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Das Schweigen des Papstes

 
     
 
Es ist ein höchst seltsames Phänomen, daß sich der Pacelli-Papst zeitlebens des größten Ansehens erfreute, was nicht zuletzt anläßlich seines Todes zum Ausdruck kam. Als er 1959 starb, bezeichnete ihn der Generalsekretär des Jüdischen Weltkongresses als "einen der größten geistigen Führer unserer Zeit: Seine Heiligkeit erhob seine Stimme in einem eloquenten Aufruf für die grundlegenden Prinzipien der Gerechtigkeit, der Nächstenliebe und der Gastfreundschaft für Verfolgte; sei es wegen ihrer Rasse oder Religion, die aus ihrem Land durch beschämende Verfolgung vertrieben wurden." Wie sehr auch das offizielle Israel seinen Einsatz für die verfolgten Juden zu schätzen wußte, machte das Telegramm deutlich, das die damalige Außenministerin Golda Meir am Todestag des Papstes an den Vatikan sandte:

"Wir nehmen an der Trauer der Menschheit über das Hinscheiden Seiner Heiligkeit, des Papstes Pius XII. teil. In einer von Kriegen und Uneinigkeit bedrückten Welt vertrat er die höchsten Ideale des Friedens und des Mitleids. Als in dem Jahrzehnt des national
sozialistischen Terrors unser Volk ein schreckliches Martyrium überkam, hat sich die Stimme des Papstes für die Opfer erhoben. Das Leben unserer Zeit wurde von einer Stimme bereichert, die über den Lärm der täglichen Streitigkeiten hinweg deutlich die großen sittlichen Wahrheiten aussprach. Wir betrauern einen großen Diener des Friedens."

Vor dem Hintergrund dieser Äußerungen erscheinen die nicht abreißenden Angriffe auf diesen Papst schwer verständlich. Da die unzähligen Dokumente, die diese Äußerungen belegen, keinen Zweifel an der unermüdlichen Hilfstätigkeit des Papstes zugunsten der Verfolgten, insbesondere der Juden, gestatten, gibt es nur eine Erklärung für den Haß, der diesem großen Wohltäter der Menschheit nach seinem Tod entgegenschlägt: "Die Lügen über Pius XII. haben die Kirche zum Ziel", wie Pierre Blet im Interview mit der "Kirchlichen Umschau" erklärte.

Der jüdische Theologe und Historiker Pinchas E. Lapide hat in seinem als "Anti-Hochhuth" konzipierten Buch "Rom und die Juden" aus vorwiegend jüdischen Archiven nachgewiesen, daß die katholische Kirche unter dem Pontifikat Papst Pius XII. mindestens 700 000, wahrscheinlich aber sogar 860 000 Juden vor dem sicheren Tod durch die Nazis gerettet hat, weit mehr als alle anderen Kirchen, religiösen Einrichtungen und Hilfsorganisationen, einschließlich des Internationalen Roten Kreuzes und der westlichen Demokratien zusammen genommen. Über das "Schweigen" des Papstes zur Judenverfolgung machte er in der "Welt" vom 17. Juni 1966 bemerkenswerte Ausführungen: "Hat sich Pius in seinen vielen Rundfunkappellen, Hirtenbriefen, Botschaften und Briefen an seine Bischöfe nicht klar gegen das Nazitum, nicht für gleiche Barmherzigkeit gegenüber allen Opfern der Verfolgung, zweifellos auch gegenüber den Juden, ausgesprochen? Hätten die Neuheiden, die das göttliche Gesetz und die grundlegenden Gebote Jesu schamlos mißachteten, etwa auf einen Appell aus Rom gehört? Und hätte Pius, bar jeder Macht, Hitler trotzen – und gleichzeitig weiter heimlich Juden retten können…?" Angesichts nicht abreißender Vorwürfe von seiten derer, die es besser wissen konnten, äußerte er: "Wenn Fairneß und historische Gerechtigkeit Grundpfeiler jüdischer Moral sind, dann ist Schweigen angesichts verleumderischer Angriffe auf einen Wohltäter ein Unrecht."

