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In Demut vor der Schuld

 
     
 
Deutschland hat nach de letzten Krieg geistig vor a lem von Importen gelebt. Von den wenigen Eigenprodukten ist die Vergangenheitsbewältigun – neben dem Grundgesetz – wohl das bedeutendste. Sie hat seit etwa vierzi Jahren in immer dichteren Schüben Schlagzeilen gemacht, lange Zeit kritische. Ihr kategoriale Merkwürdigkeit blieb dabei auffällig
unberedet. Nicht einmal ein Bezeichnung fand sich für das weltgeschichtlich unbekannte Phänomen. Gegen Widerstan setzte sich "Vergangenheitsbewältigung" allmählich durch.

Dem Christentum hat die Bewegung das Grundelement der Schuld entnommen. Sieht man dies Schuld, die deutsche, als einen nationalen Abgrund von überzeitlicher Qualität, ist de Gedanke an Religiöses fast zwingend. Nur einzelne Bestandteile können zur Not andere Sparten gesellschaftlicher Tätigkeit zugeordnet werden. Selbst das Fehlen eine expliziten Gottesbezugs kann die Bewegung nicht ins Weltliche verweisen. Eher führt da zum Kern der Sache. Es ist ja nicht so, daß die Stelle, die im Christentum Gott einnimmt in der Vergangenheitsbewältigung fehlte. Sie steht nicht einmal leer.

Schuld ist freilich kein rein religiöser Begriff. Die deutsche Schuld ist von de Siegern des Zweiten Weltkriegs vordringlich juristisch behandelt und bestraft worden durch Gebietsabtretungen, Vertreibung aus den abgetrennten Gebieten, durch Vierteilung de Rumpfgebildes, durch mehrjährige Verweigerung von Selbstregierung und Ausschluß aus de Gemeinschaft der im Abscheu gegen Hitler sich vereint wissenden Nationen. Hinzu kam die Verurteilung deutscher Organisationen und ihrer Mitglieder sowie Strafurteile gege Einzelpersonen, gipfelnd in etwa 900 registrierten und vollstreckten Todesurteilen un Verurteilungen zu lebenslänglicher Haft. Auf dieser Ebene ist das Verhältnis zwische Opfern, Tätern und Richtern eine zweifellos weltliche Angelegenheit.

Aber Vergangenheitsbewältigung spielt auf einer anderen Ebene. Zwar liegt dieselb Schuld zugrunde, aber anders als Strafe ist Vergangenheitsbewältigung eine frei Entscheidung der Schuldigen, entspricht dem Verhältnis des reuigen Individuums zu Gott Wo sie erzwungen wird, hört sie auf, sie selbst zu sein, wird Fortsetzung von Strafe mi anderen Mitteln.

Aber freiwillige Schuldaufarbeitung ruft im kollektiven wie im individuelle Schuldverhältnis nach einem Anzusprechenden. Bekenntnisse verlangen ein Ohr. Reue, Buß und Bitte um Vergebung wollen angenommen und beantwortet werden. Zwar hat sich de Schuldige nach Größe der Schuld in Geduld zu fassen. Aber Hoffnung muß sein. De Gläubige bedarf der Zeichen, die in eine erlöste Zukunft weisen und seine gegenwärtigen Selbstdemütigung Lebenssinn verleihen.

Wer aber übernimmt bei der deutschen Vergangenheitsbewältigung die Stelle de Hörenden und Antwortenden? Die Welt und die Opfer begrüßen und fördern die deutsch Vergangenheitsbewältigung. Auch ohne höhere Rechtfertigung entspricht sie ja de Urwunsch von Opfern und Leidtragenden, daß der Täter nicht leichter mit seiner Ta fertig werde als sie selbst. Wenn er nicht aus eigener Einsicht zum Mitleiden findet fühlen sie sich zur Nachhilfe berechtigt.

Gegen jede historische Erfahrung haben sich die Wünsche der Opfer im deutschen Fal schließlich erfüllt. Aber gerade das stiftet Verwirrung. Die Opferseite gerät durch die Entschlossenheit der Deutschen zur Vergangenheitsbewältigung in eine Beziehung zu de Tätern, an die sie nie gedacht hat. Das Mit-Leiden der Schuldigen droht die Distanz zu zerstören, die ihnen als Opfern wesentlich ist. Sie können sich nicht erinnern gottähnliche Intimität mit den Schuldigen gewollt zu haben. Daß sie von den Deutsche in den Himmel höherer Instanzen gehoben und zu Garanten eines möglichen deutsche Neuanfangs gemacht werden, ist ihnen peinlich bis zur Unerträglichkeit. Entsprechen weisen sie die Gottesrolle von sich. Kein Schlußstrich! Nicht nur jetzt nicht, sonder unaufhebbar nie ("Allein die Toten von Auschwitz wären befugt zu vergeben!")

