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Jenseits aller Schamgrenzen

 
     
 
Besonders die Nachmittagssendungen des öffentlich-rechtlichen Fernsehens und der privaten Anbieter sind an Trivialität kaum zu überbieten. In welchen Kanal auch immer der unbedarfte nachmittägliche oder abendliche Zuschauer sich einwählt, er wird überschüttet mit normalerweise sehr persönlichen Bekenntnissen aus dem Ehe- beziehungsweise Liebesleben der Mitmenschen. Mit übereiferndem Bekenntnisdrang und bar normaler Schamgrenzen versprühen die Gesprächspartner während sogenannter Talkshows ein geistiges Niveau, das zu den Ergebnissen der Pisa-Studie paßt. Offenbar finden die im Fernsehen auftretenden Akteure Trost in dem Glauben, daß ihr Geständnisse andere begeistern könnte. Um für ein paar Minuten im Fernsehen auftreten zu dürfen, machen sich nicht wenige zum Kaspar.

Oftmals entstehen themenbedingte Situationen, in denen man den bohrenden Fragen des Moderator
s nicht mehr ausweichen kann. Statt daran zu erinnern, daß die mißliche Lebenssituation nur ihn etwas angehe, siegt bei vielen die Eitelkeit. Widerspruchslos lassen sich die Teilnehmer von den Moderatoren vereinnahmen, die ihnen mit Unterstützung des erlauchten Publikums vorgaukeln, daß eine derart entwürdigende Selbstentblößung eine irgendwie heilsame und befreiende Wirkung haben könnte. Wer kann sich vor einem solchen Auditorium der Verlockung entziehen? Teilnehmer und Zuschauer derartiger Talkshows sind möglicherweise auf der Suche nach Orientierung und seelsorgerlichen Angeboten, die sie vermutlich nicht mehr in der Kirche, aber auch nicht auf der Couch der vielseitig empfohlenen Psychiater oder Therapeuten zu finden glauben. Erst wenn der jähe Rausch des Auftritts verflogen ist, dürfte so manchem klar werden, wie lächerlich seine "Geschichte" in der Öffentlichkeit ankam.

In Wirklichkeit dient solch Seelen-Striptease nur der Einschaltquote. Eine Lösung der angesprochenen Probleme wird nicht angestrebt. Die anwesenden Seelen-Voyeure pendeln zwischen unverbindlicher Anteilnahme, Unverständnis und schroffer Ablehnung. Eine unmittelbare Teilhabe im Sinne von Mitfühlen oder irgendeiner noch so schwachen Sympathie ist nur in wenigen Ausnahmefällen zu erwarten. Ein eher lapidares "was es nicht so alles gibt" oder "schön doof" ist die Regel.

Gegenwärtig werden auf heimischen Kanälen mehr als 50 Talk-shows angeboten. Bei den Nachmittagssendungen geht es vor allem um Partnerschaft und Familie. Das am häufigsten behandelte Thema ist das der Sexualität bis hin zu seinen wildesten Ausuferungen, gefolgt von Gesundheit und Lebenshilfe, Schicksalsschlägen, Esoterik und Schwierigkeiten am Arbeitsplatz. Um Mißverständnisse zu vermeiden: Es ist richtig, daß das Fernsehen einsame Menschen am Leben anderer teilnehmen läßt. Aber müssen es immer die verkorksten Gestalten, charakterlichen Wracks sein, die unsere Nachmittage ausfüllen?

Je mehr die Kandidaten überzeugen, desto unwichtiger werden die Inhalte. Jeder inszeniert sich so gut es geht selbst. Die anderen sind Nebensache. "Schön, daß wir darüber geredet haben" oder "passen sie gut auf sich auf" bis hin zu "es wird alles gut" wirken wie Pausenfüller. Mit derartig unverbindlichen Leerformeln werden die Betroffenen abschließend ihrem Schicksal wieder zugeführt.

Moderne Gesellschaften scheinen zunehmend die bewährte bürgerliche Unterscheidung von privat und öffentlich aufzuheben. Die Tyrannei medial ausgestrahlter Intimität mag man beklagen, großflächig ändern wird man es kaum, solange seelischer Exhibitionismus von unerfüllten Voyeuren gewünscht wird. Leute, die früher beim Kaffeeklatsch, beim Kaufmann oder Friseur über andere aus der Nachbarschaft herzogen, haben mittlerweile den Radius weiter geschlagen, das Themenspektrum ausgeweitet, um jetzt vom Plüschsofa aus billigem Moralismus zu huldigen.

Bei dem Wettbewerb um Selbstentblößung ist die Spannung zwischen Anspruch und Wirklichkeit, zwischen Wahrheit und Lüge aufgelöst. Scham - ein überholter, sinnentleerter Begriff? Ursprünglich diente der Begriff als Schutz vor Übergriffen auf das empfindsame Innenleben. Daß es auch in früheren Zeiten Menschen gab, die sich vor gleißenden Kameras "seelisch ausziehen ließen", ist nichts Neues, daß aber die Gier nach grenzenloser Offenheit zunehmend jüngere Menschen erfaßt hat, erschreckt und stößt ab.

 
     
     
 
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