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Als die Welt aus den Fugen ging

 
     
 
Der Erste Weltkrieg gilt als die "Urkatastrophe" des 20. Jahrhunderts. In Deutschland wird er vor allem im Windschatten des Zweiten Weltkrieges wahrgenommen, als Zwischenstation auf dem deutschen Irrweg, der direkt in den Nationalsozialismus und den Abgrund führte.

Fritz Fischer hatte Anfang der sechziger Jahre in dem kontrovers diskutierten Buch "Griff nach der Weltmacht" dargestellt, daß das Deutsche Reich
den Krieg 1914 absichtsvoll und lange geplant vom Zaun gebrochen habe. In der Folge geriet auch die Vorgeschichte, inklusive Bismarck, in einen Generalverdacht, der zur historischen Erkenntnis wenig, zur moralischen Entrüstung aber viel beitrug. Restspuren dieser Lesart sind bis heute wirksam, so in Heinrich August Winklers "Der lange Weg nach We-sten" (Band 1, 2000), mit dem er zum Hofhistoriker der rot-grünen Bundesregierung avancierte.

Der Historiker Michael Salewski, 1938 in Königsberg geboren, rückt im vorliegenden Buch vieles gerade. Salewski bietet eine Gesamtschau der europäischen Länder (in deren Mittelpunkt Deutschland steht) und bezieht neben dem politischen, gesellschaftlichen und sozialen Leben auch die Wissenschaft, Wirtschaft, Technik und Mentalitätsgeschichte ein. Diese Zusammenschau ist nicht unbedingt neu, aber die Genauigkeit, Stringenz und Plausibilität, mit der er die Wechselwirkungen zwischen den Bereichen aufzeigt, ist von besonderer Überzeugungskraft. Der Leser erhält einen Eindruck von der ungeheuren Dynamik des frühen 20. Jahrhunderts, die von der Politik kaum gebändigt werden konnte. Monokausale Schuldzuschreibungen anläßlich des Kriegsausbruchs verbieten sich von selbst.

Der Stapellauf eines Schlachtschiffes war um 1900 ein gesellschaftliches Großereignis, das ein modernes Rockkonzert in den Schatten stellte. Es konnte nicht ausbleiben, daß solche technischen Wunderwerke die Phantasie und auch den politischen Ehrgeiz anstachelten. Stellt man die wirtschaftliche Macht Deutschlands in Rechnung, die ebenfalls - naturgemäß - nach Ausdehnung und nach neuen Märkten drängte, dann erscheint es gar nicht mehr vermessen, daß die junge Großmacht in jenen imperialen Kategorien zu denken begann, die für andere Großmächte längst normal waren.

Salewski hält nicht viel vom "deutschen Sonderweg". Wer die Art der Reichsgründung von 1871 kritisiert, vergißt allzuleicht, daß Deutschland zu jener Zeit noch ein Agrarstaat war. Das Wahlrecht von 1871 war vorbildlich für Europa und das System elastisch genug, um die Wandlung von einer halbabsolutistischen zur konstitutionellen Monarchie zu vollziehen. Durch diese sukzessive Demokratisierung wurden aber auch neue Zentrifugalkräfte wirksam. Ein außenpolitischer Ausgleich mit Rußland war nicht zuletzt deshalb so schwierig, weil die zaristische Autokratie Gegenstand allgemeiner Verachtung war und eine deutsch-russische Partnerschaft von der SPD, die inzwischen zur größten deutschen Partei aufgestiegen war, als Provokation begriffen worden wäre.

Allerdings blieb im Reich eine Übermacht des Militärischen bestehen. Der preußische Generalstab war "das delphische Orakel, das ratlose Politiker befragten". Bismarck konnte dessen Ehrgeiz bändigen, zumal er im General-stabschef Helmuth von Moltke d. Ä. einen kongenialen, nüchternen Ansprechpartner besaß. Dieses Verhältnis zwischen Regierung und Militär änderte sich nach dem Abgang der beiden Sieger von 1870/71. Während des Ersten Weltkriegs sollte die Oberste Heeresleitung unter Ludendorff und Hindenburg die Reichsleitung ein- deutig dominieren.

