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Auf die Barrikaden

 
     
 
Daß selbst im friedlichen Ungarn Straßenschlachten toben können, Autos abgefackelt werden und Plünderungen vorkommen wie in Paris, hätte sich bis vor wenigen Tagen kaum jemand träumen lassen. Dennoch geschah es - in Budapest.

Und es waren nicht einmal Rassenunruhen, denn es gibt zwar auch in Ungarn Probleme mit Zuwanderern, doch hier waren nur Ungarn beteiligt.

Wie immer ist zwischen Ursachen und Auslösern zu unterscheiden. Auslöser war ein Rede, die Ministerpräsident Gyurcsány in einer Klausur seiner Sozialistische
n Partei gehalten hatte. Genauer gesagt, es war die Ausstrahlung eines Mitschnitts durch den öffentlich-rechtlichen Rundfunk "Kossuth-Radio" am Wochenende, denn die Rede war schon am 26. Mai gehalten worden. Die Rede schockierte sowohl wegen des - ausnahmsweise ehrlichen - Inhalts als auch wegen des Zeitpunkts ihres Bekanntwerdens und nicht zuletzt wegen der Wortwahl. (Wer Ungarisch beherrscht, kann das Original unter www.radio.hu abrufen.) Der SP-Führer gebrauchte nämlich äußerst vulgäre Ausdrücke - und bekanntlich scheuten sich nicht einmal KP-Funktionäre, in Gesellschaft "bürgerliche" Benimm-Regeln einschließlich Handkuß anzuwenden.

Gyurcsány gestand vor seinen Genossen ein, daß die linksliberale Koalitions-Regierung seit ihrem Amtsantritt 2002 nichts vorangebracht habe und daß man das Volk mit gefälschten Wirtschaftsdaten und unhaltbaren Versprechungen beschwindelt habe. Das heißt in Klartext, die Regierungsparteien haben ihren Wahlsieg im April 2006 durch Volksbetrug erzielt. Es heißt allerdings auch, daß die Daten, die der Aufnahme Ungarns in die EU zugrunde lagen, mehr als zweifelhaft sind! Man darf gespannt sein, wie die EU-Kommission darauf reagiert, insbesondere der damalige Erweiterungskommissar Verheugen, und ob jetzt nicht auch Bulgarien und Rumänien in neuem Licht erscheinen müssen.

Die Erregung in der Bevölkerung ist aber nicht nur wegen des Wahlbetrugs so groß: Erst vorige Woche hatte die Regierung ein "Konvergenz-Programm" verkündet - ein origineller Name für ein drastisches Sparprogramm: Bis 2009 soll das Budget-Defizit von 10,1 auf 3,2 Prozent gesenkt werden. "Strukturelle Reformen" sollen Ungarn für den Euro fit machen, und entgegen allen Wahlversprechen bedeutet dies, daß Steuern und Abgaben drastisch erhöht sowie die Subventionen für Strom, Gas und Medikamente gekürzt werden.

Dazu kommt ein Abbau von 20000 Arbeitsplätzen im Staatsapparat, vor allem im Gesundheits- und Bildungswesen. Die Euro-Einführung wird für 2013 anvisiert - die "Financial Times" rechnet eher mit 2016.

Zu den Ursachen der Krawalle zählt allerdings auch die haßerfüllte Spaltung der Gesellschaft - zwischen "Rechts" und "Links" sowie zwischen Arm und Reich: Der einstige KP-Jugendfunktionär Gyurcsány ist heute einer der reichsten Männer des Landes, und sein liberaler Koalitionspartner gilt in Ungarn als eine Partei von "Doppelstaatsbürgern". Daß die zunächst friedlichen Proteste erst nach zwei Tagen zu Gewalttätigkeiten ausarteten, wird - wie von einer linken Regierung zu erwarten - "Rechtsextremisten" zugeschrieben. Der ORF-Korrespondent Ernst Gelegs hingegen spricht von typischen Fußballrowdies, denen es nur um Gewalt und nicht um Politik geht.

Rücktrittsforderungen der Opposition lehnt Gyurcsány kategorisch ab - und schon kursieren Gerüchte, er selbst habe die Indiskretion eingefädelt, um seine Leute aus der Lethargie zu reißen. Und um, was nicht ganz unberechtigt ist, bürgerlichen Vorgängerregierungen die Hauptschuld an der Misere zu geben. Die Kommunalwahlen vom 1. Oktober wird er zwar verlieren, aber dem längerfristigen Machterhalt könnte es durchaus dienlich sein.
 
     
     
 
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