Eine paradoxe Situation: die Opfer und ihre Hinterbliebenen verweigern die Sündenvergebung, stützen aber als Bewährungshelfer ein Verhalten de Schuld-auf-sich-Nehmenden, das nur religiös, nur durch ein absurdes Vertrauen in die Opfer als Retter Sinn erhält.

Den Deutschen wurde die Anerkennung ihrer Schuld durch die Niederlage 1945 erleichtert Dennoch war die Entstehung einer Reue-und-Sühne-Bewegung ein Prozeß, der Zeit brauchte Da von den etablierten christlichen Konfessionen kein Signal kam, begann die Vergangenheitsbewältigung mit selbsternannten Predigern in der Wüste, vor einem Volk das trotz seiner Sünden und der nachfolgenden Sündenstrafen mehrheitlich eine geradez alttestamentarische Widerborstigkeit zeigte. Das änderte sich wie bekannt. Aber die Situation blieb der jüdischen Religionsgeschichte insoweit analog, als das Ganz unerbittlich kollektiv ausgelegt war. Es betraf alle Deutschen – die sich Weigernde so gut wie die zur Sühne Bereiten.

Dann, nach fünfzehnjährigem Widerstand, stieg die Zahl der Bekehrten plötzlich an Als Auslöser sind die Aktionen von Jugendlichen gegen jüdische Einrichtungen un Opfermahnmale in Köln Weihnachten 1959 auszumachen. Im Rückblick ist solches Erwache einer noch unbenannten und wenigstens religionsartigen Bewegung faszinierend zu sehen. I unserem ungläubigen Jahrhundert hätte niemand dergleichen vorhersagen können.

Dabei waren die bildgestützten Predigten der neuen Religion von fast mittelalterliche Feuer- und Schwefelart. Die Bußredner konnten ja nur mit bösen Folgen für die Uneinsichtigen drohen, nicht mit Erlösung locken, wie es dem Christentum möglich war Aber unter dem Eindruck der deutschen Verbrechen, die jetzt erst ins allgemein Bewußtsein traten, nahm eine wachsende Gemeinde das in Zerknirschung hin. An die Stell von Kirchengebäuden traten die virtuellen Predigt- und Kultsäle der Medien, und scho bald übertrafen ihre Buß- und Mahnreden, ihre Weihe- und Trauerstunden deutscher Schul die traditionellen Bemühungen der deutschen Bevölkerung um ihren katholischen ode protestantischen Glauben. Die noch Unbelehrbaren wurden, mit oder ohne individuell Kenntlichmachung, als Ewiggestrige angeprangert, aus der guten Gesellschaft verstoßen als mit Nazismus, Nationalismus und Revisionismus im Bunde verfemt. Und nach weiteren ach Jahren erlebte die neue Religion schon eine Art Reformation. Es setzte sich sogar die Ansicht durch, die deutsche Vergangenheitsbewältigung habe jetzt überhaupt ers begonnen. In Wirklichkeit war die politische Revolte von 1968 für die Vergangenheitsbewältigung nicht mehr als ein Zwischenspiel. Der neue Antifaschismu machte noch einmal mächtig Front gegen alles, was mit Nazismus assoziiert werden konnte die jugendlichen Fanatiker stellten die Väter- und Großväter inquisitorisch zur Rede stöberten die Verstockten in den verborgensten Winkeln auf. Aber die Innerlichkeit de deutschen Schuld- und Bußgesinnung war ihnen fremd. Die radikal antinazistisch Abrechnung kam aus ihrer Jugend und ihrem Marxismus. Sie waren von sich selbst entflammt hatten in ihrem neuen Weltbild für einen deutschen (oder jüdischen) Sonderstatus keine Platz mehr. Ja, sie führten im Schutz ihres guten Gewissens einen Befreiungsschlag gege die bestehende Vergangenheitsbewältigung. Als antikapitalistisch, antikolonialistisch proarabisch, antiamerikanisch, antiisraelisch folgte sie dem Weg, den die DDR seit ihre Entstehung gegangen war. An einem bestimmten Punkt der Entwicklung vo Regligionsgemeinschaften kommt es zur Formulierung von Dogmen, die den gefährdete Zusammenhalt von Kirche und Gläubigen sichern sollen. Bei der Vergangenheitsbewältigun ging es in den achtziger Jahren vor allem um die Einbindung der nachgewachsenen unschuldigen Generationen. Die Prediger- und Priesterschaft wollte das auf keinen Fal deren gutem Willen überlassen, bestand auf Pflicht und Notwendigkeit. Jetzt wurde vo allem die Zukunft, die Domäne der Jugend, ins Spiel gebracht. Den heiligen Texten, de ergreifenden KZ-Berichten und -Romanen, der Jugendbotschaft der Anne Frank wurde die apokalyptische Vision eines neuen Auschwitz hinzugefügt. Seitdem ist die neue Religio hauptsächlich auf den Satz gegründet, daß allein sie dieses drohende Unheil verhinder könne. Die Unschuld der Jugend war also fortan keine Glaubenshürde mehr. Es ging um die Zukunft: daß sich in ihr die Vergangenheit nicht wiederholen dürfe.

