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Viel Vieh wenig Bedürfnisse

 
     
 
Nach der verheerenden Niederlage Preußens 1806 gegen Napoleon vollzo sich in dem geschlagenen Staat mit Gerhard von Scharnhorst der Aufstieg einer de überragendsten Persönlichkeiten für die großen Reformen, an deren Ende nicht nur die Niederlage des französischen Imperators und die Neuordnung Europas von 1815 standen sondern – als Fernwirkung – auch die Wiedererrichtung des Deutschen Reiche durch Bismarck
im Jahre 1871. Scharnhorst, am 2. Mai 1813 bei Großgörschen tödlic verwundet und am 28. Juni 1813 in Prag gestorben, erlebte die Niederlage Napoleons zwa nicht mehr, doch hatte er als strategischer Kopf daran den entscheidenden planerische Anteil. Wenig bekannt ist bis heute das Wirken Scharnhorsts in Ost- und Westpreußen. Die Bedeutung des deutschen Ostens für die Wiedergewinnung der Freiheit des deutschen Volke 1815 war jedoch erheblich.

Nach der Niederlage des preußischen Heeres bei Jena und Auerstädt im Herbst 1806 sa sich ganz Deutschland in einer tiefen Krise. Fünfeinhalb Jahre nach seiner Ankunft in Preußen stand Scharnhorst vor den Trümmern des Staates, mit dessen Schicksal er im Ma 1801 sein Leben verbunden hatte. Sollte er nun aufgeben und sich nach Bordena zurückziehen, wie ihm manche rieten?

Am 12. November 1806, seinem 51. Geburtstag, schrieb er seiner Tochter: "Ich bi in diesen Tagen wie zermalmt, so niedergedrückt und von wehmütigen Gefühlen bestürmt daß ich mich wieder nach der Tätigkeit sehne." Wenige Tage nach dem Austausch au der Gefangenschaft hatte er sich aber wieder gefaßt. Er wollte nun so rasch als möglic dem König im fernen Ostdeutschland nähere Kunde der jüngsten Ereignisse überbringen; e ging um die moralische Pflicht, dem König zu dienen, "solange er noch einen Soldate hat", und "alle Anstrengungen und Gefahr des Kampfes gegen den übermütige Feind meines Vaterlandes" auf sich zu nehmen. Die Gefahren der winterlichen Ostse sprachen für die Wahl des beschwerlichen Landweges nach Ostpeußen. Nach Besorgung de notwendigen Pässe für das schon bis zur Weichsel von französischen Truppen besetzt Gebiet trat Scharnhorst am 14. November 1806 in Hamburg die Reise an, die übe Travemünde, Rostock, Anklam zunächst nach Danzig gehen sollte. In nahezu jede Poststation schrieb er den Seinen Briefe.

Die Briefe auf der Reise waren in diesen Herbsttagen die einzige Unterhaltung gerichtet an die nächsten Menschen, von denen er sich nun immer weiter entfernte auf de Weg in eine ungewisse Zukunft. Er schreibt seiner Tochter: "Mich trifft es doppelt da ich alle die Fehler, die Dummheit, die Feigheit kenne, die uns in die jetzige Lag gebracht haben. Der einzige Trost, der innere, ist, daß ich Vorschläge von Anfang a getan habe, wie man unserm Unglück zuvorkommen konnte, die Errichtung eine Nationalmiliz, die allgemeine Bewaffnung des Landes im vorigen Sommer, die Verstärkun der Regimenter, eine engere politische Verbindung (durch den Beitritt zur europäische Koalition). Ebenso habe ich in den Operationen immer den richtigen Gesichtspunkt gezeigt in die Schlacht selbst habe ich den Teil, bei dem ich war, zum Siege geführt, kurz, ic habe für meine Person tausend mal mehr getan als ich zu tun brauchte."

Möglichkeiten für Zwischenfälle gab es auf dieser ungewöhnlichen Winterreise viele Man mußte mit Marodeuren rechnen, seitens der jetzt das Land besetzenden Sieger ebens wie von den nach Hause strebenden Zersprengten der eigenen Armee. Als Scharnhorst am 28 November in der noch von den Preußen gehaltenen Festung Danzig eintraf, jubelte er "In dieser Nacht bin ich hier in dem Hafen der völligen Freiheit angekommen. Nu kann mich nichts mehr abhalten, zu dem Könige zu kommen."

