|  | Doch     trotz kirchlicher Bannflüche brachen sich im Gefolge Joachims immer wieder neue Ansätze     chiliastischen Denkens Bahn. Um hier nur einige zu nennen: da sind z. B. die im Rheinland     und Flandern und schließlich in Böhmen verbreiteten "Brüder und Schwestern des     freien Geistes", die sich direkt auf Joachim beriefen. Überhaupt Böhmen: Hier     bildete sich durch das Hervortreten von Hussiten, Böhmischen Brüdern und Taboriten ein     regelrechtes Zentrum chiliastischer Strömung  en aus. Insbesondere bei den Taboriten, die     den Beginn des Dritten Reiches in das Jahr 1420 verlegten, fallen deren bereits voll     ausgebildete kommunistische Ideen ins Auge. 
 Auch in Deutschland treten im Zuge der Bauernaufstände (1525) und vor allem mit den     Wiedertäufern in Münster chiliastische Bewegungen auf den Plan, die aber von Obrigkeit     und Kirche in einem Meer von Blut erstickt werden.
 
 Obwohl die chiliastischen Bewegungen jeweils nur von kurzer Dauer sind, bleiben sie als     Grundströmung erhalten. Sie werden aber  z. B. im Mystizismus des schwedischen     Naturforschers und Theosophen Emanuel Swedenborg (16881772) oder bei den     pietistischen Schriftstellern Philipp Jacob Spener (16351705) und Johann Albrecht     Bengel (16871752)  in ihren Gehalten immer diesseitiger bestimmt.
 
 Von diesen pietistischen Entwürfen bis hin zur Ersetzung des künftigen Messias durch     die Vernunft war es dann nur noch ein kleiner Schritt. Jene Verbindung zwischen     chiliastischer Idee und der Herrschaft der Vernunft sollte Lessing (17291781) in     seinem bekannten Fragment "Die Erziehung des Menschengeschlechts" herstellen. In     diesem Fragment entwickelt Lessing die Idee einer fortschreitenden Offenbarung, die in     einem dritten Zeitalter enden soll. Diese Vorstellung bezieht Lessing ausdrücklich auf     Joachim. Von erheblicher Bedeutung für die Wirkungsgeschichte dieses Fragmentes ist die     Dominanz des Erziehungsgedankens, die die Offenbarung zu einer nachrangigen Größe werden     läßt. Positiv bezieht sich Lessing auf die chiliastischen Strömungen des Mittelalters,     wenn er schreibt: "Vielleicht war ihr (gemeint sind die chiliastischen Strömungen,     d. V.) dreifaches Alter der Welt keine so leere Grille, und gewiß hatten sie keine     schlimmen Absichten, wenn sie lehrten, daß der Neue Bund ebenso antiquiert sein werde wie     es der Alte geworden."
 
 Das dritte Zeitalter faßt Lessing auf als das kommende Zeitalter der Vernunft und der     menschlichen Selbstverwirklichung, das zugleich die Erfüllung der christlichen     Offenbarung darstellt. Lessing verknüpft also die alten chiliastischen Strömungen mit     einer Entwicklungslehre, derzufolge das kommende Reich des Messias auf eine vollkommen     geordnete Diesseitigkeit hinausläuft.
 
 Nicht ohne Grund tauchen zur Zeit Lessings Begriffsschöpfungen wie "Die Ökonomie     des göttlichen Haushalts" auf. Es entstehen die ersten Entwürfe der     Nationalökonomie. So basiert z. B. die ökonomische Gesellschaftstheorie des Adam Smith     (17231790) auf dem zunächst in England dominant gewordenen symbolischen Feld der     "oeconomia naturae". Bezeichnenderweise gehört es zu den Grundannahmen jenes     Feldes, daß Gott der Welt nur formale Prinzipien eingeschrieben hat, durch deren     Selbstvollzug sich harmonische Ordnungen aufbauen. Wie sich die Elemente der Welt nun     ordnen, bleibt dem Lauf der Dinge anheimgestellt. Das ganze Geschehen bleibt aber von der     göttlichen Vorsehung abgesichert, die den gesamten Vorgang gleichsam schützend und     billigend überwölbt. Gemäß diesem Modell führt das freie Spiel der Kräfte keineswegs     zu Verwerfungen, sondern  vorausgesetzt, man läßt den wirtschaftlichen     Aktivitäten freien Lauf  zu einer harmonischen Marktordnung.
 
 Doch zurück zu Lessing, dessen Wirkungsgeschichte außerordentlich weitreichend war.     Er beeinflußte direkt z. B. die frühsozialistischen Saint-Simonisten in Frankreich und     die deutschen Idealisten Fichte, Schelling und Hegel.
 
 Um hier nur Hegel und Schelling anzusprechen: Hegel übersetzte die christliche     Religion in philosophische Kategorien. Mit Hegel  so Karl Löwith  heben die     neuzeitlichen Versuche an, den "christlichen Geist ohne Glaube und Hoffnung zu     realisieren". Hegel unternahm den wohl umfassendsten Versuch, das Reich Gottes als     ein Reich des Geistes und der Geschichte zu skizzieren.Hier setzt denn auch der     Widerspruch von Karl Marx ein, der dem Hegelschen Entwurf vorhielt, nur die geistige     Aufhebung der realen Widersprüche geleistet zu haben. Marx wird sich dann anschicken, auf     seine Weise die gesellschaftlichen Widersprüche einer Aufhebung zuzuführen. Wir werden     darauf noch zu sprechen kommen.
 
