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Chronik einer Sommerfrische

 
     
 
Ostdeutschland – lange Zeit wußte Thomas Mann von diesem Außenposten des Reiches nur wenig und bekannte in einem im Juni 1929 in der "Königsberger Allgemeinen Zeitung" abgedruckten Brief: "Ich liebe das Meer, suche es überall und kenne das Ihre noch nicht. ‚Die Ostsee, meiner Jugend wilder Freund‘ (Zitat aus ‚Tonio Kröger‘) soll herrlich sein bei Ihnen (...) ."

Dann fährt der Schriftsteller mit einfühlsamen allgemeinen Überlegungen fort: "(...) der Deutsche kennt im ganzen sein Deutschland schlecht, es gibt viele, die Italien besser kennen. Aber mit der Unbereistheit Ostdeutschlands hat es doch seine besondere Bewandtnis. (...) Es besteht eine Neigung zu seelische
r Fahrlässigkeit, zum Sichabwenden, zum kulturellen Fallenlassen. Ein abgeschnürtes Gebiet, in das die geistigen Säfte Deutschlands nur spärlich dringen, ein leider wohl langsam verödendes deutsches Land.

Ein deutsches, versteht sich – politisch ist man auf seiner Hut. Seelisch jedoch, gefühlsmäßig, liegt etwas in der Luft wie Unglaube, Gleichgültigkeit, Verzicht. Das ist nicht gut, das ist falsch. Man soll sich um Ostdeutschland kümmern – nicht nur politisch und allenfalls wirtschaftlich, sondern mit den Sinnen, dem Herzen."

In der Folge 89/2000 der "Marbacher Magazine" mit dem Titel "Thomas Mann in Nidden: Eine Chronik (1929-1932)" mischen sich solche Selbstzeugnisse – meist Eindrücke von der Kurischen Nehrung – mit den stilistisch ebenfalls gekonnten Ausführungen Thomas Sprechers. Dieser zeichnet für die Bearbeitung der gut bebilderten Broschüre verantwortlich.

Der Autor der Deutschen Schillergesellschaft liefert dem Leser auch wenig bekannte Hintergrundinformationen. So erfährt man, daß die deutsche Heeresleitung 1916 französische Kriegsgefangene in eine Schlucht der Hohen Düne verlegen ließ – als Reaktion auf die Verschickung deutscher Gefangener nach Afrika.

Entstanden waren die gewaltigen Wanderdünen als Folge einer "ökologischen Katastrophe". Russische Besatzungstruppen hatten im Siebenjährigen Krieg die Wälder auf der Nehrung abholzen lassen und das Holz für viel Geld nach England verschifft. Damals verlief hier noch die Poststraße von Königsberg nach Riga. Auf ihr war 1807 Königin Luise vor Napoleon geflüchtet. Erst 1833 wurde die wichtige Verkehrsbindung ins Landesinnere verlegt und führte fortan über Tilsit ins Russische Reich.

Die Kurische Nehrung geriet damit in eine ausgesprochene Randlage und wurde – verstärkt durch die 1825 begonnenen und bis heute anhaltenden Wiederaufforstungen (inzwischen sind rund 70 Prozent bewaldet) – zum Naturparadies. Vogelkundler oder die expressionistischen Maler der Künstlerkolonie Nidden genossen das Kleinod ebenso wie die ersten Touristen und nicht zuletzt Thomas Mann. Dieser lobte den "erstaunlich südlichen Einschlag", genauer: jene Mischung von nordischer und südlicher Landschaft, die er so liebte.

Der erste Ostdeutschland-"Urlaub" begann am 29. Juli 1929 in Rauschen und endete am 24. August mit einem mehrtägigen Ausflug nach Nidden in den von Litauen annektierten Norden der Nehrung.

In seinem "Lebensabriß" heißt es dazu: Wir "waren von der unbeschreiblichen Eigenart und Schönheit dieser Natur, der phantastischen Welt der Wanderdünen, den von Elchen bewohnten Kiefern- und Birkenwäldchen zwischen Haff und Ostsee, der wilden Großartigkeit des Strandes so ergriffen, daß wir beschlossen, uns an so entlegener Stelle, als Gegengewicht gleichsam zu unserer süddeutschen Ansässigkeit, einen festen Wohnsitz zu schaffen."

Ein Jahr später stand das an den regionalen Stil angepaßte Sommerhaus fertig da. Die Einheimischen nannten es "Onkel Toms Hütte" und freuten sich über die Publizität, die die Anwesenheit des Ende 1929 mit dem Literaturnobelpreis geehrten Mannes während der Sommermonate 1930, 1931 und 1932 für diesen verschlafenen Winkel Deutschlands brachte.

Wenigstens gelang es dem Dichter in Nidden, sich dem Trubel zu entziehen, und er arbeitete mit gewohnter Disziplin vor allem an den "Josephs"-Geschichten. Manchmal tat er dies im Strandkorb, einer bis dahin in der Gegend verpönten Einrichtung. Die beiden jüngsten Kinder Elisabeth und Michael tummelten sich derweil in den Wäldern und Dünen, und Frau Katia knüpfte Kontakte zur deutsch-litauisch-kurischen Dorfbevölkerung.

Am 4. September 1932 bestieg Thomas Mann zum letzten Mal das Dampfschiff nach Cranz. Sein geliebtes Sommerhaus in Nidden sollte er, der Deutschland bald verlassen mußte, nie mehr wiedersehen.

All dies ist im Marbacher Magazin anschaulich beschrieben und wird immer wieder mit Zitaten belegt. Jedoch trübt die durchgängig verwendete neue Rechtschreibung – selbst in Zitaten von Wilhelm von Humboldt oder Thomas Mann – den Lesegenuß. Schade ist außerdem, daß der gute Ansatz, das Heft zweisprachig herauszugeben, nicht auch in der litauischen Fassung zu einer umfassenden Geschichtsvermittlung genutzt wird. Offenbar um keine vermeintlichen Tabus zu verletzten, tauchen dort die deutschen Ortsnamen nicht einmal in Klammern auf. Ärgerlich ist auch die Unart, zu deutschen Ortsnamen wie Memel das Attribut "das ehemalige" hinzuzufügen.

Dennoch ist zu hoffen, daß die Broschüre weite Verbreitung findet und in Deutschland wie in Litauen mehr Interesse für das 1996 im restaurierten Sommerhaus eröffnete Museum samt Kulturzentrum weckt und Besucher für das 5. "Thomas Mann-Festival in Nidden" vom 17. bis 21. Juli anlockt.

Marbacher Magazin 89/2000, 112 S., 55 teils farbige Abb., brosch., 12,- DM; außerdem sind über das Schiller-Nationalmuseum (Schillerhöhe 8-10, 71672 Marbach, Fax: 07144-848-690, E-Mail: Museum@dla-marbach.de ) zwei weitere den mitteleuropäische Raum betreffende Marbacher Magazine erhältlich: "Karl Kraus in Janowitz" (91/2000, 15,- DM) und "Paul Celan/Paul Ancel in Czernowitz" (90/2000, 12,- DM)

 
     
     
 
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