A B C D E F G H I J K L M N O P Q R S T U V W X Y Z
     
 
     
 

in eine hoffnungsvolle Zukunft

 
     
 
Zum zweiten Mal nach Öffnung des Königsberger Gebietes am 1. Februar 1991 hatten die Kreisgemeinschaften Fischhausen und Königsberg-Land zu gemeinsamen kulturellen Tagen im nördlichen Ostdeutschland aufgerufen. Die Samländer ließen sich auch nicht lange bitten: per Flugzeug, mit Schiff, Bahn, Bus oder eigenem Pkw – aus allen Himmelsrichtungen der Bundesrepublik Deutschland
und gar aus Wales/England, Kanada sowie Australien kamen sie, um ihre Verbundenheit mit der angestammten Heimat eindrucksvoll unter Beweis zu stellen.

Auf sie alle wartete ein Programm, das in seiner Vielfalt wohl einmalig gewesen sein dürfte: Besuche in den Heimatorten, Ausstellungen, eine Diskussionsrunde für deutsche und russische Jugendliche unter der Leitung von Prof. Dr. Iwan Koptzev und Dr. Bärbel Beutner (ein ausführlicher Bericht folgt in einer der kommenden Ausgaben), Fahrten auf die Kurische Nehrung wie auch zu den Kirchen des Samlandes und nicht zuletzt eine große Festveranstaltung. Zudem sollten sie Zeugen gleich zweier Premieren in Nord-Ostdeutschland sein: Zum ersten Mal nach dem Zweiten Weltkrieg gab mit dem Männergesangverein Dissen/Bielefeld unter der Leitung von Friedhelm Beckmann ein deutscher Chor vor einer beeindruckenden Kulisse ein Konzert im Königsberger Dom. Auch eines der bestgehüteten Geheimnisse der Neuzeit konnte endlich gelüftet werden: Die Tore der Zitadelle in Pillau öffneten sich zum ersten Mal zwecks Besichtigung für Westbesucher. Zwei bahnbrechende Ereignisse, deren Zustandekommen zweifellos in erster Linie dem Fischhausener Kreisvertreter Louis-Ferdinand Schwarz zuzuschreiben ist, der in den vergangenen Jahren trotz vieler bürokratischer Widrigkeiten nie aufgegeben hat, sich für die deutsch-russische Verständigung zu engagieren.

Nach der für die meisten doch anstrengenden Anreise hieß es zunächst einmal, sich in der Heimat zu akklimatisieren. Wo könnte man dies besser als an der Stelle, wo man geboren, aufgewachsen und zur Schule gegangen war oder eine Familie gegründet hatte? So war dann auch der erste offizielle Tag der Veranstaltungswoche den Besuchen in den Kirchspiel- und Heimatorten vorbehalten, wo bewußt der Kontakt mit der heutigen Bevölkerung gesucht wurde. Für viele wurde der Besuch zu einer Reise in die Vergangenheit, für manche aber endete er im Nichts. So auch für Louis-Ferdinand Schwarz und seine Mutter, die es sich nicht nehmen ließ, noch einmal die Wurzeln ihrer Familie zu besuchen. Dort, wo einst im Kirchspiel Medenau die stattlichen Güter Kathrinhöfen und Pollwitten standen, finden sich keine Spuren mehr. Kein Stein steht mehr auf dem anderen, die Natur hat sich nach gut einem halben Jahrhundert alles wieder zurückgeholt. Kurz vor ihrer Flucht hatte Elisabeth Schwarz noch eine Kiste mit Silber und Geschirr versteckt; ein Traum, diese letzte Erinnerung wiederzufinden. "Doch wo soll ich hier anfangen zu graben?", so der Kommentar ihres Sohnes, wohlwissend, daß er nach menschlichem Ermessen den sehnlichen Wunsch der letzten Herrin auf Pollwitten nie erfüllen werden kann.