 Schelling unternahm in seiner "Philosophie der Offenbarung" (1841) den     Versuch, eine "neue Religion" zu entwerfen. Dabei griff er wie Joachim von     Floris auf Paulus und Johannes als die Apostel der Zukunft zurück, um eine geistige     Religion des Menschengeschlechtes auszuarbeiten. Der Fortschritt des Christentums, so     Schelling, besteht nicht einfach in seiner Ausbreitung, sondern darin, daß das     Christentum zu einer universalen Wissenschaft weiterentwickelt wird. Neben Paulus und     Johannes deutet Schelling Petrus als herausragende Figur des Neuen Testamentes. Allen drei     Aposteln weist er analog zur heiligen Trinität eine bestimmte Phase in seinem     Stufenmodell zu: Petrus als der Apostel des Vaters repräsentiert das Zeitalter des     Katholizismus, Paulus als Apostel des Sohnes die Phase des Protestantismus und Johannes     als Apostel des Heiligen Geistes die Phase der vollendeten Religion der Menschheit.
 
 Friedrich Nietzsche blieb es dann vorbehalten, einen letzten Versuch zu unternehmen,     den Verlauf der europäischen Geschichte radikal umzuwerten. In seinem "Ecce     homo" verkündet er den 30. September des Jahres 1888 als den ersten Tag einer neuen     Zeitrechnung. Das, was vorher war, ist für Nietzsche als altes christliches Zeitalter     abgetan. Es folgt, so Nietzsche, ein neues, antichristliches Zeitalter. Für dieses     antichristliche Zeitalter hatte Nietzsche bereits ein neues Evangelium entworfen: seinen     "Zarathustra", der durchaus mit den frühen Entwürfen Joachims korrespondierte.
 
 Doch kommen wir zu den Auswirkungen der Lehre Joachims auf die sozialistische     Ideenbildung zurück: die bereits angesprochenen Pietisten Bengel und Spener bilden in     diesem Zusammenhang insofern einen wichtigen Wendepunkt, weil sie den Chiliasmus Joachims     in die Vorstellung umgossen, daß die Geschichte die Verwirklichung der moralischen     Weltordnung sei. Hieran knüpfte Hegel mit seiner Vorstellung an, daß der Weltgeist sich     entwickele und in der Geschichte darstelle. Der Mensch hingegen bleibe immer der gleiche.     Er ist nicht mehr als ein Baustein im Geschichtsprozeß. Der Pietismus sollte aber auch     für die Ideengeschichte des modernen Sozialismus von Bedeutung werden, wurde doch     Friedrich Engels (1820-1895) in Wuppertal-Barmen in eine pietistische Gemeinde     hineingeboren, die von sich glaubte, zu den Erwählten des Reiches Gottes zu gehören. Zum     Bruch mit dem Pietismus kam es bei Engels, als er als junger Mann die Leiden der Arbeiter     unter den frühkapitalistischen Zuständen in England zu studieren begann. Seine     spätpietistische Grundhaltung verschiebt sich unter dem Eindruck dieser Zustände hin zum     wissenschaftlichen Materialismus und zur Hegelschen Geschichtsphilosophie. Im Verein mit     der Marxschen Analyse der ökonomischen Verhältnisse entwirft Engels schließlich das     System der materialistischen Geschichtsauffassung. Was meint hier     "Materialismus"? Im Gegensatz zum Idealismus, der von der Übergeordnetheit des     rein geistigen Seins, das dem Stofflichen übergeordnet ist, ausgeht, sieht der     Materialismus die wahre Wirklichkeit ausschließlich im Stofflich-Materiellen.     Dementsprechend meint eine "materialistische Geschichtsauffassung", daß für     den geschichtlichen Verlauf ausschließlich die sozialökonomischen Verhältnisse von     Bedeutung sind. Den Endzustand einer Gesellschaft sieht Engels infolgedessen dann     erreicht, wenn in einer Gesellschaft alle materiellen Bedürfnisse durch eine vollkommene     Organisation befriedigt werden können. Engels verweltlicht also die oben bereits     angesprochene "Ökonomie des göttlichen Haushaltes" in die Planwirtschaft einer     klassenlosen Gesellschaft, die er als Endstufe der Entwicklung des Menschengeschlechtes     ansieht. Es bedarf keiner großen Anstrengungen, um zu sehen, daß Engels die     Ideengebäude von Joachim bis Lessing "soziologisiert". An die Stelle des Alten     und des Neuen Testamentes sowie des Dritten Reiches tritt jetzt die Abfolge: Feudaladel,     Bourgeosie, Proletariat. Mit der Herrschaft des Proletariates hebt dann die Phase des ewig     andauernden und damit geschichtslosen Kommunismus an.
 
 Das "Proletariat" ist in der Substanz nichts anderes als die     "Gemeinschaft der Auserwählten" in den verschiedenen chiliastischen Sekten. Zu     deren Glaubenskanon gehörte auch der rigorose Ausschluß, die Exkommunikation der     Nichtgläubigen. Wir wissen heute, welche furchtbaren Folgen diese Vorstellung in den     säkularisierten Varianten des Chiliasmus hatte. Courtois "Schwarzbuch des     Kommunismus" legt darüber Zeugnis ab.
 
 Das Bild wird aber nicht vollständig, wenn man neben den chiliastischen Momenten, die     auf die kommunistische Ideologie eingewirkt haben, nicht auch die radikale Eschatologie     des Judentums mit heranzieht, die im ersten Teil dieser Betrachtungen schon einmal     angesprochen worden sind. Der Philosoph Albert Massiczek läßt in seinen Arbeiten keinen     Zweifel daran, daß an der Verwurzelung von Marx in der radikalen Eschatologie des     Judentums nicht der geringste Zweifel mehr bestehen kann. Diese radikale Eschatologie     gebar eine Auffassung von Politik, die von Anfang an auf radikale, revolutionäre     Weltveränderung aus war. Diesen Zusammenhängen soll im dritten Teil unserer Betrachtung     nachgespürt werden.
 
 
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