Am 4. Dezember war er in Königsberg, am 8. endlich im Hauptquartier des Königs in abgelegenen Wehlau. Sogleich ging ein Bericht über die abenteuerliche Reise an den Brude Wilhelm: "Ich bin zwei Mal im Schnee liegengeblieben. Dies ist ein besonderes Land es ist ein Mittelding zwischen dem kalten und dem gemäßigten Klima. Die Pelze sind a der Tagesordnung, die Pferde klein, laufen aber ganz außerordentlich. Viele Gehölze viele Wölfe, guter Boden, viel Vieh, wenig Bedürfnisse." Es verwunderte ihn, da die Offiziere und die höhere Gesellschaft auch hier auf die beliebten Winterbälle nich verzichten wollten. Er schreibt: "Der König und die Königin haben mich gnädige als jemals aufgenommen. Sie empfinden die Lage, zeigen aber, besonders der König, ein Fassung, die ihnen Ehre macht. Der König ist mir in einem Grade gnädig, daß ich hoffe kann, daß mein Gesuch in jedem Fall durchgeht" – gemeint war eine neue Aufgab in den nächsten Kämpfen, denn der Krieg ging ja weiter. Scharnhorst erfuhr jetzt auc von dem sogenannten "Ortelsburger Publicandum", das der König noch vor seine Rückkehr am 1. Dezember unterzeichnet hatte als Signal seiner Entschlossenheit, die unausweichlichen Maßnahmen zur Erneuerung der Armee alsbald zu beginnen.

Nach den Wochen, in denen Scharnhorst ausschließlich auf französische Informatione angewiesen gewesen war, erfuhr er bei seiner Rückkehr erstmals wieder von der aktuelle Kriegslage, die sich für Preußen doch weniger ungünstig darstellte, als er befürchte hatte. Napoleon stand bei Winterbeginn etwa auf der Linie von Elbing bis Warschau. Noc hielten sich die Festungen Danzig mit 10 000 Mann und Graudenz mit 4000 Mann. An de Ostsee waren Stralsund und Kolberg unbezwungen. Im Süden war Schlesien mit seine Festungen noch in preußischer Hand. In Ostdeutschland standen Feldtruppen in der Stärke vo etwa 15 000 Mann, dazu noch etwa 121 000 Freiwillige in Freikorps als eine Ar Nationalmiliz – gewiß keine imposante Streitmacht angesichts der erneut, vor alle durch Rheinbundtruppen verstärkten Armee Napoleons. Ein russisches Hilfskorps war in Anmarsch auf die mittlere Weichsel. Die Befreiung der belagerten Festung Danzig war ei mögliches Ziel. Aber schon Mitte Januar ging Bonaparte wieder zur Offensive über un drängte das preußische Korps und die Russen bis zu den masurischen Seen zurück. Am 7 Februar kam es bei Preußisch-Eylau zu einer blutigen Winterschlacht, in der es de preußischen Kontingent von etwa 5000 Mann unter dem General L’Estocq mit Scharnhors als Stabschef gelang, das Schlachtfeld zu behaupten. Der russische Oberbefehlshabe Bennigsen nützte jedoch den Erfolg nicht aus und befahl aus Sorge um sein Nachschublinien den Rückzug. Aber zum ersten Mal in diesem Krieg waren die Preußen nich geschlagen worden, und Scharnhorst hatte einen gewichtigen Anteil daran.

Im preußischen Hauptquartier kehrten die alten Schwächen zurück. Der General von de Knesebeck empfahl nach der Schlacht von Eylau in einer Denkschrift Waffenstillstand un Friedensschluß unter der Voraussetzung, daß Preußen östlich der Elbe erhalten bliebe Jetzt war es Graf Hardenberg, der diesen Vorschlag zurückwies, solange Sachsen zu Rheinbund gehörte und in Preußen französische Besatzung stand. Diese feste Haltun wurde durch einen förmlichen preußisch-russischen Bündnisvertrag am 26. April 180 unterstrichen. Scharnhorst kam auf seine Grundidee zurück, eine große europäisch Koalition gegen Napoleon zusammenzubringen, und er hoffte – nicht allzu realistisc – auf einen Aufstand in Nordwestdeutschland mit englischer Unterstützung. Noc einmal zitterte die Waage des Geschicks unentschieden hin und her. Die Festungen Danzi und Kolberg behaupteten sich noch immer, und im schlesischen Gebirge leistete Graf Götze mit 7000 Mann, zum Teil Freiwilligen, erfolgreichen Widerstand gegen die eingedrungene Franzosen. Es war ein erster erfolgreicher Kleinkrieg, in dessen Verlauf Götzen auc Reformen vorwegnahm wie die Abschaffung des alten militärischen Strafsystems, de Kompaniewirtschaft und der umfangreichen Offizierstrosse, bewährte junge Freiwillige zu Offizieren ernannte und die Verbindung zur Bürgerschaft pflegte. Indessen mobilisiert Napoleon neue Kräfte mit Truppen vor allem aus dem Rheinbund, Italien und jetzt auch au Polen. Durch die Kapitulation der Festung Danzig am 26. Mai bekamen die Franzosen ihr Belagerungsarmee von 30 000 Mann frei. Der russische Oberbefehlshaber ergriff nun sehr verspätet, die Initiative. Mitte Juni wurden in den Schlachten von Friedland un Heilsera Russen und Preußen erneut geschlagen. Die ersteren zogen hinter die Memel ab die Preußen wurden auf die Festung Königsberg zurückgeworfen. Memel, der nördlichst Punkt der preußischen Monarchie, wurde zum letzten Zufluchtsort für Hof und Regierung.

