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Ein wirklich ungleiches Paar

 
     
 
Beide fielen der Gruppe, die auf den Beginn der Führung wartete, sofort ins Auge. Jeder für sich hätte schon Aufmerksamkeit erregt. Als Paar wirkten sie durch Kontrast. Ich war bereits beim Betreten des Stiftvorhofes auf ihn gestoßen. Den Eingang des in Niederösterreich, hoch über dem Kamptal gelegenen, ursprünglich gotischen, später barocken Benediktinerstifts flankieren Sphinx-Skulpturen. Selbstverständlich in klassischer
Darstellung, halb Frau, halb Raubkatze. "Gottlob, herumschleichen können sie nicht", hörte ich eine Männerstimme murmeln. Da hatte ich mich umgewandt. Er war groß, schlaksig; bekleidet mit einem jener unauffälligen Kollektivmäntel aus dem Hause Burberrys oder Chester Barrie. Er hastete durch den Hof der Gruppe zu.

Plötzlich stockte er. Eine physische Reaktion mußte ihm zu schaffen machen. Ursache war ein himmelblaues Kleid. Rotes Haar umflammte das Gesicht der Trägerin. Allenfalls reichte sie ihm bis zur Brust. Es ergab sich, daß sie zusammen vor den Ansichtskartenstand gerieten. Sie kaufte fünf Karten Hochaltar, er die Krypta mit der entnervenden, grotesken Malerei. Das heißt, im Grunde kaufte er gar nichts. Die Karten wurden ihm zu guter Letzt von der Verkäuferin in die Hand gedrückt. Er zahlte. Beim Weggehen stießen sie aneinander. Beide verharrten wie angewurzelt. Aller Wahrscheinlichkeit nach begann jener Prozeß, der gemeinhin Liebe genannt wird.

Wie von ungefähr blieben sie während der Führung zusammen. Wie von ungefähr geriet ich immer wieder in ihre Nähe. Es stellte sich heraus, daß er ein wenig über den sspitzen Sstein sstolperte; sie war Bayerin.

Über die "Kaiserstiege" ging es in die Prälatur, durch Festsäle, durch Gemächer, deren Stuckornamentik ein glitzerndes Sternengeriesel bildete. Es funkelte buchstäblich alles in dieser "Schatzkammer" des Stifts: Sonnenmonstranz und Kruzifix; Meßkelche, Weihrauchfaß und Weihwasserkessel, Ziborium und Aspergill.

"Was ist das?", fragte er.

"Aspergill? - Der Weihwedel", flüsterte sie ihm zu. Mißtrauischer konnte sein Blick wahrlich nicht werden.

Der junge Fremdenführer steckte in einem mausgrauen Anzug. Trotzdem glich er einem in weltliche Kleidung geschlüpften Ordensbruder. Mit spürbarer Bewegtheit berichtete er von der Entstehung des Stifts. Da hatte also 1144 die "nobilissima domina" Gräfin Hildburg von Bouige hier in Altenburg einen Klosterbau errichten lassen mit dem insgeheimen Ziel, ihrem toten Gatten das jenseitige Seelenheil zu sichern. Stete Gebete der Mönche sollten dazu beitragen.

"Hilft das denn?", wollte das Nordlicht wissen. Das Flammenhaargeschöpf erschrak sichtlich, blickte in die Runde. Niemand schien die Frage gehört zu haben.

Der Führer wies auf ein schmales Bild, das die dem Himmel entgegenstrebende Maria zeigte. Mit dem Bild hätte es eine besondere Bewandtnis, erläuterte er. Eines Tages sei eine alte Dame im Stift aufgetaucht, habe den Brüdern ein Blatt unter die Nase gehalten und erklärt, es sei lange genug im Besitz ihrer Familie gewesen; für die Zukunft böte das Kloster den geeigneteren Aufenthaltsort. Fast fielen den Brüdern die Augen aus dem Kopf. Was sie sahen, war Paul Trogers Originalskizze des Hochaltargemäldes ihrer Stiftskirche.

"Ist sie denn wenigstens anständig für die Gabe bezahlt worden?"

Das war nun nicht zu überhören. Einige kicherten. Die Rothaarige errötete. Vielleicht begann sie zu ahnen, daß Bayern und Norddeutschland mehr trennt als der vielgewundene Main.

Es ging Marmortreppen hinauf, Marmortreppen hinunter. Im weißschimmernden Gewölbe hielt Caritas, Verkörperung der hilfeleistenden Liebe, das flammende Herz in der Hand. Die Stimme des Führers veränderte sich. Sie klang spröde. Die Zuhörer erfuhren, daß "nach dem Einmarsch der siegreichen Roten Armee in Österreich das Stift Kaserne für 2.000 Russen wurde". Von Juli 1945 bis Mai 1946 hatten in diesem Raum Schießübungen stattgefunden. Es wurde in den Marmor, in den Stuck geschossen. Die Bibliothek diente als Pferdestall; Bücher und Handschriften, unersetzliche Werte, wurden verheizt. Ebenso die Originalmöbel, Edelholzeinbauten. Caritas überlebte das Massaker, weil sie noch rechtzeitig eingemauert worden war. "Meine Damen und Herren, ich spreche eine persönliche Meinung aus: Menschen mit Kultur führen sich anders auf." Sämtlich Anwesenden schwiegen. Ich hielt den Atem an. Es konnte nicht ausbleiben, daß ... Und es blieb nicht aus.

