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Die polnische Karte

 
     
 
Am 26. Januar vor 70 Jahren wurde der deutsch-polnische Nichtangriffspakt unterzeichnet. Dieser Vertrag zwischen Hitler-Deutschland und Pilsudski-Polen gibt Gelegenheit, sich genauer mit der folgenschweren Politik der NS-Führung gegenüber dem östlichen Nachbarn zu beschäftigen. Anders als man im Rückblick vielleicht erwarten könnte, liefen die deutsch-polnischen Beziehungen in den dreißiger Jahren keineswegs zwangsläufig auf den am 1. September 1939 von Berlin begonnenen Krieg hinaus. Denn während alle Regierungen der Weimarer Republik
- ganz gleich ob sozialdemokratisch oder konservativ geprägt - eine von der Öffentlichkeit unterstützte anti-polnische Außenpolitik vertraten und auch zu diesem Zweck das Bündnis mit der Sowjetunion suchten, vollzog Hitler zunächst eine Wende. Er beendete weitgehend die in Rapallo manifestierten Sonderbeziehungen zum Sowjetreich und umwarb die polnische Führung in Gestalt des von ihm verehrten Józef Pilsudski. Der tendenziell deutschfreundliche Marschall, der 1926 durch einen Putsch die Macht in Warschau übernommen hatte, zeigte sich entgegenkommend. Als erster Minister des Deutschen Reiches nach dem Ende des Ersten Weltkrieges fuhr Propagandaminister Goebbels im Januar 1934 in die polnische Hauptstadt. Dort traf er anläßlich der Unterzeichnung des Nichtangriffspaktes mit Pilsudski zusammen. Der Bündnisvertrag beinhaltete bei einer Gültigkeit von zehn Jahren ein gegenseitiges Versprechen auf Gewaltverzicht. Im Februar wurde er um eine Presservereinbarung ergänzt, die die haßerfüllte Grundstimmung in den Medien beider Länder beseitigen sollte. Später kam noch die Einrichtung deutsch-polnischer Kulturinstitute in Warschau und Berlin hinzu. 

Dies alles spiegelte die Ansicht Hitlers wie Pilsudskis wider, daß beide Staaten starke gemeinsame Interessen verbanden. In erster Linie war dies die mit tiefsitzenden Ängsten verbundene Feindschaft gegenüber der Sowjetunion und der Ideologie des Kommunismus sowie der beiderseits vertretene Antisemitismus. Polen hatte den Ansturm der roten Truppen mit dem "Wunder an der Weichsel" von 1920 nur mit größter Mühe abwehren können, um dann seinerseits das eigene Territorium weit gen Osten vorzuschieben. Auch das nach dem verlorenen Krieg in seinen Grundfesten erschütterte Deutschland vermochte eine kommunistische Machtübernahme wohl nur dank der Freikorps zu verhindern. Das Trauma des Versailler Vertrages und der mit diesem verbundenen Gebietsverluste an Polen (Ostoberschlesien, Westpreußen, Posen) stand allerdings einer auch von den breiten Bevölkerungsschichten mitgetragenen Aussöhnung entgegen. Ebenso die in milderer Form selbst unter Pilsudski fortgeführte rigorose Verdrängungspolitik der Deutschen aus dem polnischen Staat. 

Rund eine Million Deutsche verließ in der Zwischenkriegszeit angesichts massiver Benachteiligungen die westpreußische Heimat. In der Stadt Posen war der deutsche Anteil von 42 Prozent im Jahr 1910 auf nur noch zwei Prozent (!) im Jahr 1931 gesunken. Dessenungeachtet entwickelte sich das zwischenstaatliche Verhältnis nach der Unterzeichnung des Nichtangriffspaktes zunächst gut. Reichsinnenminister Göring reiste mehrfach nach Polen, um dort gemeinsam mit führenden Politikern auf die Jagd zu gehen. An den Beisetzungsfeierlichkeiten für den 1935 verstorbenen Pilsudski nahm er ebenfalls persönlich teil. Im November 1937 gaben Berlin und Warschau eine Erklärung zum Minderheitenschutz heraus, die den Status der deutschen Volksgruppe in Polen bzw. den der polnischen in Deutschland sichern sollte. Im März 1938 erzwang Warschau mit Duldung Berlins die Anerkennung der bereits 1920 vollzogenen Annexion des Wilna-Gebiets, die Litauen bis dato strikt abgelehnt hatte. Auch beim Münchner Abkommen gehörte Polen zu den diplomatischen "Siegern", indem es das Industriegebiet des Teschener Schlesien zugesprochen bekam. Heinrich Schwendemann und Wolfgang Dietsche betonen in ihrem lesenswerten Buch "Hitlers Schloß. Die ‚Führerresidenz in Posen" (Berlin 2003; s.22/03), daß der nationalsozialistischen Polenpolitik keine vorrangig taktischen Erwägungen zugrunde lagen, wie dies die meisten Historiker behaupten. Tatsächlich habe das Deutsche Reich den Nachbarn bis ins Frühjahr 1939 hinein aus grundsätzlichen Erwägungen heraus "umworben". Hitler wollte Polen, so die Interpretation von Schwendemann und Dietsche, für einen Lebensraumkrieg gegen die "jüdisch-bolschewistische" Sowjetunion gewinnen. Göring unterbreitete als Sonderemissär einen entsprechenden Vorschlag und stellte Teile der Ukraine als Beute in Aussicht. Die verbliebenen Territorialstreitigkeiten wollte die NS-Führung mit einem aus ihrer Sicht gemäßigten Kompromiß ausräumen. Demnach hätte das fast rein deutsche Danzig ans Reich angegliedert und zusammen mit Ostdeutschland über eine exterritoriale Verkehrstrasse durch den "Korridor" mit dem übrigen Staatsgebiet verbunden werden sollen. Auf Westpreußen, Ostoberschlesien und Posen wollte Berlin angeblich endgültig verzichten. 

Man kann auch hier von taktischem Verhalten ausgehen. Demzufolge hätte das slawische und damit "minderwertige" Polen solange instrumentalisiert werden sollen, wie es den "Europäischen Bürgerkrieg" (Nolte) gegen den Bolschewismus mittrug. Als Warschau jedoch nicht "mitspielen" wollte und mit Rücksicht auf die antideutsch eingestellte öffentliche Meinung und auf eigene Großmachtträume jegliche Grenzveränderungen ablehnte, folgten die Kündigung des Nichtangriffspaktes am 28. Aril 1939 sowie der deutsche Angriff am 1. September. In der Retrospektive erscheint diese Logik fast zwingend. Man mag deshalb Golo Mann recht geben, wenn er schreibt: "Polen hatte sich 1919 im Westen wie im Osten größer gemacht, als es hätte sein sollen (...). Wäre es aber bescheidener aufgetreten, so hätte ihm das später auch nichts geholfen. Der Schwäche (...) Rußlands und Deutschlands verdankte es sein staatliches Dasein. Darum mußte es wohl oder übel so tun, als hätte seit 1919 sich nichts geändert, und tapfer auf dem Schein seines damals erworbenen Rechts bestehen - oder abdanken." Doch es bleibt die Vermutung, daß Antikommunismus und Antisemitismus als Triebfedern der NS-Politik für längere Zeit hätten wichtiger sein können als die tradierte Polenfeindschaft inklusive restlicher Gebietsforderungen. - Hier besteht noch viel Forschungsbedarf. 

Warschau im April 1935: Beisetzung Józef Pilsudskis (2. v. l. Göring)
 
     
     
 
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