Unter diesen Voraussetzungen war der deutschen Diplomatie während des Krieges kein Erfolg beschieden. Einerseits wurde Rußland desavouiert, indem am 5. November 1916 das Königreich Polen proklamiert wurde, andererseits verscherzte Deutschland sich mögliche polnische Sympathien und Unterstützung, indem es einen Grenzstreifen einbehielt und der polnischen Regierung ein deutscher und ein österreichischer Gouverneur übergeordnet blieb.

Salewski untersucht auch den Einfluß der Propaganda, die die am Krieg beteiligten Völker nun wirklich zu Feinden machte. Die alliierte Propaganda war wirksamer als die deutsche, und die Geister, die sie gerufen hatten, ließen sich auch nach Kriegsende nicht mehr einfangen. Die Versailler Friedensbedingungen, die von Deutschland als ungerecht und hart empfunden wurden, erschienen vielen Franzosen als zu weich. Clemenceau, mochte er sich auch selbstherrlich gebärden, war ein Gefangener der aufgeheizten Volksstimmung.

Unter machtpolitischem Gesichtspunkt war der Krieg von 1914 bis 1918 ein "kollektiver Selbstmord" Europas. Der alte Kontinent verarmte, wurde politisch und militärisch zweitrangig und geriet in Abhängigkeit von den USA, später auch von der Sowjetunion. Salewski, der immer wieder in die Zukunft ausgreift, datiert die Geburt der Achse Wa-shington-London auf den Ersten Weltkrieg, die wiederum eine Voraussetzung zur Konstituierung der Nato war.

In Versailles wurde Deutschland die alleinige Kriegsschuld aufgebürdet, ein absurdes Siegerdiktat. Mit großer Genauigkeit zeichnet Salweski die Zwangslage nach, innerhalb deren die deutschen wie die anderen europäischen Politiker handelten. Die im Rückblick leicht erkennbaren Fehler waren für die Akteure Handlungsmöglichkeiten mit immerhin offenem Ausgang. Die Risiken wurden für kalkulierbar gehalten - heute weiß man, daß sie unkalkulierbar waren. Heinrich August Winkler hat dennoch die "Hauptschuld" Deutschlands am Ersten Weltkrieg postuliert, weil "keine Großmacht (...) während der Julikrise so konsequent auf eine Eskalation des Konflikts gesetzt" habe wie Deutschland. Salewski zeigt, daß davon keine Rede sein kann.

In der Unterredung zwischen dem Kaiser und hohen Militärs am 8. Dezember 1912 im Berliner Schloß, die häufig als Indiz für die deutsche Kriegslüsternheit angeführt wird, ging es in Wahrheit nur um eine Lagebeurteilung der angespannten Situation. Die Teilnehmer hielten den Krieg für unabwendbar - wie alle maßgeblichen Politiker Europas -, die Absicht aber, ihn zu beginnen, kann man ihren Äußerungen nicht entnehmen. Als weiteres Indiz, ja Beweis, gilt der "Blankoscheck", den Deutschland am 6. Juli 1914, wenige Tage nach dem Attentat von Sarajewo am 28. Juni, Österreich-Ungarn ausgestellt hatte.

