf ihre Art: Erst wird über die Öffentlichkeit ein Streit zwischen Fraktion und Partei inszeniert, dann folgt der Ruf nach dem Gesamtpaket, auch Reformpaket genannt, das bis zum Sommer auf dem Tisch liegen soll. Bis dahin sind etliche Pensionsansprüche schon mal gesichert - und gleichzeitig das Programm für das Sommertheater. Sozusagen als gleitender Übergang von der verspäteten Büttenrede des genialen Ablenkungskanzlers hin zum fünften rot-grünen Sommer. Wenn sich die Genossen da nur nicht täuschen und die Wirklichkeit ihnen einen Strich durch die Pensionsansprüche macht. Weitere 500 Jahre wird Deutschland kaum auf geniale Einfälle warten können.
 
     
     
 
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