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Auf der Suche nach sich selbst

 
     
 
Integration, konkret Einbürgerung, wird von der Politik derzeit kontrovers diskutiert, Kompromisse sind gefragt, die Einwanderungsgesellschaft scheint beschlossen. Baden-Württemberg legte vor, Hessen einen 100-Fragenkatalog für Neubürger nach. Die Fragen aus dem hessischen Innenministerium erregen die Gemüter, nicht nur der Politiker. Von der CDU werden sie als bundesweit beispielgebend lanciert.

Während die Französische Republik sowie die Vereinigten Staaten von Amerika im Geiste der Aufklärung traditionell eine Gesinnungsgemeinschaft sind, sprich die Zugehörigkeit zu ihnen vorrangig von einer Übereinstimmung mit klar definierten republikanischen Werten abhängt, bestimmte sich "Deutsch-sein" durch Abstammung, zumindest aber durch das Aufgewachsensein im deutschen Kultur- und Sprachraum. Insofern ist die Einbürgerung per Fragenkatalog
ein Bruch gerade der Konservativen mit der klassischen Idee des "Deutsch-seins". Die Einwanderungsgesellschaft wird durch die neuen Fragen - gewollt oder ungewollt - etabliert. Zuwanderung gilt damit dem gesamten demokratischen Politik-Spektrum als demographisches Allheilmittel gegen das Schwinden der Deutschen. Gezielte Bevölkerungspolitik über Kindergeld und Betreuungsangebote hinaus wird nicht einmal in Erwägung gezogen. Daß eine solche Neu-Definition trotzdem positive Effekte auslösen könnte, zeigt das Beispiel des toleranten Preußen. Es zog als freiheitlich-konservative Gesinnungsgemeinschaft Emigranten wie Eliten Europas gleichermaßen an, integrierte sie vorbildlich. Nur ist Deutschland derzeit weit entfernt davon, die Fleißigen Europas anzulocken, damit sie nach ihrer Facon hier selig würden. Die Vorstellung, ein Fragenkatalog könnte zum Eintritt in diese Gemeinschaft qualifizieren, mutet naiv an. Hilflosigkeit angesichts der Frage, wie man Zugezogene zu einem verläßlichen Bekenntnis für dieses Land bewegen kann, ist allenthalben spürbar. Es gebe "ein hohes Integrationsproblem", so Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber.

Wer die Hilflosigkeit bei der eigenen Identitätsstiftung den Zuwanderern anlastet, greift allerdings zu kurz. So schreibt die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" vom 18. März in einer Art Bestandsaufnahme zur demographischen Entwicklung: "Binnen weniger Jahre hat sich erwiesen, daß die Einwanderer die Gesellschaft in Deutschland so weit verändert haben, daß diese zu keiner Übereinstimmung mehr darüber findet, was ihr Wesen ist." Sicher ist Deutschlands Unsicherheit über das eigene Wesen gerade auf dem Hintergrund der Einbürgerungsdebatte derzeit deutlich erkennbar. Jedoch ist die verzweifelte Nabelschau, das Sinnieren über die Grundwerte, die den Deutschen ausmachen und die daher dem Neu-Deutschen abzuverlangen sind, um ein Miteinander zu ermöglichen, ein Ergebnis selbstverschuldeter, sprich deutscher Versäumnisse.

Die Kampagne "Du bist Deutschland" zeigt dies. Nicht umsonst präsentiert sie fröhliche Afro-Deutsche, türkischstämmige Mitbürger und Multikulti-Idyllen mit fröhlichen Kindern. Macher wie Mehrheitsbevölkerung scheinen nicht mehr willens oder in der Lage, nationale Symbole, Eigenheiten oder Traditionen zu bejahen, ohne das andere, fremde gleich mit einzubeziehen. Nicht vorgedrängelt, sondern von den deutschen Initiatoren der Fernsehspots krampfhaft ins Rampenlicht gezerrt, posierten die ausländischen Mitbürger. Die Kampagne, gedacht zur Sinnstiftung und wider den Pessimismus in ökonomisch schwieriger Zeit, geriet zur Feier der Beliebigkeit. Die gezeigten Sujets und Vorbilder hätten überall in Europa, womöglich sogar überall in der modernen westlichen Welt angetroffen werden können. Daß sie als Bild dieses Landes vermittelt wurden, ist ein allein deutsches Phänomen.