Auch Medenau selbst hat sein Gesicht stark verändert. Wo Generationen von Kindern zur Schule gingen, hat jetzt eine Ziege ihr Revier bezogen. Von der Kirche vermitteln nur noch Elemente des Nebeneingangs einen leidvollen Eindruck von der einstigen Größe des Gotteshauses. Der Friedhof – nichts erinnert mehr an ihn wie auch an viele andere Gebäude im einst pulsierenden Kirchspielort. Von den deprimierenden Eindrücken erholen konnten sich die früheren Bewohner bei einer Familie, wo sie mit der sprichwörtlichen russischen Gastfreundschaft empfangen wurden. Die Tische barsten fast angesichts der vielen Leckereien.

So wurde zumindest der Magen befriedigt, wenn auch in der Seele ein tiefes Defizit blieb. Bevor es ans Abschiednehmen ging, erhielt Louis-Ferdinand Schwarz vom Gastgeber noch ein ganz besonderes Geschenk: ein Modell der Medenauer Kirche, das mittlerweile im Heimatmuseum in Pinneberg einen Ehrenplatz erhalten hat.

Pillau – drei historische Ereignisse sind untrennbar mit dem Namen der Stadt verbunden: 1732 die Landung von 66 Schiffen mit 10 000 Salzburger Glaubensflüchtlingen, die in Ostdeutschland eine neue Heimat fanden; 1920 das Eintreffen von 91 000 Abstimmungsberechtigten zur Volksabstimmung im südlichen Ostdeutschland und nicht zuletzt 1945, als Pillau ab dem 1. Januar zum größten Fluchthafen der Weltgeschichte wurde. 625 000 Menschen wurden bis zur Aufgabe der Stadt am 25. April in einer einzigartigen Großaktion der Kriegsmarine in den rettenden Westen verschifft. An diesem geschichtsträchtigen Ort angekommen, wurden die Samländer im Zentralsaal der Stadt (ehemaliges Mädchengymnasium) in Vertretung des Bürgermeisters Alexander Kusnetzow, der in Moskau weilte, von seinem Stellvertreter Victor Koshelev offiziell begrüßt.

Der stellvertretende Bürgermeister berichtete von den hoffnungsvoll stimmenden Zukunftsplänen der Seestadt. So wolle man die seit 1992 bestehenden Verbindungen zu den früheren Bewohnern Pillaus und aller angrenzenden Baltischen Staaten weiterhin ausbauen wie auch die Marktwirtschaft weiter fördern. Pillau, noch immer militärisches Sperrgebiet, habe mittlerweile Partnerschaftsverträge, u. a. mit der schwedischen Stadt Karlskrone und der Stadt Elbing, abgeschlossen. Mit Stolz zeigte der "zweite Mann Pillaus" seinen Gästen ein Plakat, das auf die "Baltic-Expo 99" vom 12. bis 14. Oktober hinweist. Beteiligen werden sich hieran neben dem Königsberger Gebiet Gemeinden aus den Staaten Dänemark, Schweden, Litauen, Lettland sowie Polen. Von diesen Verbindungen verspricht sich der stellvertretende Bürgermeister wertvolle Impulse für die weitere Entwicklung, nicht nur auf wirtschaftlicher, sondern auch auf kultureller Basis. Besonders an die Adresse der anwesenden gebürtigen Pillauer gerichtet, informierte Koshelew darüber hinaus über die Pläne innerhalb des Ortes. So sollen neue Stadtteile entwickelt werden, z. B auf dem Gebiet, das vor dem Krieg "neues Amsterdam" genannt wurde. Zur Zeit noch ein Betonplatz, soll die Rekonstruierung nach alten Bauplänen demnächst schon in Angriff genommen werden. Hauptidee sei, "die Geschichte der Stadt auf diesen Straßen wiederzugeben". Ein richtiges Tourismus-Zentrum werde hier entstehen, schwärmte der stellvertretende Bürgermeister. Darüber hinaus halte man auch an den Plänen fest, das Museum über die Geschichte der Region weiter auszubauen.

