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Wider die Fremdherrschaft

 
     
 
Die ungarische Volkserhebung war eine von mehreren spontanen Massenbewegungen, die sich gegen die sowjetische Unterdrückung aufzulehnen versuchten: Juni 1953 in der DDR, Juni 1956 in Posen, Oktober 1956 in Ungarn, 1968 in der Tschechoslowakei und 1980 in Danzig. Man mag darüber spekulieren, welches dieser Ereignisse - als Aktion einerseits, als Reaktion der Machthaber andererseits - mehr zum Zerfall des Sowjetsystems beigetragen hat. Tatsache ist aber, daß sich am 11. September 1989 an der österreichisch-ungarischen Grenze jener "Dammbruch" ereignete, dem die Ausreise der Botschaftsflüchtlinge aus Prag und der Fall der Berliner Mauer
folgen sollten.

Schon drei Monate davor hatten der österreichische Außenminister Mock und sein ungarischer Amtskollege Horn in einem symbolischen Akt mit der Drahtschere den Eisernen Vorhang durchtrennt - und damit die Ausreisehoffnungen tausender DDR-Bürger beflügelt. Die Normalisierung an der Grenze war allerdings nicht mehr und nicht weniger als eine logische Weiterführung jener spezifisch ungarischen Entwicklung, die man auch "Gulasch-Kommunismus" nannte: KP-Chef János Kádár hatte bereits Anfang der 60er Jahre von Moskau den Segen für eine allmähliche innere Liberalisierung erhalten - um den Preis bedingungslosen außenpolitischen Gehorsams. Es war derselbe Kádár, der 1956 mit den Panzern der Roten Armee angetreten war, den Aufstand blutig niederzuschlagen, und der in den unmittelbar folgenden Jahren die Rache des Systems durchgezogen hatte.

Die Einzigartigkeit des Aufruhrs in Ungarn wird im Vergleich besonders deutlich: Überall hatte zwar Ungewißheit über die Machtverhältnisse und Absichten im Kreml mitgespielt - Stalin war im März 1953 gestorben, Chruschtschow hatte im Februar 1956 die Entstalinisierung eingeleitet, der Prager Frühling kam in einer Periode des Ost-West-Tauwetters, und die Unruhen in Polen fielen in eine Zeit, als man über die Nachfolge des "versteinerten" Breschnjew nachzudenken begann. Doch während in der DDR und in Polen klassische Arbeiterunruhen ausbrachen und es sich in der CSSR quasi um eine ausufernde Evolution von oben handelte, trug der Ungarn-Aufstand unverkennbar national-revolutionäre Züge. Er war nicht bloß Auflehnung gegen den Kommunismus, sondern mehr noch gegen die Fremdherrschaft. Nach Jahren der verbalen Beschönigung wird in Ungarn heute dafür das Wort "forradalom" ("Revolution") gebraucht, das gleiche Wort, das auch für 1848/49 üblich ist. Und welche Parallele: 1849 hatten russische Truppen, mit denen Zar Nikolaus I. seinem jungen Kollegen Franz-Joseph beistand, wesentlich zur Niederschlagung beigetragen. Wie sehr es sich 1956 um eine nationale Erhebung handelte, sieht man auch daran, daß die zwei prominentesten Figuren als Helden verehrt werden, obwohl sie Kommunisten waren: Ministerpräsident Imre Nagy und Oberst Pál Maléter.

Der ungarische Aufstand war bei weitem das blutigste Ereignis im Ostblock seit Konsolidierung der KP-Herrschaft 1948/49. Schon in der ersten Phase gab es Gefechte mit Polizeieinheiten und im Lande stationierten Sowjettruppen - sowie Lynchjustiz an Mitgliedern der verhaßten AVÓ, der ungarischen Stasi. Noch weitaus blutiger war die Niederschlagung durch aus der Sowjetunion herangeführte "unverdorbene" Divisionen - und danach das Wüten der wieder aktivierten AVÓ.

Chruschtschow hatte gezögert, den Einmarschbefehl zu geben, doch das Suez-Abenteuer des Westens beseitigte alle Zweifel. Und eigentlich hatte er gar keine Wahl. Denn spätestens mit Ungarns Austritt aus dem Warschauer Pakt und der "Neutralität nach österreichischem Vorbild" war der Rubikon überschritten. Ungarn hatte sich hier klar verschätzt: Österreichs Neutralität war ein Vorteil für Moskau, denn der neutrale Riegel Schweiz-Österreich stellte einen Nachteil für die Nato dar. Mit Ungarns Neutralität wäre es aber genau umgekehrt gewesen - ganz abgesehen von der Signalwirkung auf die anderen Satellitenstaaten.

Es war - wie wir heute wissen - ein völlig unrealistischer Ausbruchsversuch der Ungarn. Denn US-Präsident Eisenhower hatte nie die Absicht, die in Jalta 1945 ausgehandelte Aufteilung der territorialen Kriegsbeute einseitig anzufechten. Dazu kam die zeitgleiche Suezkrise, die eine sowjetische Intervention im Nahen Osten befürchten ließ. Umso verwerflicher war es daher, den Ungarn falsche Hoffnungen auf westliche Militärhilfe zu machen. Eine besonders unrühmliche Rolle spielten dabei der Sender Radio Free Europe - und auch ein damals in Budapest weilender US-Senator. Wie hätte denn Militärhilfe nach Ungarn gelangen sollen? Über das Warschauer-Pakt-Mitglied CSSR oder über das zwar blockfreie, aber kommunistische Jugoslawien oder über das neutrale Österreich? In jedem Fall hätte es einen Weltkrieg auslösen können - und die UdSSR war seit 1949 Atommacht.

Die ungarische Volkserhebung bewies, daß der Mensch zwar vom Brot lebt, aber eben nicht davon allein. Vaterlandsliebe, Ehre, Glaubenstreue, moralische Autorität - man denke an Kardinal Mindszenty (s. Kasten) - all das ist auf längere Sicht unersetzbar, und Stalins zynische Frage "Wie viele Divisionen hat der Papst?" ist durch die Geschichte beantwortet. Daran sollten jene EU-Europäer denken, die sich so sehr vor dem Wörtchen "christlich" scheuen, aber dem Vordringen eines fremden Glaubens so hilflos gegenüberstehen. Die wachsende EU-Skepsis auch in den Reformstaaten kommt nicht zuletzt davon, daß man sich einem neuen materialistischen Moloch ausgeliefert fühlt.
 
     
     
 
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