"Was haben denn Soldaten mit Kultur zu tun? Sie sstehen nicht dafür!"

Ich blickte zu ihr hinüber. Mit zahlreichen anderen drängte sie zur Tür. Sekundenlang blieb der schlaksige Blonde zurück. Bestürzung malte sich auf seinem Gesicht. Es ist nicht von der Hand zu weisen, daß seine Äußerung, rein sachlich gesehen, durchaus akzeptabel war. Doch mangelte ihm offensichtlich die Befähigung, in bestimmten Situationen Kopf und Herz in einem Gedankengang zu vereinigen. Nun stand er allein.

Er holte sein Idol in der Kirche wieder ein. Sie tauchte die Finger ins Weihwasser, machte das Kreuzzeichen. Zweifellos geschah es provokativ. Betroffen beobachtete er sie. "Sind Sie katholisch?", fragte er überflüssigerweise.

"Selbstverständlich", zischte sie.

Dieser Unglücksrabe! In Wahrheit war er ein Unschuldslamm! Er sagte tatsächlich: "Sie sprechen fast wie ich!"

Ich sank ins Gestühl. Über mir blaute die Kuppel. Paul Troger hatte alle in ihr versammelt: Gottvater und Immaculata, jubilierende Engelscharen, durcheinanderpurzelnde Putti und - unübersehbar - einen schnaubenden Drachen, der ein weibliches Himmelswesen verfolgte. Ein Blick überzeugte mich, daß Norddeutschland und Bayern einträchtig nebeneinander saßen, gemeinsam aufstanden und friedfertig der Gruppe zur Krypta folgten.

Wer "groteske Malerei" einmal gesehen hat, weiß was ihn erwartet. Die Antike schätzte ihren Wahnsinnszauber; spätere Zeitalter ebenfalls. Die Altenburgsche Krypta zwingt den Stabilsten in die Knie. Phantastisch verformte Pflanzen winden sich über Wände, Decken, überrieseln jede Mauernische. Girlanden aus Vogelbeeren, Birnen, schwarzen Trauben umrahmen ein verwesendes Gesicht. Langhälsige Vögel speien Wasser. Nachtmahre schweben heran. Dickmäulige Fische stützen Riesenmuscheln. Aus den Muscheln schießen Fontänen empor. Auf den Wasserstrahlen schwebt eine Schöne, tanzt der Tod. Wohin man schaut, überall biegen, verrenken sich die Gerippe, verzerren sich in Tanzekstase. Dort spannt der Knochenmann den Bogen. Von Pfeilen getroffen, sterben zu seinen Füßen zwei Kinder. Früchte und Blüten sinken hernieder ...

Sie schwankte zwischen Entsetzen und Empörung. Die Empörung gewann Oberhand. "Es ist unappetitlich, widerwärtig! Es ist anstößig."

Es wurde klar, daß sie und ihn Äonen schieden. Entgeistert starrte er sie an. "Anstößig? Wieso? Warum? Rundum blüht es. Wasser ssprudeln! Da ssteckt Lebenslust drin, Freude und Humor! Die Gerippe sstören nicht. Gehören ja wohl zum Leben."

Sie stürzte hinaus, rannte die Treppe hoch. Ohne zu zögern stürmte er ihr nach. Allmählich leerte sich die Krypta. Die Führung war beendet. Im Hof sah ich die beiden noch einmal. Er redete auf das Rothaargeschöpf ein. Wenn ich es recht überlege, äugten die mythischen Ungeheuer listig-verhalten zu dem außerordentlich attraktiven Paar hinüber.

 

Ulrich Nagel schuf dieses Motiv von einem Fischerdorf auf der Nehrung. Es ist als Titelblatt und auch als Blatt für den Monat August im neuen Kalender "Ostdeutschland und seine Maler" enthalten. Für das Jahr 2005 wurden wieder bekannte und weniger bekannte Künstler gefunden, die mit einem typischen Werk in diesem Kalender vertreten sind: Ernst Bischoff-Culm, Richard Birnstengel, Karl Storch d. Ä. oder Hans Kallmeyer, um nur einige zu nennen. Leser der Freiheits-Depesche können auch dieses Mal wieder den beliebten Begleiter durch das Jahr zu einem besonderen Preis erwerben. Bis zum 30. September gilt der Subskriptionspreis von 18,50 Euro einschließlich Versandkosten (im Buchhandel später 20,50 Euro). Bestellungen bitte direkt an den Schwarze Kunstverlag, Richard-Strauss-Allee 35, 42289 Wuppertal, Fax (02 02) 6 36 31.

 
     
     
 
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