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Heilpflanze in Mythos Aberglaube und Kunst

 
     
 
Seit alters her hieß die Mistel im Volksmund "Hexenbesen", "Drudennest", "Donnerkugel". Das waren nicht etwa Schimpfnamen, vielmehr bekundeten sie Respekt, auch Verehrung für ein eigenartiges Gewächs, dessen geheimnisumwobener Zauber bis in unsere Zeit hineinwirkt. Die Mistel galt der Geisterwelt verwandt. Da sie meist unerreichbar hoch in den Baumkronen, "zwischen Himmel und Erde" siedelt, war es unseren Altvorderen klar, daß Götter, Nymphen, Trolle, Druden den engen Bekanntenkreis der immergrünen Pflanze bildeten.

Für ihr Dasein bevorzugt die Mistel Eichen, Pappeln, Birken, Weiden
, Tannen. Sie ist eine halbparasitische Pflanze, die den "Wirtsbaum" nicht schädigt, lediglich der Ast, an dem die dick-ballige Kugel nistet, treibt keine Blätter mehr. Die Vermehrung der Mistel ist eigentümlich wie ihr Wohnsitz. Sie senkt ihre Wurzeln durch die Rinde des Wirtsbaumes in sein Holz; in jedem Jahr keimen zwei Blatttriebe, 20 Jahre braucht sie Zeit, um eine Kugel zu bilden. Ab November schmückt sie sich mit weißgelblichen Beeren, begehrte Leckerei der Vögel. Der klebrige Beerensamen wird unverdaut ausgeschieden, bleibt am Wirtsbaum haften und ist Grundstock für neues Mistelwachstum. Einmal durch Sturm vom Geäst gerissen oder von Menschenhand abgeschnitten, erlischt das Leben der Mistel, die verbliebenen Wurzeln treiben nie wieder aus; deshalb wurde sie mancherorts unter Naturschutz gestellt.

Als Heilpflanze wird sie seit Jahrhunderten gerühmt. Hippokrates (um 460 v. Chr.) empfahl sie gegen Milzerkrankungen, Plinius (um 60 n. Chr.) nannte sie "Omnia Sanatem", die "Allesheilende". In keinem Kräuterbuch des 16./17. Jahrhunderts fehlte sie. Arzneilich verwendet wird sie auch heute, zum Beispiel bei Gefäßspasmen, Verkalkung, Gelenkentzündungen und in der Tumorbekämpfung.

Ein einziges Mal wurde die Heilpflanze zur Todesbringerin, und zwar im nordischen Sagenmythos: "Auf hohem Stamm stand gewachsen/ der Zweig der Mistel zart und schön", heißt es in einem Gesang der altisländischen "Edda", in dem das Schick-sal des Lichtgottes Baldur erzählt wird. Dieser Schönste aller germanischen Götter hatte geträumt, daß er aus Mißgunst getötet werden würde und mit seinem Tod alle Freude aus der Welt schwände. Seine Mutter Frigga ließ sogleich die gesamte Natur schwören, ihrem Sohn kein Leid zuzufügen. Nur einer unscheinbaren Pflanze nahm sie diesen Banneid nicht ab - der Mistel, sie dünkte ihr zu winzig. Loki entlockte Frigga das Geheimnis um den fehlenden Eid. Der verschlagene, ränkesüchtige Flammengott schnitzte aus einem Mistelzweig einen Pfeil und gab ihn Baldurs blindem Bruder Hödur. Mit anderen Göttern sollte er zum Spaß auf den unverletzbaren Baldur zielen. So geschah der Brudermord im Asen-Himmel. Er leitete die "Götterdämmerung", den Untergang der Welt, ein. Erst in eine neu entstandene Welt wird Baldur - und mit ihm das Gute - wiederkehren, heidnischer Vorläufer des christlichen Auferstehungsglaubens.

