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Freier Fall Von Peter Fischer

 
     
 
Im nördlichen Ostdeutschland, das ja völkerrechtswidrig immer noch unter russischer Verwaltung steht, schlug der Rubelverfall mit aller Härte durch. Lebensmittelhändler zogen die Preise gleich um 60 Prozent hoch – Ausfluß der Moskauer Mißwirtschaft und Symbol für die Fortdauer des Martyriums des russischen Volkes wenige Wochen vor dem großen Kälteeinbruch mit Hunger, Not und Tod. In Rußland schlagen nunmehr machtvoll Versäumnisse der Vergangenheit durch, die dem immer noch an Fläche größten und an Bodenschätze
n reichsten Land dieser Erde im Zustand von einer Art von "Obervolta mit Atomwaffen" (Altkanzler Schmidt) verharren lassen. Dabei war die Notwendigkeit hier keineswegs am Werke – die Entscheidung, den blutigen Bolschewismus administrativ zu überwinden, mußte nicht zwangsläufig an der kurzen Leine des Weltwährungsfonds enden.

Doch Moskaus werkelnde Neuelite improvisierte, wo es um die Belange des Volkes ging, reagierte, wo es um die private Schatulle ging. Ein Beispiel: Die Lebensmittelverteuerung ist nicht Ausfluß von Profitgier gewiefter Händler, sondern Folge kurzsichtiger Moskauer Entschlüsse: 60 Prozent der Lebensmittel, die in Rußland verkauft werden, stammen aus dem vergleichsweise teuer produzierenden Ausland, die nun angesichts des rasanten Rubelverfalls nicht billiger verkauft werden können.

Die Folgewirkung steht symptomatisch für die russische Landwirtschaft. Prunkstück zur Zarenzeit (Schlagwort: Ukraine – Kornkammer Europas), ist sie nach 1991 nie ernsthaft in den Mittelpunkt politischer Überlegungen gestellt worden. Getreide aus Kanada und USA bestimmen Rußlands Markt und geben zugleich sinnige Hinweise über die Moskauer Abstinenz. Dabei wäre es Aufgabe Nummero Eins gewesen, die "Wasserköpfe" Rußlands, Moskau und St. Petersburg, beide mit agrarisch relativ leicht zu bewirtschaftenden Gebieten umgeben, von ihren untätigen Bewohnern zu entlasten und zugleich damit den Grundstein für die Herausbildung eines neuen Bauernstandes zu legen. "Stadt und Land, Hand in Hand", die bolschewistische Parole von einst, hier hätte sie – wechselseitig von Vorteil – zum Ereignis werden können. Genossenschaftlich sogar, um die ideologische Verstockung mancher Köpfe in Sachen Grund und Boden brechen zu können.

Aber die Versäumnisse in der Landwirtschaft stehen nur pars pro toto: ausgerechnet auf dem Finanzsektor vermeinte man in Moskau, sich mit jenen Kräften ungestraft einlassen zu können, die seit 200 Jahren allemal Kattun vor Christus favorisieren. Man gewährte ausländischen Finanzhaien eine Wechselkursgarantie bei hohen Zinsen, 1996 sogar über 100 Prozent und ließ die Inflation gewohnheitsüblich das Volk tragen.

Damit bildete sich eine verquere neualte Oberschicht, die sich aus den inzwischen milliardenschweren Figuren Tschernomyrdin und Primakow-Kirschblatt, der die treibende Kraft hinter dem Kulissenwechselspiel sein soll, besteht. Freilich wäre es falsch, nur die Hyänen der Finanzwelt für das russische Dilemma anzuprangern. Aasfresser kreuzen nur dort auf, wo es Leichname gibt. Es geht längst um die Fähigkeit der Russen, Probleme konstruktiv gestalten zu können. Rußlands Elite besaß seit 1992 die Möglichkeit des Einspruchs, aber sie ließ sie ungenutzt. Die Bewältigung der blutigen Vergangenheit, die auch den verklärten "Großen Vaterländischen Krieg" mit Deutschland einschloß, unterblieb ebenso wie die andauernde Verhüllung großer Verbrechen – das "Schwarzbuch des Kommunismus" schrieb kein Russe.

Deutsche Kaufleute, die mit Russen ins Geschäft zu kommen trachteten, berichten von Unpünktlichkeit oder auch schlichter Unfähigkeit, sich auf technisch-kommerzielle Angelegenheiten konzentriert ausrichten zu können. Das bei den Russen beliebte Zücken von Visitenkarten erledigt nichts, läßt aber bei Urteilsfähigen die Meinung aufkommen, daß der Aderlaß durch Krieg, Bolschewismus und Gulag-Vernichtung so groß war, daß der Sprung in die Zukunft nur durch eine Blutauffrischung von außen möglich wäre. Russische Heiratsannnoncen in deutschen Zeitungen können aber keine solche Defizite ausgleichen. Politik im großen Stil ist gefragt – doch wer in Bonn besitzt soviel humanes Bewußtsein? Wenn jetzt Clinton in Moskau auftaucht, wird man Geld von ihm wollen – und vermutlich für die Preisgabe von Atomwaffen, Rohstofflagern und Ölfeldern erhalten! Denn, wie Nietzsche 1887 schrieb, die "Gewalt geteilt zwischen Slawen und Angelsachsen und Europa als Griechenland unter der Herrschaft Roms", dürfte auch weiterhin die Maxime Washingtons bleiben. Muß dies aber für Berlin allezeit gerade deswegen fortgelten

 

 
     
     
 
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