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Deutschland 2002: Die kalte Republik

 
     
 
Was ist los mit den Deutschen? Noch fünf Wochen bis zur Bundestagswahl, doch statt "Wahlkampf- fieber", statt aufgeregter Streitgespräche unter den Bürgern geht ein müdes "Na, mal sehen" durchs Volk. Das Bonusmeilen-Gewese bleibt oberflächliches Skandalgeraune. Auch des Kanzlers neuester Wahlkampfrenner, der "deutsche Weg" in der Irak-Politik, entflammt die Deutschen nicht recht. Es herrscht eine stikkige Ruhe, als ginge das Geschehen in Berlin an den Menschen vorbei. Von knisternder Spannung vor einer historischen "Richtungsentscheidung" am 22. September ist nichts zu spüren.

Die Politik "nervt" zwar, das Ansehen der Akteure verharrt im Keller - daran hat sich seit Jahren nichts geändert. Doch die wütende Parteienverdrossenheit der 90er Jahre
ist verflogen. Wut - das wäre ja auch eine Art engagierter Teilnahme. Aber gerade die fehlt. Nicht allein das Für und Wider eines Regierungswechsels läßt die Normalverbraucher erstaunlich ungerührt. Die Menschen scheint letztlich die Republik als Ganzes kaum noch zu bewegen. Mehr Zeitgenossen denn je messen der Frage, wer in Berlin die Zügel in der Hand hält, offenkundig keine besondere Bedeutung zu.

Woran liegt die laue Nichtachtung? Ist es ein Zeichen der Zeit, der Globalisierung, welche die Nationalregierungen zunehmend unwichtiger aussehen läßt? Geradezu hysterische, ja blutige Wahlkämpfe in anderen europäischen Ländern (Holland) belegen etwas anderes. Ist es die Gleichförmigkeit unserer Parteien, das Fehlen eines Pim Fortuyn, einer Pia Kjaersgaard? Da liegt gewiß ein Teilgrund für die bundesdeutsche Schläfrigkeit. Dahinter aber rumort immer sichtbarer etwas Tiefergehendes - und zwar etwas, das sich nur aus dem Wesen und Werden der Bundesrepublik insgesamt erklären läßt.

Lange vor der Vereinigung machte das schnoddrige Diktum die westdeutsche Runde: "Die Bundesrepublik ist kalt - und sie läßt kalt." Ein Staat ohne jede Aura, der nichts verströmt außer Funktionstüchtigkeit, ein spröder Apparat zur Regelung der allfälligen Dinge.

Briten lieben ihre Monarchie über alle Krisen hinweg, nicht minder die Franzosen ihre Republik. Die Monarchie, die Republik, ergo: der Staat ist hier mit der Nation eins. In der Bundesrepublik ist das anders. Als Bundespräsident Heinemann gefragt wurde, ob er Deutschland liebe, gab er abweisend zurück: "Ich liebe meine Frau." Diese kühle Distanz der Politik zur Nation hat dort, im Volk, offenkundig ihre Entsprechung gefunden. Der Nationsverdrossenheit der politischen Klasse folgte die Politikverdrossenheit der Nation. Man hat seine konkreten Forderungen an die Administration - eine gefühlsmäßige Zuneigung zur Republik, die in schwierigen Zeiten mobilisierend wirken könnte: Fehlanzeige. Die politische Intelligenz und die Medien des Landes empfinden diese fade Nüchternheit keineswegs als Problem. Ganz im Gegenteil: Sie feiern die Ödnis als "demokratische Normalität", die sich wohltuend abhebe von den "verhängnisvollen" Aufwallungen der "deutschen Vergangenheit".

Die deutsche Vergangenheit, das ist nach populärer Darstellung kaum mehr als Adolf Hitler. Was vor ihm geschah, hat entweder als sein Vorspiel herzuhalten oder darf für uns heute nur noch von musealem Interesse sein. Sollte doch noch etwas gefunden werden, das positive Traditionslinien ermöglicht, so wird dies schnellstmöglich von Deutschland abgelenkt. Magdeburg feierte Otto den Großen als großen "Europäer", in gleicher Weise werden Goethe, Kant, Beethoven etc. gern auf das Gemeinschaftskonto gesamteuropäischer Erinnerung überwiesen. Nur wem in der deutschen Geschichte auch bei allen Verrenkungen keine "europäische Vision" nachzudichten ist, den dürfen die Deutschen behalten unter der Rubrik "Wegbereiter des verhängnisvollen Sonderwegs".