Gegen die seit Hochhuths Pamphlet "Der Stellvertreter" unbeirrt und stereotyp wiederholten Vorwürfe ist die Kenntnis der Akten, die beredtes Zeugnis von den Aktivitäten Pius’ XII. ablegen, unerläßlich. Freilich ist die Fülle der einschlägigen Dokumente selbst für einen Fachmann kaum noch zu übersehen. Daher begnügen sich zahlreiche Journalisten und Medienleute damit, ungeprüft nachzuschwätzen, was geschworene Feinde der Kirche an unhaltbaren Verleumdungen über diesen Papst verbreiten. Um ein objektives Urteil über die Zeit der Nazidiktatur zu ermöglichen, beauftragte Papst Paul VI., der jahrelang einer der engsten Mitarbeiter Pius’ XII. war, ein Historikerteam, die Dokumente des Hl. Stuhls über den Zweiten Weltkrieg zu veröffentlichen. Ergebnis waren die "Actes et Documents du Saint Siège relatifs à la Seconde guerre mondiale". Da sie aber nicht jedermann leicht zugänglich sind, zudem ihr Umfang selbst gutwillige Journalisten überfordert, entschloß sich P. Pirre Blet, die wichtigsten Dokumente in einem Band zusammenzufassen. Der größte Teil der Akten läßt sich in fünf Kategorien einteilen:

1. Die Botschaften und Reden des Papstes.

2. Der Briefwechsel zwischen dem Papst und zivilen und kirchlichen Würdenträgern. Diese Briefe werden im allgemeinen in Form von Entwürfen, sogenannten Minuten, aufbewahrt, die der Papst mit eigener Hand korrigiert hat.

3. Die Noten des Staatssekretariats, die von den Untergebenen für ihre Vorgesetzten verfaßt wurden, um Informationen und Vorschläge weiterzuleiten.

4. Die diplomatischen Noten, die zwischen dem Staatssekretariat und den beim Hl. Stuhl akkreditierten Diplomaten ausgetauscht wurden.

5. Die Korrespondenz zwischen dem Staatssekretariat und den Vertretern des Hl. Stuhls im Ausland.

Viele dieser Dokumente tragen die Unterschrift des Staatssekretärs oder des Leiters der 1. Sektion des Staatssekretariats, selten die des Papstes selbst. Dennoch geben sie jeweils die Absicht des Papstes wieder, der stets die letzte Entscheidung hatte.

Diese elf Bände, einschließlich eines Doppelbandes, ermöglichen dem Historiker ein zuverlässiges Bild über Absichten und Verhaltten des Papstes, seine Bemühungen zu retten, was zu retten war, ohne seine Unparteilichkeit aufzugeben. Selbstverständlich vermag auch das vollständigste Archiv kein lückenloses Bild der ganzen Wirklichkeit zu bieten. So wird beispielsweise festgehalten, daß Pius XII. am 30. Juni 1944 General de Gaulle empfing, aber kein einziges Wort dieser Unterredung. Auch die zahlreichen Demarchen zur Rettung der rassistisch Verfolgten sagen nur wenig darüber aus, ob diese Erfolg hatten. Oft wird lediglich von Danksagungen über den Erfolg solcher Aktionen berichtet. Mit dem "Extrakt" der "Actes et Documents" erhalten alle, die über den Hl. Stuhl während des Zweiten Weltkriegs reden oder schreiben, genügend Informationen, die zu einer sachlichen Darstellung befähigen – wenn der Wille hierzu besteht. Jeder Band ist mit einer Einleitung versehen, die das Wichtigste des Inhalts enthält. Wer ausführlichere Informationen benötigt, kann auf die elf Bände zurückgreifen. Für uns Deutsche ist Band 2 von besonderer Bedeutung, der seit 1966 auch in deutscher Übersetzung vorliegt und die Briefe Pius’ XII. an die deutschen Bischöfe von 1939–1944 enthält. P. Blet behandelt in seinem Werk folgende Themenkreise:

• Die Vatikanische Diplomatie gegen den Krieg

• Pius XII., Roosevelt und Mussolini

• Der Papst und die Kirche in Deutschland

• Die Kirche im besetzten Polen

• Das Reich triumphiert

• Vom europäischen Krieg zum Weltkrieg

• Rassengesetze und Verfolgungen

• Judenverfolgung und Deportation – Die Slowakei und Kroatien

• Judenverfolgung und Deportation – Rumänien und Ungarn

• Das Schicksal der Ewigen Stadt

• Die letzten Kämpfe und das Schicksal der Völker

Das Werk Pierre Blets – er ist Franzose – erschien zunächst in französischer Sprache. "Le Figaro" und "Le Monde" rühmten die Erhellung der historischen Wahrheit über die Rolle der Kirche, die aus dubiosen Gründen grob entstellt wurde. So wurde beispielsweise auch das Buch von Pinchas E. Lapide mit Stillschweigen übergangen, während "Der Stellvertreter" immer wieder als "Beweis" für Versagen der Kirche und ihre "Mitschuld" am Holocaust angeführt wird.