Bevor der stellvertretende Bürgermeister seine Gäste zur Besichtigung der Zitadelle entließ, entschuldigte er sich für das momentane Aussehen seiner Stadt: "Daran ist der russische Mensch nicht schuldig, sondern das alte System, in dem er gelebt hat." "Eine Perle an der Ostsee" sei das Ziel; das werde zwar noch einige Zeit dauern, es werde aber kommen: 100prozentig. Sein großer Dank galt schließlich Louis-Ferdinand Schwarz für sein Engagement, insbesondere auch im gemeinsamen Bemühen um ein Museum über die Geschichte Pillaus und Fischhausens. Der so Gelobte äußerte sich zu den dargestellten Zukunftsperspektiven in seiner bekannt offenen Art, ohne um den heißen Brei herumzureden: "Ich bin überzeugt, wenn alle so wären und sein könnten, wie Sie es ausgedrückt haben, hätten wir die Probleme nicht. Ein Problem ist, Sie sprechen vom Tourismuszentrum Pillau; wir müssen aber, um hierherzu kommen, erst nach Memel fahren, um dann mit dem Bus über Land zurück … mit großem bürokratischem Aufwand – das muß beseitigt werden! ... Ich habe oft das Gefühl, daß wir uns auf unserer Ebene bestens verstehen und miteinander auskommen; wer Schwierigkeiten macht, der sitzt in Bonn und Moskau." Außer der berechtigten Kritik hatte der Kreisvertreter aber auch noch positive Überraschungen für den stellvertretenden Bürgermeister parat: Aus dem Geheimen Staatsarchiv in Berlin brachte der Kreisvertreter die von den Russen gewünschten Dokumente über die Geschichte der Stadt mit. Des weiteren übermittelte er die herzlichen Grüße des Bürgermeisters von Ritterhude bei Bremen, Ingo Kurth, der in diesem Jahr noch gerne zehn bis zwölf Jugendliche aus der Region zu einem Besuch in der Bundesrepublik Deutschland einladen möchte. Und noch ein weiteres "Geschenk" wartete auf den stellvertretenden Bürgermeister: der von Schwarz schmunzelnd als "weltberühmter Männergesangverein" angekündigte Chor aus Dissen/Bielefeld, der den Zentralsaal durch seinen musikalischen Auftritt ehrte.

Mit großer Spannung wurde im Anschluß der Besuch der nur wenige Meter entfernten Zitadelle angetreten. Seit Ende des Zweiten Weltkrieges war es keinem westdeutschem Besucher mehr vergönnt, einen Blick hinter die Kulissen des Wahrzeichens zu werfen. Nun war es endlich soweit: Die Tore wurden geöffnet. Wie viele Pillauer standen schon in den vergangenen Jahren davor und rätselten, was sich wohl hier verbergen möge? Ein erhabenes Gefühl, endlich wieder die Zitadelle betreten zu dürfen, aber warum dies so lange nicht möglich war, bleibt wohl weiter ein Rätsel. Die Besucher konnten zumindest nichts Geheimnisvolles entdecken.

Ein zweites Ereignis, das in die Annalen des Königsberger Gebiets Eingang finden wird, stand schon tags darauf auf dem Programm: Erstmals nach dem unheilvollen Ende des Zweiten Weltkriegs gestaltete ein Chor aus der Bundesrepublik Deutschland gemeinsam mit einem russischen Chor ein Konzert in dem in der Nacht vom 28. zum 29. August 1944 durch englische Phosphorbomben in Schutt und Asche gelegten Königsberger Dom. Was vor wenigen Jahren noch als unvorstellbar galt, sollte an diesem Juli-Tag im Jahre 1999 dank Louis-Ferdinand Schwarz zur Realität werden: Chorgesang der geistlichen Musik aus deutschen und russischen Kehlen erfüllte das Innere der heiligen Stätte, die, zwar noch geschunden, allmählich immer mehr von ihrem ursprünglichen Antlitz wiedererlangt. Bereits 1993 hatten Mitglieder des Männergesangvereins Dissen/Bielefeld im Rahmen der ersten Kulturtage im Samland einen Blick auf das Wahrzeichen Königsbergs werfen dürfen. Das jetzige Wiedersehen erfüllte auch sie mit großer Dankbarkeit.

