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Masuren: Reise in ein vergessenes Land

 
     
 
Wie erreicht man Ostdeutschland? Ach nein, Ostdeutschland gibt es ja angeblich nicht mehr. Nennen wir es einfach Masuren. Das ist zwar nicht ganz richtig, da Masuren nur ein Teil Ostdeutschlands ist, zwar der schönste, aber eben nur ein Teil. Ich möchte trotzdem bei diesem Namen bleiben, weil Masuren trotz allem doch noch hier und da den Deutschen bekannt vorkommt. Wie gelangt man also nach Masuren?

Zum Beispiel über die Autobahn Richtung Hannover, in Helmstedt weiter in Richtung Berlin, ab dort in Richtung Stettin. Kurz vor Stettin bei Pomellen die Grenze zur heutigen Republik Polen
überschreiten. Ab dort über Deutsch Krone (Walz) und Schneidemühl (Pila) bis Bromberg (Bydgocz). Von dort Richtung Graudenz (Grudziads), ab Graudenz Richtung Deutsch Eylau (Ilawa). Ab hier hat man Pommern und Westpreußen hinter sich gelassen und ist in Ostdeutschland. Nach Masuren geht die Strecke weiter über Osterode (Ostroda) und Allenstein (Olsztyn) Richtung Sensburg (Mragowo). In Allenstein aufpassen, die weitere Fahrstrecke ist ausgeschildert: Suwalkie, nicht etwa Mragowo. Das kommt erst viel später. In Sensburg beginnt so langsam das eigentliche Masuren. Die Strecke führt weiter über Nikolaiken (Mikolajki), Ares (Orzysz) bis Lyck (Elk), der Hauptstadt Masurens. Von Lyck sind es noch ungefähr 70 Kilometer bis zur Grenze nach Beloruß in östlicher Richtung und zirka 60 Kilometer bis zur Grenze zum Königsberger Gebiet, dem nörd- lichen Teil Ostdeutschlands, der in Jalta unter russische Verwaltung gestellt wurde. Von Stettin bis Lyck sind es rund 700 Kilometer. Man kann ermessen, wieviel Land Kanzler Kohl für die Vereinigung der damaligen vier Besatzungszonen aufgab oder aufgeben mußte, wenn er die Vereinigung durchsetzen wollte. Die Straßen sind gut bis sehr gut. Das Tankstellennetz ist sehr dicht. Hotels sind auf der ganzen Strecke ausreichend vorhanden. Soweit zur Reiseroute.

Selbstverständlich erreicht man Masuren auch über den Grenzübergang Frankfurt an der Oder Richtung Posen und Thorn. Die Route über die Hafenstadt Stettin bietet sich jedoch eher an, weil dem Besucher hier gleichzeitig die unglaubliche Weite Pommerns deutlich wird. Felder von der Größe wie in Pommern sind dem Besucher aus der Bundesrepublik unvorstellbar. Außerdem führt die Strecke über Stettin sehr dicht an Danzig und der Marienburg vorbei, dem Sitz des Hochmeisters des Deutschen Ritterordens. Allein Danzig und die Marienburg sind beide für sich schon eine Reise wert. In Danzig erkennt man an den alten, liebevoll restaurierten Gebäuden wie Rathaus, Marienkirche, Bahnhof und den alten Stadtvillen den ganzen Reichtum früherer Zeiten. Wertvolle Gemälde und Mobiliar wurden vor der Zerstörung gerettet. Man hatte diese Dinge tief in den Katakomben eingelagert und in Sicherheit gebracht. Die Marienburg kann man nicht beschreiben. Man muß sie sehen. Eine gewaltige Anlage - eine Stadt für sich.

Wenn man auf der Weiterfahrt die im Ermland gelegene Stadt Allenstein erreicht beziehungsweise hinter sich gelassen hat, beginnt so langsam das eigentliche Masuren. Das Ermland ist eine katholische Enklave im sonst ehemals rein evangelischen Ostdeutschland. Masuren ist eine Landschaft von unglaublicher Schönheit. In ständigem Wechsel sieht das Auge des Betrachters Seen, riesige Felder, eingebettet in die dunklen Wälder Masurens, der Heimstatt der einzigen Elche in Deutschland. Inzwischen wird auch der Wolf wieder heimisch. Spricht man im Sauerland vom Land der tausend Berge, so nennt man Masuren das Land der dreitausend Seen. Über das weite Land, das nie eintönig wirkt, leicht hügelig ist, wölbt sich ein Himmel, der so unendlich weit ist und doch so nah erscheint. Niemals sah ich ein solches Spiel der mitunter vorbeiziehenden Wolken, weiß wie Schlagsahne. Der 1.300 Hektar umfassende Große Sellment-See spiegelt das tiefe Blau des Himmels wider. Nichts außer ein paar Fischerbooten stört diese Idylle. Es gibt in diesem Land wenig Menschen. Hier sind Flora und Fauna noch ursprünglich, und die Menschen hier leben mit der Natur, nicht gegen sie, und sie dankt es ihnen.