Damit wurde auch die Wunde der verweigerten Erlösung beseitigt. Von der Gefahr eine neuen Auschwitz konnte es ja keine Erlösung geben. Als Gegenmittel war die Vergangenheitsbewältigung auf ewig gerechtfertigt.

Dogmen haben freilich den Nachteil, daß sie auf den Glauben angewiesen bleiben, da sie Schwankende nicht überzeugen, sondern allenfalls einschüchtern können. Selbst wen man bereit ist, das neue Auschwitz ausgerechnet in Deutschland kommen zu sehen, fällt e schwer, an die Vergangenheitsbewältigung als einziges Verhinderungsmittel zu glauben Daß Mörder durch das Ritual ständiger Vergegenwärtigung des Tathergangs un begleitende Mahnpredigten von der Wiederholung ihrer Taten abgehalten würden und da vorsorglich ihre Kinder und Enkel denselben Prozeduren zu unterziehen seien, ist so weni plausibel, daß nur unermüdliche Wiederholung den erstaunlichen Aufstieg diese Lehrmeinung erklären kann.

Die deutsche Vergangenheitsbewältigung ist daher ständig verfestigt und durch Tabu eingeengt worden. Unduldsamkeit wächst. Auch kleinste Abweichungen vom vorgeschriebene Weg und Wortgebrauch werden geahndet, jede Regung von Originalität mit dem Ru "Wehret den Anfängen" und "Vorsicht – Beifall von falsche Seite!" gebrandmarkt. Zweifelnde können inzwischen sogar dem weltlichen Richte übergeben werden. Wie man in früheren christlichen Jahrhunderten die Literatu durchforschte: ob in ihr auch ausreichend von Christus die Rede sei und nicht etwa die Sünde verherrlicht oder verharmlost werde, so spießt man jetzt Bücher auf, die kei Auschwitzbewußtsein zeigen oder ohne ausreichende Distanzierung von Hitler sprechen. Be einer Gedenkrede zur Reichspogromnacht vor dem Parlament genügte die Erwähnung einige Selbstverständlichkeiten über das, was die Deutschen während der Hitlerjahre dachten um den Redner, den Bundestagspräsidenten Philipp Jenninger, aus dem Amt zu treiben Selbst als man diesem Treuherzigen nach eingehender Prüfung höchstens noc unzulängliche Rhetorik vorwerfen konnte, war von Rehabilitation keine Rede. In gleiche Unerbittlichkeit verfiel auch die nicht genehmigte Demutsformel von der "Gnade de späten Geburt" dem Anathema der Glaubensbehörde. Trotzdem wird die Vergangenheitsbewältigung, die die Hauptstadien der klassischen Religionen im Zeitraffe durchläuft, deren modernem Schicksal nicht entgehen können. Nach fünfzig Jahren ist si bereits in eine typische, durch Zwang, Routine und Prachtentfaltung gekennzeichnet Spätphase eingetreten.

Wie im 18. Jahrhundert auf die religiösen Triumphalismen des Barock eine still Reform, die Vernunft der Aufklärung und des gesunden Menschenverstandes, folgte, s könnte sich auch aus dem Schoß der Vergangenheitsbewältigung eine fromm Aufgeklärtheit oder aufgeklärte Frömmigkeit verbreiten, die der Höllen- un Teufelsrhetorik, dem inflationären Schwingen der Auschwitzkeule in aller Stille den Bode entzöge. Ein Schriftsteller, der durch die Verleihung des Friedenspreises des deutsche Buchhandels zu einer politischen Rede provoziert wurde, hat der "zitternde Kühnheit" dieses neuen Pietismus Stimme gegeben. Durch ihn erst wurde vielen, die sich der Vergangenheitsbewältigung in Freiheit verbunden fühlten, bewußt, daß man de Priestern und Predigern nicht alles nachsehen müsse. Noch mehr hat wohl die amtskirchliche Reaktion auf diese Rede ein Erwachen bewirkt. Erst die schockierend Härte, mit der dem Redner "die Instrumente gezeigt" wurden, machte auch de gewöhnlichen Frommen das Ausmaß ihrer Unterdrückung bewußt.

Manches deutet jedoch darauf hin, daß die nächste Runde der Auseinandersetzung an die Reformer geht.

Der Autor ist der Verfasser von "Normal-Null und die Zukunft der deutsche Vergangenheitsbewältigung", Schernfeld 1994
 
     
     
 
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