|  | Weder im Bereich des Ärztewesens noch im     Bereich der Rechtskunde und schon gar nicht im Bereich der modernen Technik würde jemand     auf den Gedanken kommen, die Ausbildung dem Zufall und der Hoffnung auf idealistische     Einstellung gegenüber der Aufgabe zu überlassen. In der Politik jedoch, von der alles     abhängig ist, wird dieser Fehler immer wieder gemacht. Bei vielen Völkern und zu allen     Zeiten begegnet er uns. Wenn also geschichtliches Denken eine unabdingbare Voraussetzung     für erfolgreiches politisches Handeln ist, warum  so muß die Frage auch ganz     aktuell lauten  leisten wir uns führende Politiker, denen tiefere Kenntnisse der     Geschichte völlig fremd sind?
 Hier hört der Verfechter besserer Qualifikation
   und Ausbildung in der Politik oft den     Einwand, daß gerade der Demokratie eine politische Elite-Bildung widerspreche. Auch das     ist eine geschichtliche Erfahrung, daß, wo immer Eliten in Frage gestellt wurden, nicht     die Überzeugung im Vordergrund stand, ohne sie auskommen zu können, sondern der Wunsch     dahinterstand, bei der Bildung neuer Eliten selber einen einflußreicheren und     bedeutungsvolleren Platz einzunehmen! Die Agitation gegen demokratisch legitimierte Eliten     ist also nichts anderes als ein Teil des Kampfes um die Macht. Die Demokratie freilich     braucht keine Eliten kraft Geburt oder Standes. Sie braucht Leistungseliten kraft     Könnens. Wer historisches Verständnis in der Politik nicht den Fügungen des Schicksals     überlassen will, kann sich deshalb der Notwendigkeit, neue, plurale und demokratische     Auslesesysteme zu entwickeln, nicht verschließen. 
 In seiner vor einem Würzburger Hochschulring am 26. Februar 1924 gehaltenen Rede über     die "Politischen Pflichten der deutschen Jugend" hat Oswald Spengler die     Problematik einer Elite-Bildung für die Politik eindrucksvoll aufgegriffen, ohne     allerdings ein System dafür anzubieten: "Wenn ich heute durch die Straßen deutscher     Städte gehe und sehe, was für Versammlungen und Umzüge stattfinden, was für Zettel an     den Häusern kleben, was für Abzeichen getragen werden, was gesungen oder geschrien     wird ...", so formulierte er fast resignierend, "so möchte man     verzweifeln." Wir müßten uns wieder, so meinte er schon damals, entschließen,     "Politik als Politik zu betreiben, so wie man sie von jeher verstanden hat, als eine     lange, schwere, einsame und wenig volkstümliche Kunst, und nicht als Rausch oder     militärisches Schauspiel." Dabei zu viele Leidenschaften zu entwickeln sei     gefährlich, denn sie machten "blind, wütend" und "jedem Verständnis der     Situation unzugänglich". Politik erschöpfe sich nicht im Organisieren, Agitieren     oder in der "bloßen Lösung von Wirtschaftsproblemen". Die moderne Politik     setze ein "außerordentlich hohes Maß von Übung und Wissen voraus", und das     vermisse er in der Jugend genauso wie den ernstlichen Willen, "sich für größere     Aufgaben zu erziehen". "Niemand", so klagte er vor den Studenten,     "studiert die Praxis großer Staatsmänner wie Bismarck, Gladstone, Chamberlain und     in Gottes Namen auch Poincaré, ihre Art, in der kleinen, zähen Arbeit des Tages     unscheinbare Erfolge zu erzielen, deren Gesamtergebnis dann doch im Schicksal ihres Landes     Epoche macht." Und dann rät er den Studenten das, was auch heute als wertvoller     Ratschlag in Universitäten hineingetragen werden müßte, nämlich, die "Programme     und Parteischriften aus der Hand zu legen" und statt dessen "planmäßig die     diplomatischen Akten der letzten Jahrzehnte zu studieren ..., die Schriftstücke zu     vergleichen, sich über Zwecke, Mittel und Erfolge ein Urteil zu bilden und so in die     moderne staatsmännische Praxis einzudringen".
 
