A B C D E F G H I J K L M N O P Q R S T U V W X Y Z
     
 
     
 

Von Wehrgerechtigkeit kann schon lange nicht mehr die Rede sein: Wehrpflicht vor dem Ende

 
     
 
Seit fast 200 Jahren mußten junge Deutsche damit rechnen, Soldat zu werden. Mit Ausnahme von ein paar Jahren nach dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg, als die Sieger die allgemeine Wehrpflicht für Deutschland verboten hatten, folgten sie der Forderung des großen preußischen Heeresreformers Scharnhorst, daß jeder Bewohner des Landes auch dessen geborener Verteidiger zu sein habe. Meistens galt es als "Ehre für jeden freien Mann, zur Landesverteidigung beizutragen und mit seinem Leben Vaterland, Familie, Haus und Hof zu schützen", wie Gerhard von Scharnhorst formulierte. Damit aber dürfte es bald vorbei sein.

Selbst kritische, der Wehrpflicht zugeneigte Beobachter geben ihr höchstens noch eine Lebensdauer von vier bis fünf Jahren. Dann wird Deutschland nichts anderes übrig bleiben, als - wie die meisten seiner Verbündeten - von der Wehrpflichtigen-Armee zur Berufs
armee umzuschwenken.

Die öffentliche Meinung beginnt sich bereits umzustellen. Als an der Ostgrenze unter der Dominanz der Sowjetunion der Warschauer Pakt mit seiner Drohung stand, die Weltrevolution voranzubringen, da sah die große Mehrheit der Bundesdeutschen einen Sinn in der Wehrpflicht. Noch vor zwei Jahren sprachen sich bei einer Befragung 67 Prozent der Bürger für die Wehrpflichtigen-Armee aus. Aber bereits in diesem Jahr sank der Satz auf 41 Prozent. Und 40 Prozent bejahen jetzt schon die Freiwilligen-Armee.

Diese Entwicklung mag von den Bejahern unseres Staates bedauert werden, war die Wehrpflicht doch von Anfang an ein Kind der Demokratie, wie der erste Bundespräsident Theodor Heuss es formulierte. Sie paßte sicherlich besser zu unserer Gesellschaft, die theoretisch davon ausgeht, daß das ganze Volk eine Mitverantwortung auch an der Sicherheit des Staates trägt.

Auch dürfte die Beibehaltung der Wehrpflicht alles in allem praktischer für den Unterhalt einer Armee sein, und viele meinen, sie sei auch preiswerter als eine Berufsarmee. Günstig wirkt es sich aus, daß die Bundeswehr aus den Wehrpflichtigen viele Zeit- und Berufssoldaten gewinnen kann. Auch ist das intellektuelle Niveau einer Streitmacht, die wenigstens zum Teil aus Wehrpflichtigen besteht, erwiesenermaßen höher als das einer Berufsarmee.

Ein weiteres Argument für die Wehrpflicht: Einmal abgeschafft, kann sie nicht im Bedarfsfall wieder in kurzer Zeit aus dem Boden gestampft werden. Und wer ga-rantiert schon, daß wir, um ein etwas dümmliches Wort des ehemaligen Verteidigungsministers Rühe zu gebrauchen, in aller Zukunft "von Freunden umzingelt" sein werden? Sollte das einmal nicht mehr der Fall sein, und die Geschichte war voller Überraschungen, dann fehlt nach Einführung einer Berufsarmee der große Stamm der ausgebildeten Reservisten, der die Streitkräfte schleunigst zu einer schlagkräftigen Verteidigungsarmee gestalten könnte.

Aber sind diese Argumente eigentlich wirklichkeitsnah? Haben wir denn überhaupt noch eine große Zahl von einsatzfähigen Reservisten? Bei der bisherigen Bundeswehrstruktur von 340.000 Soldaten gab es einen Wehrpflichtigen-Anteil von circa 120.000. In zwei Jahren soll nach weiterer Reduzierung unserer Streitkräfte auf 285.000 Mann die Zahl der Wehrpflichtigen nur noch 80.000 betragen. Das sind gerade mal 20 Prozent der Männer eines Geburtsjahrganges. Die Entwicklung wird weiter in diese Richtung laufen, weil der Staat kein Geld hat, um eine größere Armee zu unterhalten. Damit aber sinken auch die Zahlen der Wehrpflichtigen und damit der Reservisten. Zudem weiß man jetzt schon nicht, was man mit unseren Reservisten anfangen soll. Es gibt, obwohl längst angekündigt, kein Reservisten-Konzept.

