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Der Diplomat Berndt von Staden über das heutige Estland

 
     
 
Die alte Welt an der Ostsee – sie ist längst untergegangen. Und jene, die si noch erlebt haben, treten langsam von der Bühne ab. Sie gehören zu dieser Generation Herr von Staden. Ihre diplomatische Karriere hat sie weit in der Welt herumkommen lassen heute leben Sie in Deutschland. Was bedeutet da für Sie noch die baltische Heimat?

von Staden: Je älter ich werde, desto mehr bedeutet sie wieder. Das ist merkwürdig man kehrt zu den Quellen zurück. Ich bezeichne heute Deutschland als meine Heimat, wa natürlich ist, nachdem ich über 30 Jahre im deutschen auswärtigen Dienst war. Da Baltikum ist für mich die alte Heimat, und Reval oder Tallinn, wie es offiziell heißt die Heimatstadt.

Ich liebe einfach dieses Land, ich liebe auch seine Menschen, und ich bewundere si für den Mut, mit dem sie ihre Freiheit aus eigener Kraft wiedererrungen haben sowie fü die Tatkraft beim Neuaufbau.

Wenn Sie das Reval von heute mit dem Reval der Kindheit vergleichen, ist das dann noc Ihre Stadt?

von Staden: Ja und nein. Nach einigen Tagen beginnt es mich zu bedrücken, daß ic jeden Stein kenne, aber praktisch keinen Menschen mehr. Die Deutschbalten
sind eben nich mehr da, und das waren ja die Verwandten und Bekannten, mit denen man vor allen Dinge Umgang hatte. Aber trotzdem ist die alte Hansestadt so schön, daß man sich immer wiede freut sie wiederzusehen.

Estland hat die beiden anderen baltischen Republiken in mancher Hinsicht überholt, vo allem wirtschaftlich. Woran liegt das? Ist es der Charakter der Esten oder die Nähe zu Finnland?

von Staden: Diese Frage ist sehr gut gestellt. Ich würde auch mit den Finnen anfange und es so formulieren: Man kann Brüder haben wie unsere Landsleute in den neuen Länder mit den "Wessis", den Westdeutschen. Aber man kann auch Vettern erstes Grade haben wie die Esten mit den Finnen. Die Brüder leisten mehr materielle Hilfe, aber si stülpen einem auch eine ganze Rechtsordnung über, und das macht die Sache manchma schwierig. Die Finnen oktroyieren den Esten nichts auf. Sie zahlen auch nicht viel sondern investieren. Und sie geben Rat. Die Esten fahren gut mit diesen Vettern.

Außerdem haben sie gegenüber den Letten den Vorteil, daß ihre Minderheitenproblem nicht ganz so gravierend sind. In Estland ist die russische Bevölkerungsgruppe in Ostwierland und in der Hauptstadt konzentriert, in Letttland lebt sie viel weite verstreut.

Die Litauer lehnen sich an Polen an, die Esten an Finnland und Skandinavien insgesamt Die Letten stehen, so scheint es mir, ein bißchen verloren in der Mitte da. Ich glaube hier liegt eine große Aufgabe gerade auch deutscher Politik, daß sie sich intensiv u Lettland kümmert.

Man redet sehr häufig vom Baltikum. Gibt es "das Baltikum" überhaupt?

von Staden: Historisch gibt es Gemeinsamkeiten zwischen Estland und Lettland aufgrun des jahrhundertelangen deutschen und protestantischen Einflusses. Litauen hat eine meh katholische Tradition, und die Prägung ging eher von Polen aus. Da sind also groß Unterschiede. Sprachlich ist bekanntlich das Estnische ein finno-ugrischer Dialekt, un Lettisch und Litauisch bilden die sogenannten baltischen Sprachen.

Dennoch handelt es sich natürlich um einen Raum, der zwischen den beiden Kriege zusammengeschweißt worden ist und natürlich durch das Schicksal der sowjetische Okkupation und Annexion.

Hier in Reval hört man auf der Straße eine ganze Menge Russisch. Welchen Eindruc haben Sie vom Zusammenleben von Esten und Russen in dieser Stadt, in diesem Land?

von Staden: Das Zusammenleben ist konfliktfrei im Sinne gewaltträchtige Auseinandersetzungen. Was sich in anderen Teilen Europas in schrecklicher Weis tagtäglich vollzieht, ist hier unbekannt. Andererseits ist mein Eindruck der, daß die Kommunikation zwischen den beiden Gemeinschaften, die direkten menschlichen Kontakt – etwa in Form von Heiraten über die ethnische Grenze hinweg – relativ schwac ausgeprägt sind. Beide Völker leben in Estland noch immer weitgehend nebeneinander her.

Was immer geschehen kann, um diesen Zustand zu bessern, sollte geschehen, denn die russische Bevölkerung im Lande geht nicht mehr weg.

Sehen Sie die Gefahr, daß Rußland dieses russische Minderheit politisc instrumentalisieren könnte?

von Staden: Da muß man vorsichtig sein, aber man darf auch nicht in Klischees denken Die bisherige russische Politik gegenüber dem Baltikum ist freilich nicht gerad vertrauenerweckend: Plötzlich werden die Zölle verdoppelt oder Tranist-Vergünstigunge aufgehoben. Es werden allerhand Mittel eingesetzt, um Druck auszuüben, mal mehr gege Lettland, dann wieder stärker gegen Estland.

Es ist keine wirklich konstruktive und kontinuierliche Politik zu beobachten Vielleicht ist ein Land, dessen innere Verhältnisse so sehr im Fluß sind, dazu auch ga nicht in der Lage.

Ob die Minderheit manipuliert werden kann, wird wesentlich davon abhängen, wie dies sich selbst fühlt. Sicherlich geht es ihr heute wirtschaftlich besser als den Verwandte in Rußland; und je mehr die Esten und Letten ihrerseits für die Integration tun – dazu gehört auch ein großzügiges Staatsangehörigkeitsrecht –, desto schwerer wir es jeder russischen Regierung fallen, die Minderheit zu instrumentalisieren.

Rußland bezeichnet das Baltikum als "nahes Ausland". Glauben Sie, daß e sich definitiv mit der Unabhängigkeit der drei Republiken abgefunden hat?

von Staden: Ja, das glaube ich. Jedenfalls solange wir nicht ein neues autoritäre Regime in Moskau bekommen und Rußland ein demokratischer Staat bleibt – freilic einer mit vielen Schwächen und Fehlern.

Fest steht aber auch, daß die Russische Föderation ein sehr naher Nachbar ist un immer bestrebt sein wird, Einfluß in diesem Raum auszuüben.

Das Gespräch wurde von Henning von Löwis in Reval geführt und in eine ausführlicheren Fassung im Deutschlandfunk gesendet.

Berndt von Staden kam 1919 als Sproß einer traditionsreichen baltendeutschen Famili zur Welt. Nach der Umsiedlung infolge des Molotow-Ribbentrop-Paktes und dem Zweite Weltkrieg ging er als studierter Jurist ab 1951 in den diplomatischen Dienst. Dort war e u. a. als Botschafter in den USA und unter Kanzler Helmut Schmidt als Staatssekretär in Außenministerium tätig. Vor kurzem erschien im Siedler-Verlag sein Buc "Erinnerungen aus der Vorzeit – Eine Jugend im Baltikum 1919-1939"
 
     
     
 
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