Rund 1500 Deutsche und Russen begehrten Einlaß, um Zeuge des zukunftweisenden "Konzerts der Hoffnung" zu werden. Durch den tatkräftigen Einsatz der unermüdlich im Hintergrund wirkenden Geschäftsführerin der Kreisgemeinschaft Fischhausen, Ursula Albers, bekamen sie alle einen Sitzplatz, auch wenn improvisiert werden mußte. Doch die harten Holzbänke waren nach Erklingen der ersten Töne schnell vergessen. So bestätigte sich während des Konzerts, was die Leiterin des gemischten Chors der Musikhochschule Königsberg, Tamara Maximowa, eingangs feststellte: "Die Sprache der Musik versteht jeder, sie ist eine Sprache der Herzen und Seelen." Mit den gemeinsam auf deutsch gesungenen Zeilen "... reichen wir uns die Hände, bevor wir auseinandergehen ..." entließen die beiden Chöre ihre begeisterten Zuhörer, von denen viele an dieser Stätte getauft, konfirmiert oder getraut worden waren, in den Abend; krönender Abschluß eines emotional aufwühlenden Konzerts, das allen Anwesenden unvergeßlich bleiben dürfte, auch wenn die Sänger aus der Bundesrepublik – nach deren persönlicher Einschätzung – den 40 Profis aus Königsberg nicht ganz das Wasser reichen konnten.

So hoffnungsvoll auch die Fortschritte beim Wiederaufbau des altehrwürdigen Doms stimmten, so niederschmetternd waren zum größten Teil die Begegnungen mit den Kirchen im Samland am folgenden Tag. Unter der Führung von Anatolij Bachtin, der zusammen mit Dr. Gerhard Doliesen von der Ostakademie Lüneburg das Buch "Vergessene Kultur – Kirchen in Nord-Ostdeutschland" herausgebracht hat, ging es zunächst nach Groß Kuhren, wo die als Tanzsaal zweckentfremdete Kirche noch einen ganz passablen Eindruck hinterläßt. Das kalte Grauen erfaßt einen in Heiligenkreutz: Wo soll hier die Kirche stehen? Im tiefsten Dickicht nur noch klägliche Überreste der ehemaligen Wallfahrtskapelle, die den 2. Weltkrieg unversehrt überstanden hatte. Balsam für die Psyche – die Kirche in Palmnicken, jetzt russisch-orthodox geführt. Während in Germau zumindest noch Mauerreste vorhanden sind, sucht das Auge in Fischhausen vergeblich. Eine alte Eiche ist einziger Anhaltspunkt für die Stelle, wo einst Christen ihrem Glauben huldigten. In Tenkitten steht seit 1997 (nicht zuletzt dank der Initiative von Anatolij Bachtin) wieder ein Kreuz zu Ehren des heiligen Adalbert. Das alte hatte zwar die Kampfhandlungen 1945 schadlos überstanden, die neuen Bewohner zerstörten es aber wenige Jahre später. Störche haben jetzt das Sagen auf der Kirche in Kumehnen, während im Inneren Kuhfladen Indiz der letzten Benutzer sind. Doch es besteht Hoffnung: Eine Restaurierung ist zumindest angedacht. Pobethen und St. Lorenz – letzte Stationen der Fahrt: Die beiden Kirchenruinen werden wohl nur noch für geraume Zeit an die deutsche Vergangenheit erinnern.