Neun Kilometer westlich von Sentken (Sedki) liegt die Stadt Lyck. Sie ist die Hauptstadt Masurens. Die alte Perle Ostdeutschlands liegt an einem der vielen masurischen Seen, dem Lyck-See. Sie wurde im Zweiten Weltkrieg weitgehend verschont. In 50 Jahren Sozialismus war die einstige Perle Masurens jedoch völlig auf den Hund gekommen. Zum Ende des Sowjetsozialismus konnte man die einstige Schönheit und den früheren Wohlstand nur noch erahnen. Nach der Wende Anfang der 90er Jahre begann wie in Polen so auch in Lyck sehr bald eine gewisse Renaissance. Zunächst entstanden überall in den beinahe zu Ruinen gewordenen Häusern neue Geschäfte. Schlagartig mit dem neuen Geld und dem Ende des Sozialismus konnte man plötzlich alles kaufen. Es war wie in Westdeutschland nach dem 20. Juni 1948, dem Geburtstag der Deutschen Mark. Bereits nach wenigen Jahren erkannte man die Stadt nicht wieder. Allein der Unterschied zwischen den Jahren 2000 und 2001 ist enorm. Die schönen alten Patrizierhäuser wurden liebevoll renoviert und gestrichen und zeugen heute wieder von vergan- gener Eleganz und früherem Reichtum. Baulücken wurden, dem alten Baustil angepaßt, geschlossen, die Straßen und Gehwege in guten Zustand versetzt, und die vielen Parkanlagen werden wieder gepflegt. Die Brunnen fließen wieder, und viele Bänke wurden erneuert.

Jede der prächtigen vierspurigen Hauptstraßen der Stadt wird von gewaltigen Alleebäumen eingerahmt. Die Gehwege sind durchweg acht bis zehn Meter breit. An Platz mangelt es nicht. Das Geschäftsleben pulsiert. Das Warenangebot läßt nichts vermissen. Entlang des Sees führt eine schöne Promenade. Die Stadt ist ganz einfach einen Besuch wert. Was die in Deutschland so oft zitierte „polnische Wirtschaft“ angeht: Man muß lange suchen, wenn man auf der Straße eine Zigarettenkippe oder gar eine leere Schachtel finden will, ganz zu schweigen von sonstigem Unrat. Eine weggeworfene Kippe kann teuer werden. Ja, ich denke, daß wir Deutschen unser „Polenbild“ doch langsam ein wenig revidieren müssen. Und so wie Lyck steigt das ganze Land wie Phönix aus der Asche.

Bei allen Vorteilen, Schönheiten, Annehmlichkeiten und der sprichwörtlichen Gastfreundschaft der Polen gab es 2001 einen kleinen Wermutstropfen. Im letzten Jahr erhielt man für eine Deutsche Mark zwischen 1,71 und 1,77 Zloty, noch ein Jahr zuvor waren es 2,04 Zloty gewesen. Trotz des schlechten Kurses des Euro zum Zloty sind die Lebenshaltungskosten für einen bundesdeutschen Urlauber in Polen noch günstig. Die Preise für Lebensmittel liegen um die 60 bis 70 Prozent, gemessen an jenen in der Bundesrepublik Deutschland. Berücksichtigt man dabei die Einkommen der Polen - eine Verkäuferin verdient so um die 400 Zloty und ein Industriefacharbeiter um die 800 Zloty brutto im Monat - dann wird es für die Normalbürger eng.

Die geringen Einkommen der Durchschnittspolen liegen sicher in der hohen Arbeitslosigkeit begründet. Streng nach den Regeln der freien Marktwirtschaft bestimmen Angebot und Nachfrage den Preis. Es gibt zu viele Arbeitskräfte und zu wenige Arbeitsstellen. So ist die Ware Arbeit billig. Es wird geheuert und gefeuert. Auf dem „platten Land“ hat kaum jemand einen festen Arbeitsplatz. Man arbeitet auf Zuruf ohne feste Anstellung. Ein erwachsener Mann erhält für die Stunde zwei Zloty. Davon muß er sich noch krankenversichern und etwas für die Rente zahlen. Das kann auf Dauer nicht gutgehen. Die Bundesrepublik ging in dieser Hinsicht nach dem Neuanfang nach dem Zweiten Weltkrieg einen besonderen Weg. Man entschied sich für die soziale Marktwirtschaft. So und nur so kam Westdeutschland nach dem Krieg wieder so schnell auf die Beine. Heute hat man allerdings oft den Eindruck, daß gewisse Kreise die soziale Komponente in unserer Wirtschaft am liebsten rückgängig machen würden.

Trotz ständig steigender Gewinne der Konzerne werden immer mehr Arbeitsplätze abgebaut, und die Nettolöhne steigen seit Jahren nicht mehr. Der ständige Abbau von Arbeitsplätzen macht natürlich zwangsläufig den arbeitenden Menschen unsicher wie ängstlich und so letztlich gefügig. Wozu das letzten Endes führt, sieht man in Polen sehr deutlich.

Unter diesen Umständen gewinnt man mitunter den Eindruck, daß die polnischen Bewohner Ostdeutschlands nicht unbedingt glücklich sind in dem Land, das ihnen in Jalta zugesprochen wurde als Ersatz dafür, daß sie das von ihnen in der Zwischenkriegszeit annektierte sogenannte Ostpolen nach dem Krieg an die Sowjetunion zurückgeben mußten. Es wäre sicherlich dümmlich, würde man das aus deutscher Sicht quasi als gerechten Ausgleich betrachten, denn die heutige Generation in Polen trifft wahrlich die geringste Schuld an der geschichtlichen Entwicklung in diesem Land; nachdenklich stimmt es allerdings schon … Walter Mühlhoff-Gerecht

 
     
     
 
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