Wenngleich im Zug der Verleumdungskampagne gegen Pius XII. naturgemäß seine Haltung gegenüber der Judenverfolgung von Interesse ist, nimmt diese zwar einen gewichtigen Teil der Darstellung ein, aber eben nur einen Teil.

Unmittelbar nach seiner Thronbesteigung bemühte sich Pius um die Bewahrung vor dem drohenden Krieg. Nachdem er dennoch ausbrach, wollte er wenigstens seine Leiden lindern. So setzte er sich nachdrücklich für die Einschränkung des Bombenkrieges gegen die Zivilbevölkerung ein. Aber auch hier war ihm kein Erfolg beschieden. Er verfügte eben über keine Divisionen. Sein gut ausgebauter Nachrichtendienst für Kriegsgefangene wurde insbesondere von Berlin und Moskau boykottiert.

In seinen Briefen an die deutschen Bischöfe betonte der Papst, für ihn sei das Wichtigste, daß die deutschen Katholiken sich gegenüber den gottlosen Auffassungen, denen sie ausgesetzt seien, immun verhalten mögen. Er empfahl den Oberhirten, sich für die Bevölkerung der besetzten Gebiete einzusetzen. Die christliche Liebe müsse alle Menschen umfassen. Im Brief an Bischof Preysing beklagt er die namenlose Not der Gläubigen im Warthegau, "um so mehr, als jeder Versuch, für sie bei den Regierungsstellen zu vermitteln, auf schroffe Ablehnung gestoßen ist … Die Befürchtung, den Rest von Seelsorge, der dort noch besteht, auch zu gefährden, haben uns bis jetzt davon zurückgehalten, die dortigen Zustände offen zur Sprache zu bringen." Im selben Brief erwähnt Pius, was der Hl. Stuhl in wirtschaftlicher und moralischer Hinsicht für die katholischen Nichtarier wie auch die Glaubensjuden getan hat. Er spricht "von den sehr hohen Summen, die wir in amerikanischer Währung für Überseereisen von Emigranten ausgeworfen haben … Immerhin ist dem Hl. Stuhl auch von jüdischen Zentralen wärmste Anerkennung für sein Rettungswerk ausgesprochen worden." – So liegen in den vatikanischen Archiven von Ende 1942 Danktelegramme und -schreiben unter anderem von den jüdischen Gemeinden in Bolivien, Costa Rica, Südafrika, Chile, der Union of Orthodox Rabbis of America and Canada und dem Großrabbiner von Zagreb vor.

Nachdem der Papst in seiner Weihnachtsansprache 1942 von "den Hunderttausenden, die persönlich schuldlos, bisweilen nur um ihrer Volkszugehörigkeit oder Abstammung dem Tode geweiht oder von einer fortschreitenden Verelendung preisgegeben sind", gesprochen hatte, sagte ihm der Vertreter Roosevelts, viele hätten mehr eine Verurteilung der Deutschen erwartet. Der Papst entgegnete, "er habe, als er von diesen Grausamkeiten sprach, nicht die Nationalsozialisten nennen können, ohne auch die Bolschewisten zu erwähnen". Noch einmal erwähnte er in seiner Ansprache an die Kardinäle diejenigen, die wegen ihrer Nationalität oder Rasse gequält und der Ausrottung preisgegeben würden. Diese Ansprache wurde im "Osservatore Romano" noch am selben Tag abgedruckt mit einem besonderen Teil, der sich mit den Polen befaßte. Sie wurde natürlich den Nazis bekannt, nicht aber den Deutschen, denen nur die gleichgeschaltete Presse zur Verfügung stand. Auch seine Proteste gegen die Deportation der Juden aus Rom wurden vom deutschen Botschafter v. Weizsäcker unterdrückt. So kam es zur Lesart vom "Schweigen" des Papstes. Immerhin gelang es dem Vatikan, durch stille Hilfe im verborgenen, Hunderttausende Verfolgter zu retten, indem sie Zuflucht in Verstecken, darunter zahlreichen Klöstern, gewährten oder ihnen die Flucht in Asylländer ermöglichten. Der Nachfolger Pius’ XII., Papst Johannes XXIII. erklärte gegenüber Pinchas E. Lapide: "Ein doktrinärer Papst hätte vielleicht ostentativ gehandelt; ein humaner mußte die stille Rettung der Verfolgten dem Posaunenruf einer leeren Enzyklika vorziehen." P. Lothar Groppe SJ

Pierre Blet SJ, Papst Pius XII. und der Zweite Weltkrieg. Aus den Akten des Vatikans, Verlag Schöningh, Paderborn 2000, XIII + 313 S., kart., 48 Mark.

 
     
     
 
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