Ob tatsächlich eine Berufsarmee teurer ist, darüber streiten sich die Fachleute.

Man sollte endlich in der breiten Öffentlichkeit zur Kenntnis nehmen, daß dieser Staat schon aus finanziellen Gründen nicht in der Lage ist, die Bundeswehr in ihrem jetzigen Umfang und in ihrer jetzigen Struktur in einer Weise zu finanzieren, daß die Mittel mit dem Auftrag und der Fähigkeit der Bundeswehr in Übereinstimmung zu bringen sind. Das ist im Grunde eine Bankrott-Erklärung. Da schickt die Regierung deutsche Soldaten in alle Himmelsrichtungen - je weiter entfernt, desto attraktiver offenbar für reisende Regierungsmitglieder. Man sieht aber keine Möglichkeit, die Soldaten angemessen auszurüsten. Das hat, wie der Beauftragte für Erziehung und Ausbildung beim Generalinspekteur der Bundeswehr, der Brigadegeneral Löchel, in seinem letzten Bericht feststellte, bereits die Folge, daß die Truppe "nicht mehr vorbehaltlos hinter der militärischen Führung steht" und daß nicht selten die Frage gestellt wird: "Warum zieht Ihr uns denn ein, wenn Ihr uns nicht vernünftig ausstatten könnt?"

Mehr Geld als bisher - es sind zur Zeit 24,4 Milliarden Euro im Haushaltsjahr - wird es auch nach der Bundestagswahl nicht geben, gleichgültig, welche Partei den Bundeskanzler stellt. Und dabei besteht schon heute im Verteidigungsetat eine Finanzierungslücke von drei Milliarden Euro. Der Staat ist finanziell am Ende. Und so wird die Bundeswehr weiter verkleinert werden müssen - nicht aus politischen Gründen, sondern um Geld zu sparen.

Damit wird die Zahl der eingezogenen Wehrpflichtigen noch geringer, und von einer Wehrgerechtigkeit kann überhaupt keine Rede mehr sein. Denn auch wenn man die 110.000 Plätze für Zivildienstleistende zu den 20 Prozent der in der Bundeswehr dienenden Wehrpflichtigen eines Geburtsjahrganges hinzuzählt, verbleiben nicht einmal 50 Prozent der Männer eines Jahrganges, die überhaupt einen Dienst leisten. Wo soll da noch Wehrgerechtigkeit herrschen?

Viel schwerer als finanzielle Engpässe und alle anderen Argumente aber wiegt, daß zumindest seit den ersten Einsätzen der Bundeswehr außerhalb Deutschlands die ideelle Grundlage der allgemeinen Wehrpflicht entfallen ist. Die preußischen Reformer, auf die man sich stets berufen hat, begründeten die Forderung, daß jeder Bürger sein Land zu verteidigen habe, so: "Zur Erreichung und festen Begründung der Selbständigkeit des Staates, des Glückes und der Ehre eines Volkes fordere ich meine Unterthanen, Adel, Bürger und Bauernstand, auf, die Waffen zu ergreifen." So hieß es im Aufruf "An mein Volk!" 1813. Vorausgegangen waren Jahre der französischen Fremdherrschaft, die Volk und Staat ausgeplündert hatte und die 100.000 Deutsche das Leben kostete, die gezwungen worden waren, unter Napoleon nach Rußland zu ziehen. Von dieser Fremdherrschaft wollten sich die Deutschen befreien. Das allein rechtfertigte es, jeden Mann zu den Waffen zu rufen.

Ob eine Wehrpflichtigen-Armee billiger war als eine Berufsarmee spielte dabei keine Rolle. Wenn die Rentabilität die Begründung dafür sein sollte, daß junge Männer eine bedeutende Zeit ihres Lebens in den Dienst der Gemeinschaft stellen sollen, dann gibt es in einem Land noch zahlreiche andere Aufgaben, für die Staatsbürger verpflichtet werden könnten. Nein, allein die Tatsache, daß es um die Existenz einer Nation geht, rechtfertigt die Wehrpflicht.

