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Die Leiden Christi am Bosporus

 
     
 
Seit dem Gipfel der Europäischen Union in Helsinki in der vorletzten Woche ist die Türkei Beitrittskandidat der EU. Hatte der ehemalig türkische Ministerpräsident Yilmaz die Europäische Union noch vor zwei Jahre "Christenclub" gescholten, so kann die Union nun zukünftig genauer auf die Situation der Christen in dessen Heimat schauen. Die EU wird sich dabei nicht mehr de Vorwurf aussetzen, nach einem Vorwand, die Türkei ausschließen zu wollen, zu suchen Noch kurz vor der Entscheidung von Helsinki kam es in der Türkei zu Zwischenfällen, die die schwierige Situation der Christen in dem Land offenlegen: Der türkisch
e Staa beschlagnahmte wenige Tage vor dem Gipfel das Eigentum der armenisch-orthodoxen Kirch Surp Kirkor Lusavoric in Kirikhan, einer Stadt unweit der Grenze zu Syrien. Nac türkischem Recht dürfen christliche Religionsgemeinschaften kein Eigentum besitzen, d sie nicht als Körperschaften anerkannt sind. So sind kirchliche Einrichtungen wie Gottes und Pfarrhäuser oder Altersheime in privatem Besitz oder werden durch Stiftunge getragen. Werden Gebäude nicht mehr genutzt, weil die Gemeindeangehörigen beispielsweis vor Übergriffen ins Ausland geflüchtet sind, so konfisziert der Staat diese. Sie werde zu Märkten oder Freizeiteinrichtungen wie Kinos und Billardhallen umgebaut. Die Verwaltung der südosttürkischen Stadt Diyarbakir enteignete im Frühjahr 1997 soga einen Friedhof armenischer Christen.

Im September und im Oktober kam es zu Verhaftungen von evangelischen Christen, darunte auch eine Familie aus der Schweiz. Die Polizei nahm die rund dreißig Gläubigen währen eines Gottesdienstes fest. Ermittler der Terrorabteilung der Sicherheitspolizei verhörte sie und warfen ihnen dabei vor, eine illegale Kirche zu betreiben.

Alle christlichen Konfessionen haben in der Türkei einen relativ schwachen rechtliche und einen schwierigen gesellschaftlichen Status. Seit dem 9. April 1928 ist das Lan laizistisch. Damals verlor der Islam durch eine Änderung des Artikels zwei der Verfassun seinen Rang als Staatsreligion. Durch Artikel zehn wurden die Angehörigen alle nichtislamischen Religionen ebenbürtige Staatsbürger mit denselbe Rechten  und Pflichten.  Kaum ein Staat hat Angehörige so viele verschiedener christlichen Konfessionen unter seinen Bürgern wie die Türkei. Nach de Vertrag von Lausanne 1923 werden drei nichtmuslimische Minderheiten in der Türke geschützt: Juden, Griechen und Armenier. Die türkische Verfassung kennt aber an sic keine Minoritäten. Nach dem kemalistischen Nationenkonzept, benannt nach de Staatsgründer Mustafa Kemal Pascha, ist jeder türkische Staatsbürger Türke, egal ob e überhaupt türkisch spricht. Aus dem strengen Staatsnationenbegriff ergeben sich für die Christen in der Türkei bisweilen erhebliche Einschränkungen ihrer Religionsfreiheit. Die Verbreitung der Bibel steht ebenso unter Strafe wie der Neubau von Kirchen. Seit de osmanischen Zeit dürfen generell Kirchen nur mit einer besonderen Genehmigung renovier werden. So sind die bestehenden Gotteshäuser oft vom Zerfall bedroht, oder sie werden wie in Kirikhan, beschlagnahmt.

Die Weitergabe des christlichen Glaubens an die eigenen Nachfahren ist ebenfall eingeschränkt. Von den religiösen Minderheiten dürfen nur Armenier, Griechen und Jude ihre Kinder ihrer jeweiligen Religion oder Konfession entsprechend an eigenen private Schulen unterweisen. Den syrisch-orthodoxen Christen, den mit Rom unierten chaldäische Christen, den syrischen Katholiken und den syrisch-evangelischen Gemeinden bleiben seh viel mehr Freiheiten versagt, da sie nicht zu den im Lausanner Vertrag von 1923 erwähnte Minderheiten zählen. Die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM) in Frankfurt am Main fordert deswegen "freie Gottesdienst- und Kultausübung un Möglichkeit der Religionsausübung für alle Christen". Die syrischen Christe dürfen keine eigenen Schulen haben, sie dürfen nicht einmal ihre Sprache, ein Dialek des Aramäischen, die Sprache Jesu, in den staatlichen Schulen benutzen. So sind sie wei davon entfernt, dort ihre Muttersprache oder Religion im Unterrichtsangebot zu finden. D sie ja keine eigenen privaten Schulen führen dürfen, blieb ihnen bisher nur de Unterricht in Klöstern Südanatoliens, so im Kloster Mar Gabriel und im Kloste Deir-es-Safaran. Beide liegen im Gebiet des Tur Abdin, was übersetzt "Berg de Gottesknechte" heißt.