In diesem Punkt stimmen Kampagne und von der Politik vermitteltes Selbstbild überein. Der 100-Fragenkatalog, den Hessen Einbürgerungswilligen vorlegen möchte, verlangt beispielsweise in Frage 17 die freie Definition des Begriffs "Existenzrecht Israels" oder widmet fünf Fragen allein der Europäischen Union und ihren Institutionen. "Kultur und Wissenschaft" sowie "Deutsche Nationalsymbole" nehmen nur am Ende einen Raum von insgesamt 20 Fragen ein. Dagegen werden Verfassung, Parteiensystem, Föderalismus und Rechts- wie Sozialstaat in einem Umfang abgefragt, der sogar die angestammte Bevölkerung rätseln läßt. Alltagskultur kommt gar nicht vor. Politisch korrekt und von weiterer (Er-)Kenntnis des Landes unbehelligt passieren Einbürgerungswillige teils plumpe Fangfragen. Die Standardantwort spontaner Freiwilliger, übrigens nicht nur auf Frage 17, hieß "Keine Ahnung". Auch nicht schlimm, so die Botschaft des hessischen Innenministers und Initiators Volker Bouffier - so 50 Prozent solle man richtig beantworten, um zu bestehen, sagte er.

Während die Grünen noch zur Klage gegen die offensichtlich auf Muslime zielenden Gretchenfragen aufrufen, legt die CDU nach und will, wenn nötig, ein Bundesgesetz. "Einer Frau soll es nicht erlaubt sein, sich ohne Begleitung eines nahen männlichen Verwandten in der Öffentlichkeit aufzuhalten oder auf Reisen gehen zu dürfen: Wie ist ihre Meinung dazu?" - müssen sich dann Muslime wie Nicht-Muslime bundesweit fragen lassen, wenn sie einen deutschen Paß haben wollen. Doch auch die offiziell gezeigten Bilder von oben-ohne badenden Niederländerinnen sind wenig hilfreich, die Gesinnung eines Neubürgers zu erforschen. Umfragen zeigen: Die Deutschen selbst passen nicht immer ins gewünschte Bild. An Frage 46, "Welche Erziehungsmaßnahmen sind erlaubt, welche verboten?", könnten auch Sie scheitern. Das Bonner Meinungsforschungsinstitut "OmniQuest" stellte in einer repräsentativen Umfrage 1000 Deutsche mit den Einbürgerungsfragen auf die Probe. Knapp 36 Prozent kannten beispielsweise das Gründungsjahr der Bundesrepublik, nur 20 Prozent den Namen der Nationalhymne, auch den Begriff "Grundgesetz" konnten gerade knapp 42 Prozent der Befragten richtig zuordnen.

Unsicherheit entsteht. Eine gewisse Unsicherheit in der genauen Darstellung dessen, was die Nation oder das eigene Kulturvolk konkret ausmacht, ist allen Staaten gemein und nicht auf Deutschland beschränkt. Insofern birgt die mehr erzwungene neue deutsche Selbstbetrachtung eine Chance. Nach Jahrzehnten des Unbehagens im eigenen Haus, dessen schmutzigen Putz der Vergangenheit viele Deutsche ständig hervorzukommen wähnten, schweift der Blick nun nicht mehr nur über die vermeintlich fleckigen Fassadenteile. Das hier und jetzt, das heutige Deutschland rückt in den Focus. Es zu erklären, gar einem Fremden positiv zu vemitteln, bereitet Probleme, und diese schmerzhafte Erkenntnis ist ein positiver Effekt der Fragen. Ein gewünscht friedliches und nach allen Seiten ideell offenes Gedankengebilde, denn eine Nation entsteht zuerst im Kopf, wird nämlich nicht genügen, Zuwanderern die unverrückbaren Fundamente des gemeinsamen Hauses sich aneignen zu lassen. Von diesem Standpunkt aus betrachtet ist die einst von Friedrich Merz angestoßene und heftig angefeindete "Leitkultur" keine Maximalforderung, sondern Voraussetzung einer deutschen Zuwanderungspolitik. Inzwischen provozieren Forderungen wie die nach einem "nationalen Aktionsplan Integration" von Unionsfraktionschef Volker Kauder keinen Aufschrei mehr. Leitkultur - oder besser eine originär deutsche Kultur - zu verneinen hieße nämlich, das Problem auf die europäische Ebene zu verlagern, wo es kaum besser aufgehoben wäre. Fällt die Formulierung eines nationalen Wertekanons schon schwer, wie sollte erst Europa ein Mindestmaß an Integration verlangen? Schon planen die sechs größten EU-Mitglieder zusätzlich zu Einbürgerungsfragen einen europäischen "Integrationsvertrag". Die Innenminister dieser Staaten, darunter auch Deutschland, einigten sich auf eine Expertengruppe dazu.

Das Feilschen um die Fragen könnte im besten Fall zu einem Erkenntnisprozeß führen. Der SPD- Fraktionsvorsitzende Struck sagte: "Es gibt keine hessische oder baden-württembergische Staatsbürgerschaft, sondern nur die deutsche". Für ihre Verleihung sind Anforderungen legitim - nur werden es mehr als ein paar Fragen sein müssen. Letztlich macht nur das vorgelebte Bekenntnis der Deutschen zu ihrem Land das Deutschsein auch für andere attraktiv.

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