Die Tage im Samland neigten sich langsam dem Ende. Doch noch fehlte einer der Höhepunkte, die Festveranstaltung im Club des Militärsanatoriums in Rauschen. Ihr voran ging ein deutscher Gottesdienst in der Kirche in Rauschen. Eng gedrängt standen die Gläubigen in dem nun russisch-orthodoxen Gotteshaus, wo sie zunächst vom Hausherrn, Pater Igor, begrüßt wurden. Ein Grußwort hatte auch Propst Erhard Wolfram von der evangelisch-lutherischen Gemeinde im Königsberger Gebiet vorbereitet. Den Gottesdienst leitete wie schon vor sechs Jahren Pfarrer i. R. Klaus Schulz-Sandhof von der Gemeinschaft evangelischer Ostdeutschland e. V., der eine ergreifende Predigt, angelehnt an das Matthäus-Evangelium, 5. Kapitel, "Ihr seid das Salz der Erde", für seine Schicksalsgefährten hielt. Die musikalische Umrahmung oblag dem Männergesangverein Dissen/Bielefeld, der sein Können einmal mehr unter Beweis stellten durfte.

Der Chor – während der Woche zu einem festen Bestandteil der Kulturtage geworden – gab dann auch den musikalischen Auftakt zur Feierstunde im früheren "Café Düne". Hier wurde bereits seit einigen Tagen unter der Leitung von Hans-Georg Klemm im Foyer eine Ausstellung über die Orte des Samlandes bis 1945 gezeigt. Ergänzt wurden die unzähligen historischen Fotos und Abbildungen von einer Webausstellung nebst Vorführung des ostdeutschen Freundeskreises unter der Leitung von Wilhelm Tuschewitzki sowie von Malereien und Motiven aus dem Samland und Ostdeutschland von Astrid Briese. Der Wunsch Hans-Georg Klemms, daß die Ausstellung die Erinnerung an die Heimat vertiefen und der jetzt dort lebenden Bevölkerung ein Bild aus früherer Zeit vermitteln möge, wurde zweifellos erfüllt.

In dem mit den Flaggen Ostdeutschlands, der Bundesrepublik Deutschland, Rußlands und Europas geschmückten Saal hieß zunächst Rauschens Bürgermeister Wladimir Schijanow die vielen Teilnehmer des Treffens, das er als Möglichkeit zum Wiederaufbau des freundschaftlichen Verhältnisses und Verständnisses beider Völker wertete, herzlich willkommen. Sein Dank galt insbesondere "der Hauptperson, dem Vorsitzenden der Kreisgemeinschaft Fischhausen, Louis-Ferdinand Schwarz". Seine sehr freundliche und verbindliche Rede schloß der Bürgermeister mit der Einladung an alle zum Stadtfest am ersten Wochenende im Juni 2000. Überhaupt seien die Samländer stets gern gesehen in Rauschen. Als Überraschungsgäste traten im Anschluß die "Königsberger Grillen" auf, die mit ihrer erfrischenden Art die Herzen ihrer Zuhörer verzauberten. Nach einem weiteren temperamentvollen Auftritt der russischen Volkstanzgruppe Laduschky aus Rauschen folgten Grußworte der Leiterin des Herrmann-Brachert-Museums in Georgswalde und des Leiters des Museums in Pillau, Sergej Jakimow, mit dem Louis-Ferdinand Schwarz bereits bei seinem Besuch im März dieses Jahres vereinbart hatte, sich nach besten Kräften gegenseitig zu unterstützen. Jakimow begrüßte die Anwesenden im Namen der Stadtverwaltung Pillau. Auch er war voll des Lobes über Louis-Ferdinand Schwarz: "Dank ihm sind die Kontakte zwischen uns häufiger geworden, und dank solcher Leute wie Herrn Schwarz bekommen Begriffe wie Freundschaft und Frieden einen Sinn und werden auch von Taten unterstützt. Für uns sind die menschlichen Verhältnisse wichtig und die Möglichkeit, einander in die Augen zu sehen. Das ist viel wichtiger als irgendwelche politischen Verträge und Abkommen. Wir messen den Kontakten zwischen ihm, seiner Organisation und uns große Bedeutung bei." Daß diese Worte mehr als nur Lippenbekenntnisse waren, zeigte sich an den Geschenken, die der Pillauer Museumsleiter mitgebracht hatte: Dokumente aus dem Gebietsarchiv mit den Namenslisten aller Bewohner der Stadt Pillau bis 1947 sowie seltene Fotos von Pillau aus der Zeit bis April 1945 – nicht nur für die Kreisgemeinschaft von unschätzbarem Wert.