Sieht man sich aber Einsätze der letzten Jahre für unsere Soldaten an, dann fragt man sich vergeb- lich, wo es dort um die Ver- teidigung unseres Staates geht, für die allein nach unserem Grundgesetz deutsche Streitkräfte aufgestellt werden durften. Man hat bereits durch die Einführung des sogenannten Bündnisfalles, in dem die Bundeswehr - mit Zustimmung der Bundesregierung - eingesetzt werden darf, diese strikte Beschränkung auf die Landesverteidigung aufgeweicht.

Das hat zur Folge, daß die Einsatzorte immer exotischer werden. Sollen demnächst etwa auch Bundeswehreinheiten eingesetzt werden, wenn sich Großbritannien wieder einmal mit Argentinien wegen der Falklandinseln in die Wolle kriegt?

Wann eigentlich hat es in der Bundesrepublik Deutschland eine allgemeine Diskussion gegeben über die vor einigen Jahren neu aufgetauchte "Euro-Atlantische Sicherheit", für die auch Deutschland Verantwortung übernehmen soll? Mit dieser Begründung stehen unsere Soldaten heute im fernen Afghanistan, mit dieser Begründung schippern deutsche Kriegsschiffe vor der ostafrikanischen Küste herum, und niemand weiß so recht, weshalb.

Zugegeben: für diese Einsätze werden Wehrpflichtige nur eingesetzt, wenn sie einwilligen, doch sind solche Einsätze überhaupt nur möglich, weil es immer noch über 100.000 Wehrpflichtige in der Bundeswehr gibt, die den Interventionskräften überall in der Welt den Rücken freihalten.

Der Versuch der CDU, die Wehrpflicht beizubehalten mit der Begründung, es gelte, Deutschland vor einer "asymmetrischen Gefährdung" (so Schäuble) zu schützen, das heißt vor einer möglichen Gefährdung durch terroristische Organisationen, läuft ins Leere. Das würde den Einsatz der Bundeswehr im Inland bedeuten, und dazu müßte das Grundgesetz geändert werden.

Dafür aber gibt es im Bundestag keine Mehrheit. Außerdem ist es einigermaßen zweifelhaft, ob Deutschland tatsächlich durch die von den Amerikanern erfundenen "terroristischen Organisationen" gefährdet ist. Bisher gibt es dafür keine seriösen Anzeichen.

So verständlich es ist, wenn viele auch für die Zukunft eine deutsche Wehrpflicht bejahen, so unwahrscheinlich ist ihre Weiterexistenz. Zugegeben: eine Berufsarmee wirft eine Unzahl neuer Probleme auf - unsere Verbündeten, die längst die Wehrpflicht abgeschafft haben, können ein Lied davon singen. Die in den letzten Jahren verfolgte Politik, aus der Bundeswehr eine auf der ganzen Welt einsetzbare Interventionsarmee zu machen, hat aber alle Voraussetzungen für eine Wehrpflichtigenarmee zunichte gemacht.

 

Fototext: Kein Job für Wehrpflichtige: Das Bestreben, aus der Bundeswehr eine Interventionsarmee mit Einsätzen auf den Pulverfässern dieser Erde zu machen, hat alle Voraussetzungen für eine Wehrpflichtigenarmee zunichte gemacht. Würden sich von den rund 100.000 Wehrpflichtigen, die bislang in der Bundeswehr Dienst tun, mehr als bisher weigern, an Auslandseinsätzen teilzunehmen, wären unsere Streitkräfte ohnehin nicht mehr in der Lage, die neuen Aufgaben zu erfüllen.
 
     
     
 
Diese Seite als Bookmark speichern:
 
     
     
     

     
 

Weitere empfehlenswerte Seiten:

Slowenien: Kapitaler Streit

Lesefutter

I would do it again

 
 
Erhalten:
berufsarmee
 

 

   
 
 
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11
WISSEN48 | ÜBERBLICK | THEMEN | DAS PROJEKT | SUCHE | RECHTLICHE HINWEISE | IMPRESSUM
Copyright © 2010 All rights reserved. Wissensarchiv