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Der rasende Masur

 
     
 
Ja, Freunde, der "rasende Masur" ist einstmals Wirklichkeit gewesen. Sogar mehrfach hat es ihn gegeben, womit jedoch keineswegs immer ein wütender oder gar Amok laufender Mensch gemeint war. Nein, so benamt wurde vielerorts auch eine Kleinbahn, wie sie auf so mancher Strecke im südlichen Ostdeutschland verkehrte. Wer sie je in Fahrt gesehen hat, der weiß, warum sie so hieß.

Solch "rasender Masur" bestand meist aus einer Lokomotive, die auf schmalem Gleis und mit beträchtlicher Dampf
entwicklung mit mäßiger Geschwindigkeit zwei oder drei Personenwagen von einem Ort zum anderen zog. Oft wurde noch ein Güterwaggon angehängt, in dem Kälberchen verladen werden konnten oder auch grunzende Ferkel und schnatternde Gänse. Hier nun soll erzählt werden von einer ganz speziellen Kleinbahn. Deren Schienenweg begann in Laykuhnen und führte über Sicheldorf, Groß-Marmeln, Grünort und Alt-Eichbronn bis zur Kreisstadt. Ihr Name tut nichts zur Sache, kann also ruhig verschwiegen werden. Und auch die anderen Orte, an denen der erwähnte "rasende Masur" haltmachte, sind sozusagen austauschbar und nur symbolisch zu verstehen. Denn die Geschichte könnte sich ebenso gut in der einen oder anderen Gegend jener Landschaft nahe der polnischen Grenze abgespielt haben.

Nehmen wir dennoch die Strecke, wie sie eben beschrieben wurde. Sie führte durch dichte Wälder, weite Kartoffel- und Roggenfelder, durch grüne Wiesen, auf denen Störche zuhauf standen, vorbei an blauspiegelnden Seen und schließlich durch jene Dörfer, die aufgezählt worden sind. Zweimal am Tag fuhr die Kleinbahn hin und zweimal auch wieder zurück. Dafür sorgte der Lokomotivführer Walter Kalwitzki, der auch die Kohlen in die Heizung zu schaufeln hatte. Er tat dies mit Stolz und einem ständig rußverschmierten Gesicht.

Daß auch sonst alles in Ordnung ging, dafür sorgte Ernstchen Lojak, Schaffner und Zugbegleiter im "rasenden Masur". Er trug eine blaue Uniform samt roter Dienstmütze und hatte es gern, wenn er mit "Herr Kondukteur" angeredet wurde. Zu seinen Pflichten gehörte das Knipsen der Fahrkarten. Auch war er gehalten, den Fahrgästen beim Verladen des "lebenden" Gepäcks beizustehen, was er allerdings mit seiner Amtswürde nicht vereinbaren konnte und deshalb nur ungern tat. Desgleichen ärgerte es ihn gewaltig, daß er ständig eine Peitsche mit doppelt geflochtener Schnur mitführen mußte. Und das hatte folgende Bewandtnis: Immer wieder ereignete es sich, daß die Bahn stoppen mußte, weil eine Kuh oder ein Ochse zwischen den Gleisen stand und die dort anscheinend besonders leckeren Kräuter rupfte. Dann aber hatte der Herr Kondukteur auszusteigen und das störrische Rindvieh mit knallenden Peitschenhieben zu vertreiben.

Auch dies erzählte man sich von dem Kleinbahnschaffner Ernstchen Lojak: Zwischen Groß-Warmeln und Grünort gab es neben den Schienen eine ausgedehnte, besonders üppig grü- nende Wiese mit weißen Margeriten, mit rotem Klatschmohn und mit blauen Kornblumen. Hier holte er sich des öfteren ein Sträußchen, das er seiner Braut und späteren Ehefrau mitbrachte. Zu diesem Zweck sprang er aus dem vordersten Abteil, pflückte rasch die bunten Blumen und sprang am Ende des Zuges wieder auf. Walter Kalwitzki, der Lokomotivführer, wußte natürlich Bescheid und drosselte so lange das Tempo.

Manchmal versuchte ein vorwitziger Fahrgast, dieses Kunststück nachzuahmen. Dann konnte es passieren, daß die Bahn plötzlich schneller wurde und mit einem höhnisch klingenden Pfiff der Lokomotive davonrauschte. So mancher hat dann mit bedröppelter Miene hinterherschauen müssen, in der Hand den frisch gepflückten Blumenbusch. Doch das geschah nur, wenn die beiden Bahnbediensteten einmal mit dem linken Bein zuerst aufgestanden waren. Und auch dann blieb der "rasende Masur" wenig später stehen und wartete auf den schnaufend hinterhereilenden Fahrgast.

Bei solchem Gewese wird es niemand verwundern, daß die von Walter Kalwitzki und Ernstchen Lojak betreute Kleinbahn in ihren Ankunfts- wie Abfahrtszeiten auf jeder Station eine gewisse Variationsbreite in Anspruch zu nehmen gezwungen war. Was heißen soll, sie verspätete sich mit schöner Regelmäßigkeit, mal hier um zwanzig Minuten, mal dort um ein gutes halbes Stündchen. Selbst wesentlich längere Wartezeiten mußten des öfteren in Kauf genommen werden.

