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Zeit der umwälzungen

 
     
 
„Die Disziplinen ‚Politische Geographie / Geopolitik / Geostrategie‘ gehören im deutschsprachigen Raum (vor allem bedingt durch historische Belastung) – im Gegensatz zu den USA, Großbritannien, Frankreich, Rußland, China zu den am meisten vernachlässigten Forschungsgebieten.“ Dies konstatiert Heinz Brill gleich zu Beginn seines Buches „Geopolitische Analysen Beiträge zur deutschen und international
en Sicherheitspolitik 1974–2004“. Eine Folge davon ist, daß heute in Deutschland sicherheitspolitische Grundsatz-Debatten kaum mehr stattfinden oder dabei Gegenwartsgesichtspunkte überwiegen, obwohl die sicheren Grundlagen auf diesem Feld vor allem aus „der Vergangenheit und Kultur der Völker“ (Raymond Aron), der Vergegenwärtigung der Langzeitentwicklungen der Staaten und des internationalen Systems und der Fähigkeit zu langfristigem „raumpolitischen Denken“ zu gewinnen sind.

Der Verfasser, ein unentwegter Vordenker bei der Revitalisierung der Geopolitik im deutschen Sprachraum, macht darauf aufmerksam, wie sehr wir uns in Deutschland in den letzten Jahrzehnten selbst von diesem Denken und seinen Erkenntnissen abgesperrt haben. Heinz Bill, einer der wenigen ausgewiesenen deutschen Fachleute in der geopolitischen Grundlagen- und Projektforschung, ehemals Wissenschaftlicher Direktor im „Amt für Studien und Übungen der Bundeswehr“, hat schon 1994 mit seinem Werk „Geopolitik heute: Deutschlands Chance?“ eine Art Leitfaden und Lehrbuch dazu geschrieben, mit dem er Deutschland wieder in diese internationale Debatte einfügte. Nun legt er mit dem neuen Band gewissermaßen die Ernte seiner Forschungs- und Lehrtätigkeit sowie seiner Publizistik zur Geopolitik und Sicherheitspolitik aus den letzten 30 Jahren vor. In einem ersten Teil wird die geostrategische Situation Deutschlands am Ende des Zweiten Weltkrieges dargestellt, beginnend mit der deutschen Lage als Objekt im geostrategischen Kraftfeld der Super- und Großmächte 1945 und bis zur schrittweisen Wiedergewinnung einer neuen sicherheitspolitischen Subjektrolle und ihrer Leitlinien, aber auch bis zu dem Zaudern gegenüber der Erwartung der USA einer „Übernahme geopolitischer Verantwortung“ (Bush sen.).

Brill greift dann in den folgenden Kapiteln weit aus, vom Nato-Beitritt Spaniens mit seinen geostrategischen Bezugspunkten über die Vision der Einheit der arabischen Welt (Gaddafi) bis zur strategischen Lage Chinas (in einer Rezension des Buches von Oskar Weggel „China und die Drei Welten“). In der Gegenwart geht es dann um so aktuelle wie grundlegende Fragen wie die Osterweiterung der Nato und die Balkankonflikte im Blick auf die jeweilige Interessenlage der Mächte, aber auch etwa um die geopolitischen Probleme um das Wasser in den verschiedenen Weltregionen, die Brill in einer umfangreichen hochinteressanten Studie darlegt: Wasser als Transportmittel, strategische Ressource, lebensnotwendiger Rohstoff, internationale Konfliktursache und ökologisches Problem, ein Exempel und eine Pilotstudie für eine moderne Art des geopolitischen und strategischen Zugriffs.

Abschließend kommt der Autor auf die bereits begonnene Rehabilitation der Geopolitik in den Politik- und Sozialwissenschaften zu sprechen, etwa bei Ernst August Roloff („Die Wiederentdeckung des Raumes“) und Gottfried Eisermann („Staat, Geographie und Politik“). Sie zeigt sich auch in internationalen und interdisziplinären Kolloquien mit erstrangigen Besetzungen wie Admiral Yves Lacoste, Direktor des „Centre de recherches et d’analyses geopoliques“, Universität Paris VIII, einem der wichtigsten französischen Vordenker, oder Imanuel Geiss, Universität Bremen („Europas Mitte zwischen Machtexzeß und Machtverleugnung“). Die aktuellsten Fragen, die sich mit Geopolitik und Strategie verknüpfen, sind die der Globalisierung und Denationalisierung, neuer ethnisch-religiöser Blockbildung (Huntington), denen Claus Leggewie eine „Geopolitik multikultureller Gesellschaften“ gegenübergestellt hat. Gegen Francis Fukuyamas These vom „Ende der Geschichte“ wendet Heinz Brill ein: „Nicht das ‚Ende der Geschichte‘ steht uns bevor, sondern oft sind die neuen Probleme die alten geblieben und eine Zeit großer Umwälzungen bahnt sich an.“

Besonders hervorzuheben sind die zahlreichen erläuternden Karten und Kartenskizzen; ein Mangel ist das Fehlen eines Sach- und Personenregisters. Dem Band möchte man eine lebhafte Resonanz vor allem in dem leider klein gewordenen Kreis deutscher Sicherheitspolitiker und geopolitisch interessierter Wissenschaftler wünschen, möglichst auch darüber hinaus auf dem Weg zu einer neuen Blüte der Geopolitik. Klaus Hornung

Heinz Brill: „Geopolitische Analysen – Beiträge zur deutschen und internationalen Sicherheitspolitik 1974 – 2004“, Biblio Verlag, Bissendorf 2005, geb., Abb., 459 Seiten, 34 Euro 5584
 
     
     
 
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