Heilig und Glücksbringerin war die Mistel den Kelten. In deren europäischen Siedlungsgebieten feierte der Mistelkult wahre Orgien. Die Priester nannten sich Druiden. In weißen Gewändern, begleitet von weißgewandeten Jungfrauen, stiegen sie über kunstvoll angelegte Stege zur Baumkrone empor. Der Mistelballen durfte nur mit goldener Sichel am sechsten Tag nach Neumond aus dem Geäst geschnitten werden. Am Fuße des Baumes wurden die Opfertiere geschlachtet und die Götter gebeten, daß die Mistel Segen bringen möge. Und das tat sie; im Aberglauben der Völker bewies sie, unangefochten von Zweifeln, ihre magischen Kräfte. Als Abwehrzauber gegen Unholdsgeister hing sie in Ställen, Scheunen, über Türeingängen. Im Schlafzimmer angebracht, sollte sie den Wunsch nach Kindern erfüllen. Im "Kreuterbuch" des Hierymi Bock von 1551 wurde den Eltern empfohlen, ihren Sprößlingen Misteln um den Hals zu hängen, "damit ihnen kein Gespenst schade". In Siebenbürgen und in der französischen Schweiz herrschte der Brauch, Misteln - als dauerhaftes Unterpfand der Liebe - in den Brautkranz einzuflechten. Noch im "aufgeklärt" geltenden 19. Jahrhundert wurden Mistelzweige in Eisenbahnloks mitgeführt, um gegen "Entgleisen" gesichert zu sein; eine Maßnahme, die auch heute in Erwägung zu ziehen wäre.

Das Christentum zeigte sich nicht nur dem Mistelkult, sondern allem Aberglauben abhold. Erfolg war dieser Ablehnung nicht beschieden. Aus Mistelholz gefertigte Brustkreuze kamen in Umlauf; sie schützten gegen den "bösen Blick". Aus dem Handelsbuch des Ulmer Kaufmanns Ott Ruland anno 1446 bis 1462 ging hervor, daß der Bedarf an Mistel-Rosenkränzen sich entlang der Rheinlinie von Basel bis Köln und entlang der Donau von Augsburg bis Wien erstreckte. Ob nun - in Anbetracht der Seltenheit der Mistelgewächse - wirklich immer echtes Mistelholz verwendet wurde, muß bezweifelt werden. Entscheidend blieb der Glaube: Ich trage einen Talisman! Schließlich hielt die Mistel auch in die christliche Weihnacht Einzug. Man schenkte sich Misteln, sie drückten den Wunsch aus, freundschaftlich miteinander umzugehen. In der englischen Weihnacht blieb die Mistel dominierend, obwohl Prinz Albert von Sachsen-Coburg-Gotha, Gemahl der Königin Victoria, die Weih-nachtstanne in Windsor Castle einführte. Sie konnte die Mistel nicht verdrängen, weder die weißbeerige "Viscum album" noch die rotbeerige, seltenere "Viscum Cruciatum". Der Mistelstrauch wird an der Decke des Festzimmers oder über der Tür befestigt. Befindet sich nun zufällig - oder in gezielter Absicht - ein weibliches Wesen unter dem Gehänge, darf es geküßt werden. Der Küssende zwickt eine Beere vom Strauch; sind alle Beeren gepflückt, ist der "Kußzauber" beendet. Üble Zungen wollen wissen, daß manche Herren und Damen erst den Raum betreten, wenn keine Beere mehr die Mistel ziert.

Die Kunstrichtung "Jugendstil" bevorzugt die Mistel ihrer fragilen Schönheit wegen. Neben Rosen, Seelilien, Mohn, Weinranken, Efeu behauptete sie sich als fremdartiges und schon deshalb faszinierendes Motiv. Fraglos regte ihr mystischer Ursprung, "vom Mond gefallen und von Göttern in Bäume gepflanzt", die Phantasie der Künstler an. In bizarren, oft ergötzlich komischen Varianten, überschwemmte die Mistel Postkartenserien, Weihnachtsgrüße und Neujahrsglückwünsche. Hauptmotiv: Druiden-Priesterin drückt Mistel an die Brust. Ihr männlicher Kollege ließ sich nicht lumpen. Auf dem Etikett eines in Frankreich vertriebenen Bieres schneidet er die Mistel von der Eiche: "Bière des Druides - Teutonisches Zauber-Elixier" las der verblüffte Konsument. Kein Gebrauchsgegenstand, den die Mistel nicht schmückte: Kaminzangen, Leuchter, Spiegel, Kämme, Vasen, Bestecke. Aus Edelmetall gefertigt, bestückt mit Juwelen, feierte sie in Form von Krawattennadeln, Halsketten, Broschen, Medaillons Triumphe. Bewußt oder unbewußt bezeugten die Eigentümer der Pretiosen die unsterbliche Mär von der Mistel als Glückssymbol. Es spricht nichts dagegen, sich der Mär anzuschließen. Ein englisches Sprichwort befindet knapp: "No mistletoe, no luck!" (Kein Mistelzweig, kein Glück).

Mistelzweig: In der "Edda", der altisländischen Saga, wurde die sonst als Glücksbringerin angesehene Pflanze zur Todesbringerin
 
     
     
 
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