 Seit dieser Warnung Spenglers ist die Politik noch wesentlich komplizierter geworden.     Heute müssen wir nicht nur die Geschichte der europäischen Völker beherrschen, sondern     die weltweiten Zusammenhänge erfordern, sich vermehrt auch mit der Historie der Völker     außerhalb des abendländischen Kulturkreises zu befassen. Eine falsche Reaktion aus     historischer oder politischer Unwissenheit kann einen unverzichtbaren Rohstoffpartner dem     eigenen Lande entfremden. Die Beschäftigung mit Geschichte kann Menschen einen     ästhetischen Genuß verschaffen, kann Denkwürdiges, Rätselhaftes, Spannendes als     Unterhaltung bieten, am wichtigsten ist sie für uns als Lehrmeister geworden. Die     Geschehnisse in ihrem Fluß, ihre oft nur bei tieferer Auseinandersetzung mit Handlungen     und Ereignissen sichtbare Verkettung zu erkennen, die Gegebenheiten von Hunderten von     Völkern und Staaten ebenso zu verstehen wie ihre politischen Prinzipien und     machtpolitischen Voraussetzungen, und alle diese Erkenntnisse den heute und in Zukunft     handelnden Persönlichkeiten verständlich und eindringlich zu vermitteln, das ist die     Aufgabe der Geschichtsschreibung! Diese Wissensvermittlung so zu organisieren, daß die     führenden Kräfte von heute und morgen überhaupt von ihr erreicht werden, ist Aufgabe     des Staates.
 
 Welche mächtige Kraft in der Geschichte selbst verankert ist, wird uns bei näherer     Betrachtung der Epoche der klassischen Literatur bewußt. Obwohl die Klassik anfangs     durchaus nicht sehr stark geschichtsbewußt war, sich im Gegenteil von der Gegenwart und     Vergangenheit fernhielt, um sich den "einsamen wie höchsten Werten" zu widmen,     richtete sie sich doch im Laufe der Zeit in wachsendem Maße an einem geschichtlichen     Ideal aus: dem Griechentum, das sie nach eigenen Vorstellungen  und Wünschen     idealisierte. Die Klassiker entwickelten,  wie Friedrich Meinecke es einmal so     treffend aussprach,  "einen mächtigen  plastischen Instinkt, der     sich nicht der Vergangenheit unterwarf, sondern sich die Vergangenheit unterwarf und zum     Hebel seines Lebenswillens umformte". Diese Schau der Klassiker war es, die die     Vergangenheit wieder mit einem neuen, eigenen Leben erfüllte und der Geschichtsforschung     neue Impulse und Antriebe gab. Die historischen Dramen von Shakespeare oder Goethe, die     geschichtlichen Darstellungen Schillers sind die besten Beispiele.
 
 Literarischer und historischer Impulse hätten die Deutschen nach der Katastrophe von     1945 besonders bedurft. Aber in der Literatur wurde zuviel bewältigt und entstanden     zuwenig Visionen einer besseren Zeit! Die Geschichtsschreibung     verkümmerte  jahrzehntelang entweder in Selbstanklagen oder einem     soziologischen Fachstil, der jeder Volkstümlichkeit  entbehrte. Und die wenigen     Erfahrenen der Zunft, wie Theodor Schieder, schienen Relikte einer längst vergangenen     Zeit zu sein. Erst im letzten Jahrzehnt haben sich wieder verstärkt Stimmen zu Wort     gemeldet, welche die eigene Geschichte bejahen und positive Zukunftsaussichten auf ihr     aufbauen. Der leider so früh verstorbene Helmut Diwald sei dafür symbolisch genannt.
 
 War und ist in vielen westlichen Ländern technokratisches Denken, der Glaube an die     absolute Überlegenheit der eigenen Zivilisation gegenüber zurückliegenden Epochen der     entscheidende Grund für eine wachsende Abkehr vom geschichtlichen Denken, so kam in der     Bundesrepublik Deutschland die Abkehr von der Geschichte auch durch Verunsicherung und     Umerziehung zustande. Wenn der Geschichtsunterricht nach 1945 in bezug auf die deutsche     Geschichte fast zu einem Gruselkabinett des Verbrechens und Versagens herabgewürdigt     wurde  von Martin Luther über Friedrich den Großen und Bismarck zu Hitler ,     so nahm es nicht wunder, daß eine sehr große Zahl von Jugendlichen sich ganz von der     eigenen Geschichte abwandte und entweder nur noch für den persönlichen Genuß des Tages     lebte oder in marxistischen Idealen eines revolutionären Neuansatzes die Überwindung     einer verfehlten Vergangenheit anstrebte.
 