In der kleinen Notresidenz Memel grassierte in diesem Winter 1806/07 die Ruhr Scharnhorst selbst wurde viel von Kopfweh und Zahnschmerzen geplagt. Das Leben war teuer von den Lebensmitteln bis zu den Postgebühren, und den Kauf einer Bernsteinkette für die Tochter mußte er sich schließlich doch versagen. Jetzt, da so viele Offiziere entlasse oder auf Halbsold gesetzt worden waren, hatte Scharnhorst auf sein Gehalt als Generalmajo verzichtet. Als Ersatz und Entlastung für die Staatskasse hatte der König ihm die Einkünfte aus der Amtshauptstadt Rügenwalde in Höhe von jährlich 500 Rheintaler zugewiesen. Sparsamkeit und nicht selten auch übertriebene Geldsorgen des soziale Aufsteigers tauchten in den Briefen immer wieder auf.

Schon im April 1807 war von Beamten, Offizieren und Lehrern in Königsberg ei sogenannter "Sittlich-wissenschaftlicher Verein" gegründet und durc königliches Dekret genehmigt worden mit dem Ziel einer vaterländischen Erneuerung. De bald populär "Tugendbund" genannte Verein hatte im August 1809 738 Mitglieder vor allem in Ostdeutschland und Pommern mit einer Überrepräsentation von Offizieren darunter auch die beiden Mitglieder der Militärischen Reorganisationskommission Boyen un Grolman, während Scharnhorst, Gneisenau und Stein anfangs zwar mit dem Verei sympathisierten, aber nie Mitglieder waren. In einer Satzung von nicht weniger als 38 Paragraphen waren die Aufgaben festgelegt unter Beschwörung von Sittlichkeit, Religio und Gemeingut als Grundlagen des Staates, insgesamt "ein Konzentra bürgerlich-braven Denkens, eine erstaunliche Zusammenfassung von Moralismus Sentimentalität und Weltfremdheit". Der "Tugendbund" ist denn auch in seiner Wirkung vielfach überschätzt worden, nicht zuletzt vom französische Nachrichtendienst, obwohl er sich immer mehr in kleinlicher Vereinsmeierei un geheimnisvoll sein sollenden freimauerischen Riten verlor. Als er schon Anfang 1810 unte französischem Druck durch ein Dekret des Königs aufgelöst wurde, endete damit ein ehe philiströses Unternehmen, das die Grenzen der Möglichkeit einer Volkserhebung in preußischen Osten und Norden deutlich machte.

Seit Januar 1808 waren Hof und Regierung in Königsberg. Man hoffte auf baldig Rückkehr nach Berlin, die sich dann aber noch um zwei Jahre, bis Dezember 1809 verzögern sollte. Als engster militärischer Berater des Monarchen war Scharnhors häufig an der – kostenlosen – königlichen Tafel zu Gast. Er wohnte möblier bei einer Vermieterin "am Wall": "Ich bin fast auf dem Lande" berichtete er, "trete aus der Stube in den Garten, aus der Haustür auf den Wall un ins Feld", wie er es liebte. Es war der Sommer der großen Reformen 1808. A Vormittag war er in der Regel beim König zum Vortrag oder in den Sitzungen de Reorganisationskommission, nachmittags entstanden Denkschriften. Seit dem Sommer 180 begannen die spanischen Ereignisse ihre Unruhewellen bis ins ferne Ostdeutschland zu spülen.

Die neuere Forschung hat darauf aufmerksam gemacht, daß das verbreitete Bil korrigiert werden müsse, vor allem die Reformen hätten nach 1807 eine "wehrhaft Staatsnation" geschmiedet, die dann 1813 zur Erhebung geschritten sei. Das triff nicht den Sachverhalt. Noch war das Bewußtsein des Volkes eher dynastisch un provinziell-freundschaftlich als einheitlich preußisch geprägt. Wenn 1813 dann doc ein Geist der Erhebung entstand, hatte er seine Wurzeln vor allem in den bedrückende Erfahrungen der "Franzosenzeit", die für die übergroße Mehrheit in Stadt un Land gleichbedeutend war mit Einquartierung, Kontributionen, Plünderung, Geldentwertun und Mangel aller Art. Zuletzt hat dann der Auf- und Durchmarsch der Großen Armee in Frühjahr und Sommer 1812 die franzosenfeindliche Haltung der erschöpften Bevölkerun nochmals erheblich gesteigert. Ohne das prägende Erlebnis von Besatzung und fremde Vorherrschaft, von sechs Jahren schwerster wirtschaftlicher Probleme im Zeiche politischer Abhängigkeit ist die Wucht der Erhebung von 1813 nicht zu begreifen.

Der Politikwissenschaftler und Historiker Professor Klaus Hornung, Jahrgang 1927 emeritierter Professor an der Universität Hohenstein, ist Autor der jüngst in zweite Auflage erschienenen Biographie "Scharnhorst – Soldat, Reformer Staatsmann" (Esslingen, Bechtle-Verlag, München 1999).

 
     
     
 
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