Ein Grußwort sprach auch die sympathisch wirkende Bürgermeisterin von Fischhausen, Glafira Grigorenko. Sie wußte von den guten Beziehungen zwischen Deutschen und Russen in ihrem Ort zu berichten und regte die Gründung einer Gemeinschaft der heutigen und früheren Bewohner an, um die Aufgaben der Zukunft gemeinsam zu lösen. "Als Gruß an alle Kinder in Deutschland" überreichte sie für das Museum in Pinneberg eine geschnitzte Figur. Doch auch sie sollte den Saal nicht ohne ein Präsent verlassen: Sichtlich überrascht und gerührt nahm sie ein von der Kreisgemeinschaft Fischhausen gestiftetes Faxgerät entgegen; ein dringend benötigtes Kommunikationsmittel, das in Zukunft die Kontakte zwischen Ost und West erleichtern helfen wird.

In seiner mit Spannung erwarteten Festrede ging Louis-Ferdinand Schwarz zunächst auf die Vorgeschichte dieser zweiten Kulturtage in der Heimat ein, deren Vorbereitungen bereits im September 1998 begannen und die nicht zuletzt auf Einladung der politisch Verantwortlichen in Pillau und Rauschen zustande gekommen waren. Sein besonderer Dank galt dann auch neben den bereits Erwähnten Oberstarzt Dr. Eduard Kotkowski, Leiter des Militärsanatoriums, der Leiterin der Kulturabteilung der Stadt Rauschen und nicht zuletzt Ludmila Popounitzowa, Geschäftsführerin des Clubhauses, die sich als "gute Seele" um alle Belange ausgezeichnet gekümmert hatte, so daß Rauschen optimale Voraussetzungen bot.