Die Gegend ist das angestammte Gebiet der syrischen Christen. Die Klöster nehmen auc Flüchtlinge auf und führen Internate. Offiziell hat der zuständige Gouverneur verboten dort Unterricht zu erteilen oder Gäste aufzunehmen.

Die Angehörigen der verschiedenen syrischen Konfessionen bezeichnen sich vielfach als assyrische Christen. Sie betrachten sich als Volksgruppe. Dieses Selbstverständnis ha auch eine politische Dimension: Die assyrischen Christen fordern nicht nu Religionsfreiheit, sondern auch Volksgruppenrechte. Sie betrachten sich seit Beginn eine nationalen Renaissance-Bewegung im 19. Jahrhundert als Nachfahren der Assyrer aus de alten Mesopotamien. Viele syrisch-orthodoxe Christen begreifen sich aber als Angehörig einer übernationalen Religionsgemeinschaft: Die syrisch-orthodoxe Kirche, die sich in fünften Jahrhundert von der byzantinischen abgespalten hat, erstreckte sich einst bi nach Indien und China.

Die Christen in der Türkei sind nicht nur durch rechtliche Bestimmungen in ihre Handlungen eingeschränkt. Auch behördliche Einmischung, wie die des Gouverneurs im Tu Abdin, beschneidet ihre religiösen Freiheiten. So war es auch bei der Wahl des neue Patriarchen der armenisch-apostolischen Kirche. Der Vorgänger des amtierenden Mesro Mutafyan war im März 1998 gestorben. Der Gouverneur von Istanbul und sein Stellvertrete zögerten jedoch die Genehmigung zur Wahl seines Nachfolgers bis Oktober desselben Jahre hinaus.

Die Auseinandersetzung zwischen Staat und Kirche entbrannte über die Wahl Mesrobs als kommissarischen Patriarchen. Der 43jährige Geistliche gilt als dynamisch un intellektuell. Der stellvertretende Gouverneur bevorzugte jedoch einen wesentlic älteren, den über siebzigjährigen Erzbischof Sivaciyan, der auch für das Am kandidiert hatte. Er sandte ein Schreiben Mutafyans, das dieser als "kommissarische Patriarch" unterzeichnet hatte, zurück. Nach dem Senioritätsprinzip, s argumentierte er, stünde Sivaciyan der Titel zu. Im armenischen Kirchenrecht gibt es nac Ansicht von Experten jedoch keine Grundlage für diese Praxis. Der stellvertretend Gouverneur drohte darüber hinaus mit einer Gefängnisstrafe, wenn sich Mutafyan weiterhi als "kommissarischer Patriarch" bezeichne. Als Sivaciyan seine Kandidatu zurückzog, gab er endlich nach. Die Maßregelung des Gouvernements verstieß jedoch gege den Lausanner Vertrag, der die Wahl des Patriarchen durch Delegierte der Armenie garantiert. Zugleich setzte sich der stellvertretende Gouverneur über da Laizismusprinzip hinweg, nach dem der Staat gegenüber den Religionsgemeinschaften neutra bleiben sollte. Ein anderes kemalistisches Prinzip dominiert in der heutigen Türke jedoch diesen Grundsatz: das Nationenkonzept, das die nationale und kulturell Homogenität vorschreibt. Die Eigenständigkeit der Christen, die nunmehr nur 0,3 Prozen im Land ausmachen, stellt dieses Prinzip in Frage.

Die Christen in der Türkei müssen nicht nur den Staat fürchten. Vielmehr werden si zuweilen Opfer von Fanatikern, vor denen sie nicht ausreichend Schutz finden. So ist de Amtssitz des griechisch-orthodoxen Patriarchen in den vergangenen fünf Jahren insgesam schon dreimal Ziel von Anschlägen gewesen. Im Dezember vor zwei Jahren explodierte in Garten des Bischofssitzes eine Splitterbombe. Die Explosion verletzte einen Mitarbeiter des Patriarchats. Seit 1993 häufen sich zudem die Gewaltakte gegen die Armenier, die größte christliche Gemeinschaft in der Türkei. Geistige Brandstifter in den türkische Medien hetzten die Bevölkerung gegen sie auf.

Zwei Anschläge wurden auch auf das armenisch-apostolische Patriarchat in Istanbul-Kumkapi verübt. Unter allen Christen in der Türkei haben es die in Südostanatolien besonders schwer. Viele sind in den vergangenen Jahrzehnten geflüchtet In den sechziger Jahren lebten dort noch siebzigtausend Christen, derzeit sind es nunmeh weniger als dreitausend. Die Gläubigen werden in dieser Gegend bei den Kämpfen zwische türkischem Militär und kurdischen Terroristen aufgerieben. Seit 1984 befindet sich da Gebiet im Ausnahmezustand. Zudem verfolgt sie die Hesb Allah, die selbsternannte Parte Gottes. Sie wollen die "Ungläubigen" aus dem Südosten der Türkei entfernen Sie versuchen, die Christen mit offenen Drohungen und öffentlichen Beleidigungen zu vertreiben, oder sie bringen sie um. Der EU-Beitrittskandidat Türkei ist nun gefordert seine Brandherde zu löschen und europäische Zustände herzustellen.


 
     
     
 
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