Doch das störte die Bevölkerung der davon betroffenen masurischen Dörfer nicht sonderlich. Man faßte sich einfach in Geduld, bis man am Horizont die Rauchfahne entdeckte, die von der Lokomotive in den blauen Himmel geblasen wurde, und das Züglein schnaufend und ruckelnd in den Bahnhof einfuhr. In aller Gemütsruhe wurde dann das Gepäck verladen und der Viehwagen mit lebendem Inhalt gefüllt. Ebenso gemächlich nahm man darauf in einem der Abteile Platz. Schließlich war jedermann sicher, daß ihn der "rasende Masur" irgendwann doch an sein Ziel bringen würde.

Es hat deshalb - auf Ehre - nie eine Beschwerde wegen Unpünktlichkeit gegeben. Auch nicht von August Tautorat, einem rührigen Kramladenbesitzer aus Groß-Marmeln. Dieser August Tautorat fuhr jeden Donnerstag mit besagter Kleinbahn in die Kreisstadt. Dort pflegte er in der Großhandlung Baltruschat und Körner den Wochenbedarf für sein Geschäftchen einzukaufen, vom Salzhering über die Vierfruchtmarmelade bis zum Hosenträger. All dies wurde anschließend vom "rasenden Masur" nach Groß Marmeln befördert.

Der Kaufmann Tautorat hätte wohl allen Grund gehabt, sich über die Unpünktlichkeit der Kleinbahn zu entrüsten. Doch er tat es nicht, ertrug vielmehr jede Verspätung mit stoischer Geduld. Was wohl daran lag, daß er dies im täglichen Umgang mit seiner Dorfkundschaft auch tun mußte. Außerdem waren sowohl der Lokomotivführer Kalwitzki wie der Schaffner Lojak im Laufe der wöchentlichen Fahrten zu guten Bekannten geworden, denen er keine Molesten bereiten mochte.

Nun aber, Freunde, geschah folgendes: Eines Donnerstagmorgens stand der Ladenbesitzer erneut auf dem Bahnhof in Groß-Marmeln und harrte auf den Zug, der ihn in die Stadt bringen sollte. Wie üblich wappnete sich August Tautorat mit Geduld und sah voller Gleichmut einer längeren Wartezeit entgegen. Doch zu seinem Erstaunen hörte er alsbald die Bahn aus Richtung Sicheldorf heranrollen und ohne weitere Verzögerung in die Station einfahren.

Dem verblüfften Kaufmann blieb gerade noch Zeit genug, um seine Taschenuhr hervorzuholen und festzustellen, daß etwas geschehen war, was er bisher noch nie erlebt hatte: Der "rasende Masur" war auf die Sekunde pünktlich! Ungläubig musterte er nochmals seinen Chronometer, doch er hatte sich nicht geirrt, es war tatsächlich genau zwanzig Minuten nach sieben. Und exakt dieser Zeitpunkt stand als Ankunftstermin in Groß-Marmeln fest. Nur wenig später rollte der Zug weiter, so wie es der amtliche Fahrplan verlangte.

Der Kramladenbesitzer erholte sich nur allmählich von diesem überraschenden Ereignis. Doch dann überkam ihn eine Art von Glücksgefühl, welches er unbedingt mit jemand teilen wollte. Und wer wäre dafür geeigneter gewesen als der Schaffner und Zugbegleiter Lojak? Der betrat gerade in Erfüllung seiner dienstlichen Pflichten das Abteil, in dem August Tautorat Platz genommen hatte, und sprach diese Worte: "Die Fahrkarten, bitte sehr."

Jeder Insasse reichte ihm das verlangte Billett. Auch August Tautorat tat dies, als die Reihe an ihn kam. Allerdings bot er daneben eine gerade nicht billig aussehende und aromatisch duftende Zigarre von beträchtlicher Länge an. "Für erwiesene Pünktlichkeit", erklärte er lakonisch die noble Geste. Der Herr Kondukteur nahm die Zigarre, beschnupperte sie genießerisch von allen Seiten und meinte dann: "Das ist etwas besonders Gutes, hat sicher einiges gekostet." Der Kaufmann aus Groß-Marmeln nickte: "Drei Dittchen hab ich bezahlt dafür. Großhandelspreise natürlich." Ernstchen Lojak schluckte vernehm- lich. Dann gab er die Zigarre an den großzügigen Spender zurück und sagte mit vor Bedauern zitternder Stimme: "Das, August Tautorat, kann ich nicht annehmen." - "Aber Mannchen", staunte der Kolonialwarenhändler, "warum denn nicht? Ist doch keine Beamtenbestechung. Ist nur kleines Dankeschön wegen heutiger Pünktlichkeit." - "Das ist es ja eben", kam es zurück, wobei der Schaffner der Zigarre einen wehmutsvollen Blick nachwarf. "Das ist es ja eben." August Tautorat zuckte die Achseln. "Das, Mannchen, verstehe ich nicht." Und aus dem Abteil kam zustimmendes Murmeln.

Ernstchen Lojak, der Herr Kondukteur der Kleinbahn, die man den "rasenden Masur" nannte, sah ausgesprochen unglücklich drein. Dann ermannte er sich und sagte: "Du kennst mich, August Tautorat, schon lange und weißt, daß ich bin ein wahrheitsliebender Mensch. Und deshalb, weil es hier geht um Pünktlichkeit, muß ich zugeben: Das ist nicht der Zug von heute früh. Das ist der Zug von gestern abend
 
     
     
 
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