Auch hier kann man nicht von deutscher Kriegstreiberei sprechen, sondern von Fehlkalkulationen und Emotionen, die verständlich waren, aber besser unter- blieben wären. Da war die Erschütterung über den Tod des Thronfolgers Franz Ferdinand, der als Angriff auf das monarchistische Prinzip empfunden wurde. Mitleid mit dem alten Kaiser spielte hinein, und das berechtigte Gefühl, daß der einzig relevante Bündnispartner, wenn man ihm eine Genugtuung versagte, in eine existentielle Krise geraten würde. Eine schnelle Strafexpedition Österreich-Ungarns gegen Serbien wäre europaweit wohl akzeptiert worden, doch durch die Schwerfälligkeit des k.u.k-Militärs kam es zum Schwel- und dann zum Flächenbrand. Obwohl Belgrad ein hartes Wiener Ultimatum meistenteils erfüllt hatte - was Wilhelm II. zu dem erleichterten Ausruf veranlaßte, damit fiele jeder Kriegsgrund fort -, erklärte die Donaumonarchie, die sich durch die Kriegserklärung aus ihrer inneren Krise befreien wollte, dem Balkanstaat den Krieg.

Salewski liebt kontrafaktische Gedankengänge. Er stellt in den Raum, daß Deutschland, hätte es am 28. Juli öffentlich den "Blankoscheck" von Wien zurückgefordert, den Einkreisungsring der Entente gesprengt hätte - freilich mit unwägbaren Folgen für den Partner. Dies unterlassen zu haben kann als Schuld gewertet werden - die der Schuld der anderen Länder zur Seite gestellt werden muß. Aber solche grundlegenden Fragen mußten innerhalb von wenigen Stunden erwogen werden. In der Wilhelmstraße in Berlin herrschte Panik, Kanzler Bethmann Hollweg sprach düster von einem "Sprung ins Dunkle".

Aufschlußreich sind auch Salewskis Ausführungen zur deutschen Hungersnot im Krieg. Die britische Blockade wirkte sich verheerend aus, aber theoretisch wäre es möglich gewesen, durch eine Umstellung der Ernährungsweise und durch richtige Bevorratung und Kontingentierung die Kalorienwerte der Friedenszeit annähernd zu erreichen. Doch eben nur theoretisch. Man hatte sich auf einen kurzen Krieg eingestellt, auf einen jahrelangen, verzehrenden war niemand vorbereitet. Es fehlte die Erfahrung, um eine ausgeklügelte Kriegswirtschaft zu installieren, es mangelte an Speicher- und Transportkapazitäten, an Planung und Kontrollmöglichkeiten. Es kam zu Behördenchaos und Kompetenzrangeleien. Das Reich war damals ein Staatenbund, erst im Weltkrieg wurde es zum Bundesstaat geschmiedet. Die Hungersnot aber wurde eine prägende Erfahrung der Deutschen. Hier wurzelte auch Hitlers fixe Idee vom Lebensraum, den man sich im Osten holen müsse, und daraus resultierte auch der Erfolg der Volksgemeinschafts-Propaganda, des Eintopfessens und die Akzeptanz der rigiden Kontrollen im Zweiten Weltkrieg.

Kontrastierend zu den düsteren Vorgängen stellt Salewski immer wieder heraus, daß man aus der Geschichte lernen kann. Das Unglück der Kriegs- und Nachkriegszeit rührte auch aus der planvollen Demütigung des Gegners her, aus der Verletzung von Ehrvorstellungen, die in den Völkern lebendig waren. Eingedenk dieses politisch-psychologischen Kardinalfehlers der Franzosen nach 1918 sprach der französische Präsident de Gaulle, als er 1962 zu seinem Staatsbesuch in Bonn weilte, öffentlich von dem "großen deutschen Volk".

Salewskis Buch ist sachlich und sprachlich beeindruckend. Der Leser hat nach der Lektüre das Gefühl, mit dem Autor dabeigewesen zu sein, damals, 1914 bis 1918, als die Welt aus den Fugen ging.

Michael Salewski: "Der Erste Weltkrieg", Ferdinand Schöningh, Paderborn 2003, 400 Seiten, 29,90 Euro

Der Autor hält nicht viel vom "deutschen Sonderweg" Ein sachlich und sprachlich beeindruckendes Buch
 
     
     
 
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