Was jetzt eine so positive Entwicklung zu nehmen scheint, hat aber eine düstere Vorgeschichte, die der Kreisvertreter nicht zu erwähnen vergaß: "Vor 58 Jahren begann zwischen dem russischen und dem deutschen Volk einer der schlimmsten und brutalsten Kriege, den die Menschheit insgesamt kennengelernt hat, mit rund 55 Millionen Toten auf beiden Seiten. Hier stießen damals zwei gegensätzliche Ideologien aufeinander, die unerbittlich jede für sich eine Art Weltherrschaft anstrebten. Die Leidtragenden sind immer die Menschen, die nur in Ruhe ihr Leben gestalten wollen und kein Interesse an einem Krieg haben. Wir sollten uns diese schrecklichen Kriegstage stets vor Augen halten und jede Rückkehr von irgendwelchen Feindseligkeiten zwischen Deutschen und Russen mit allen Mitteln zu verhindern suchen." So forderte Schwarz die Anwesenden auf, "gemeinsam ein ehrliches, auf Frieden und Freundschaft basierendes Fundament zu bauen, um darauf ein deutsch/russisches Gebäude entstehen zu lassen, in dem sich Russen und Deutsche gegenseitig achten und in jeder Lage helfen und unterstützen". Doch der Kreisvertreter verschloß auch nicht die Augen vor der heutigen Realität. So sei das Resümee acht Jahre nach der Öffnung des nördlichen Ostdeutschlands zwiespältig: "Groß waren die Hoffnungen auf beiden Seiten, an ei-ne gemeinsame Zukunft in Ostdeutschland, z. B. in den Bereichen Kultur- und Jugendaustausch, heranzugehen. Die Perspektiven erschienen in jenen bewegten Jahren ebenso weit und offen wie die Herzen von Russen und Deutschen." Geschehen sei allerdings, gemessen an den Möglichkeiten, bedrückend wenig. Die Schuld hierfür könne wohl kaum bei den Ostdeutschland oder den jetzigen russischen Bewohnern gefunden werden. Vielmehr hat Schwarz den Eindruck, daß die Regierenden in Bonn und Moskau kein Interesse an einer weiteren Entwicklung hätten. So war denn auch sein Urteil recht deutlich: "Oft muß man meinen, es würden einem bewußt Knüppel zwischen die Beine geworfen, als hielten gewisse Kreise die Dämonen von gestern bewußt am Leben, um die Königsberger Region an jedweder konstruktiven Entwicklung zu hindern." Dennoch werde man trotz des Gefühls, von den eigenen Regierungen im Stich gelassen worden zu sein, weiter den eingeschlagenen Weg gehen: "Wir haben verstanden – Russen und Deutsche Ostdeutschlands! Nur gemeinsam wird es einen Weg in eine gute Zukunft geben. Wir wollen uns diesen Weg nicht verbauen lassen ... Wenn auch die Politik noch nicht soweit ist, wir wollen uns nicht aufhalten lassen, Völkerverständigung auf unterster Ebene nach unseren Möglichkeiten nachhaltig zu praktizieren. In diesem Sinne sollen diese Kulturtage im Samland verstanden werden; denn Kultur verbindet, wo die Politik Schwierigkeiten hat. Das in diesem Sinne auch bei den Russen vielfach so gedacht wird, haben wir in den letzten fast zehn Jahren sehr oft so empfunden, gespürt und gefühlt."

Eindrucksvoll untermauert wurden die Worte des Kreisvertreters bei der Totenehrung, als sich Vertreter der jungen Generation, Silke aus Hamburg und Swetlana aus Rauschen, symbolisch für die Aussöhnung beider Völker die Hände reichten. Das gemeinsam von allen Mitwirkenden und Anwesenden gesungene Ostdeutschlandlied schloß eine Feierstunde, die zukunftweisend für das weitere Miteinander in dieser Region sein könnte. Beim anschließenden Eintopfessen aus der Gulaschkanone konnten die guten Vorsätze auch gleich in die Tat umgesetzt werden: Deutsche und Russen aßen nicht nur zusammen, sondern unterhielten sich; wenn auch manchmal mit Hilfe von Händen und Füßen.

Die abschließende Totenehrung auf dem Soldatenfriedhof in Germau, wo Louis-Ferdinand Schwarz und die Bürgermeisterin des Ortes in Anwesenheit mehrerer hundert Teilnehmer gemeinsam Gebinde für die Gefallenen beider Völker niederlegten, beendete das offizielle Programm der imponierenden Kulturtage im schönen Samland. Unvergeßliche Tage, die leider noch nicht alltäglich sind; aber sie lassen durchaus hoffen.

 
     
     
 
Diese Seite als Bookmark speichern:
 
     
     
     

     
 

Weitere empfehlenswerte Seiten:

Des Königs Dank droht der Verfall

Einmal waschen schneiden ondulieren

Der Brockhaus zum Thema Gesundheit

 
 
Erhalten:
 

 

   
 
 
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11
WISSEN48 | ÜBERBLICK | THEMEN | DAS PROJEKT | SUCHE | RECHTLICHE HINWEISE | IMPRESSUM
Copyright © 2010 All rights reserved. Wissensarchiv