 Heute ist der Geschichtsunterricht in einer Reihe von Ländern der Bundesrepublik     Deutschland als selbständiges Fach verschwunden. Geschichte wurde mit Gegenwartskunde und     Geographie verschmolzen. Was im neuen Fach Gesellschaftslehre oder Sozialkunde an Zeit     für die Geschichte übrigbleibt, wird oft nur genutzt, Argumente und Fakten aus der     Vergangenheit zur Unterstützung eigener Vorstellungen herbeizuziehen. Diese Methode ist     sehr nahe der marxistischen, welche die Geschichtsbetrachtung in vielen Bereichen auf das     Heraussuchen von historischen Belegstücken zur Unterstreichung der Richtigkeit der     eigenen Weltanschauung reduziert hat. Schon am 10. Februar 1973 warnten die Verbände der     Geschichtslehrer und Historiker vor dieser Entwicklung: "Mangel an historischem     Wissen und Denken fördert Orientierungsschwäche und Realitätsverlust. Er macht     anfällig für die kritiklose Übernahme pseudo-wissenschaftlicher und undemokratischer     Ideologien. Dadurch würden gerade die positiven Ansätze zur Bildung eines selbständigen     historisch-sozialwissenschaftlichen Aufgabenfeldes in den Schulen ernsthaft     gefährdet."
 
 Indes: solche Stimmen verhallten ungehört. Im Gegenteil, selbst in einigen von der CDU     getragenen Kultusministerien wurde der Geschichtsunterricht als selbständiges Fach     aufgelöst. Da ging es angeblich darum, die Vermittlung von "Abfragewissen" und     das "stupide Auswendiglernen historischer Zahlen und Fakten" auszuschalten und     die Schüler mehr zur "Kritikfähigkeit" zu erziehen. Der Lehrer, so hieß es,     sei von dem "Parforceritt" von der Steinzeit bis zum Ende des Vietnam-Krieges zu     befreien.
 
 Eine orientierungslose Kultusbürokratie, berauscht von der Schnelligkeit sich     überschlagender "Reformen", hat zum Teil bis zum heutigen Tage nicht begriffen,     zu wessen Werkzeug sie sich machen ließ. Mit dem Abbau des historischen Fachwissens ging     für viele Schüler das Verständnis für Erfahrungen und Vorstellungen anderer Zeitalter,     ging wichtiges Wissen um eigene und fremde Kultur verloren. Was für sie blieb, sind     Restbestände  zugeschnitten oft nur auf die blutleeren theoretischen Prinzipien     moderner Soziologie und Politologie. Der in diesem Sinne orientierungslos dastehende junge     Mensch griff in den sechziger und siebziger Jahren um so leichter nach der ideologischen     Kletterstange des Marxismus, die ihm dann die geistige Orientierung des Einäugigen     verschaffte, der nicht mehr sehen konnte, was neben der "einzigen wissenschaftlichen     Weltanschauung" noch Bestand haben sollte.
 
 Dem gleichen Ziel diente auch die Zerstörung des Faches Geographie und die     Umfunktionierung des Faches Deutsch in einer Reihe von Bundesländern.     Förderung  der Sprachästhetik, die Klassiker mit ihrem unersetzlichen Schatz     an Weisheit und Erfahrung, der Besinnungsaufsatz wurden von den     "Reformern"  zur Strecke gebracht oder auf weniger als das     Notwendigste reduziert. Die "Befreiung" von der     "bürgerlich-kapitalistischen Tradition" und ihrer     "Herrschaftssprache" hat als Bildungsergebnis dann jene Studenten der     Politologie und Soziologie, der "fortschrittlichen" Pädagogik oder der     "emanzipierten" Theologie hervorgebracht, die einst freie Universitäten zu     Hochburgen der Intoleranz und Manipulation machten. Eine Entwicklung, die erst in den     achtziger Jahren abklang.
 
 Einen systematischen Geschichtsunterricht an allen deutschen Schulen     wiedereinzuführen, ist deshalb ein Gebot der Stunde. Ebenso muß in den Massenmedien,     insbesondere dem Fernsehen, der Geschichte wieder eine gebührende Rolle eingeräumt     werden. Solche Regeneration der Geschichte im Lande hat aber nur Sinn, wenn ideologische     Engstirnigkeit vermieden wird. Geschichtsbewußtsein entwickeln heißt, das Erhabene, das     bleibend Gültige und Wertvolle auch unserer Historie als Mosaikstein in die große und     faszinierende Menschheitsgeschichte einzubringen und weiterzuentwickeln, heißt aber auch,     die Lehren aus den Verfehlungen und Abgründen der Vergangenheit, auch und besonders der     eigenen, zu ziehen und als stete Mahnung zu erkennen. Gerade im Zeitalter der Demokratie,     der Mitwirkung des Volkes an den politischen Geschicken, ist historische Bildung und die     allgemeinverständliche Darstellung historischen Wissens für eine breite Öffentlichkeit     unverzichtbar. Denn, um mit den Worten Rankes zu sprechen, "ein Volk, das seine     Geschichte nicht kennt, wird erleben, daß ihm eine schlechte Geschichte gemacht     wird". (Schluß)
 
 
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