Die deutsche Republik soll sich ihre historische Identität woanders suchen als in Deutschland, von wenigen freigesprochenen Relikten abgesehen. Dabei nimmt die Distanz der politischen Führung der Republik zur Nation mit wachsendem Abstand zum NS-Staat nicht etwa ab, sondern sogar zu. Mit Feuereifer werden die letzten Reste traditionaler Rückbindung an die eigene Geschichte gekappt, insbesondere an jenem Ort, der in allen Ländern der Welt als herausgehobener Platz für die Pflege von Stolz und Tradition gilt: beim Militär. Die Bundeswehr ist traditions- und stilbewußten Zeitgenossen nach einer Lawine von (Anti-)Traditionserlassen nur noch peinlich.

Selbst das Reichstagsgebäude ist ein beredtes Zeugnis dieser gewollten Abtrennung der Bundesrepublik von ihrer Nation. Draußen die gekonnte Inszenierung eines großen Volkes mit tiefen Wurzeln, drinnen - ein klotziges Nichts. Den einzigen Hinweis auf Geschichte geben hier die häßlichen Triumph-Krickeleien der Rotarmisten von 1945. Deutschland, richtiger: die Bundesrepublik schweigt dazu mit grauen Wänden. Am alten Portal wird "dem deutschen Volk" gehuldigt, im neuen Innenhof einer zufällig zusammengelaufenen Masse - "Der Bevölkerung".

Den Deutschen war diese Leere, dieses Schweigen, diese losgelöste Ignoranz ihres Staates ihrer Nation gegenüber lange Zeit nicht als gravierendes Defizit zu Bewußtsein gekommen. Die "BRD" war ja sowieso nur als Provisorium etabliert worden. Ein Provisorium fragt man nicht nach seinem Traditionsverständnis, es hat zu funktionieren. Und es hat sein Endziel zu erreichen. Letzteres wurde (begleitet von einem Schock für die Vertriebenen) nach mehrheitlicher Meinung 1990 gemeistert.

Doch seitdem sitzen die wiedervereinten Deutschen beieinander wie zwei im Fahrstuhl Steckengebliebene: Als habe man sich die Gesellschaft nicht ausgesucht, als wisse man auch gar nicht, wie es gekommen ist, daß man gerade mit dem da jetzt zusammenhockt. Man arrangiert sich irgendwie, es ist ja nun nicht mehr zu ändern. Der eine hat den volleren Brotbeutel und muß zähneknirschend abgeben, der andere rächt sich mit nostalgischem Gemaule, wie schön das Dasein allein war.

Das Wissen, daß hier etwas Wunderbares durch Mut und Glück wieder zusammengefügt wurde, dieses Wissen scheint verlorengegangen. Nein, es wurde und es wird durch das Bildungssystem der Bundesrepublik regelrecht aberzogen. Denn eine Nation erkennt sich und ihren Wert in ihrer Geschichte. Wer einen heutigen Mitzwanziger fragt, was er hinsichtlich deutscher Geschichte in der Schule gelernt hat, bekommt die immer gleiche Antwort: Hitler, den Holocaust. Hitler gab s in Geschichte, in Deutsch, in Religion, in Politik, in Philosophie, manchmal schon im Kindergarten. Die nächste Frage, ob es nicht phantastisch sei, daß diese Deutschen nun endlich wieder eins seien, erübrigt sich da.

Es grenzt an ein Wunder, daß die Deutschen bei Anlässen wie Fußballweltmeisterschaften einen natürlichen Patriotismus auszuleben imstande sind, der ihnen längst fremd geworden sein sollte. Ein Verdienst der Bundesrepublik, sprich ihrer Schulen und Medien, ist das nicht. Diese Reste von Nationalgefühl hat sich das Volk eher schon gegen seine Führung bewahrt.

Blicken wir zurück: Als die Deutschen 1989 auf der Mauer tanzten, sich fahnenschwenkend anschickten, ihre nationale Wiedergeburt zu feiern, galt Alarmstufe Rot. Deutsche "Großmannssucht" lautete eine vielgebrauch- te Vokabel in Medien und Poli- tik, vom "größer gewordenen Deutschland", vor dem sich die Welt fürchte, war die absurde Rede. Am 3. Oktober 1990 dann kam die Entwarnung. Erleichtert wurde konstatiert, wie unspektakulär alles vonstatten gegangen sei. Monatelang hatten Experten offenbar nach einem Vereinigungs-Datum gesucht, an dem in der deutschen Geschichte nichts Besonderes passiert ist, um nur ja keine "verhängnisvollen" Anknüpfungen an die "Vergangenheit" zu provozieren. Der 3. Oktober ist symbolträchtig ge- schichtsfrei. Die Bonner Republik hatte dem neuen Gebilde erfolgreich ihre Ärmelschoner übergestülpt und ihre Gesichts- und Geschichtslosigkeit vererbt. Und ihre Kälte.

Das schien zunächst gar nichts Schlimmes, solange der Laden lief. Eine knallharte Währung, eine vorbildliche Wirtschaft, eine fabelhafte Infrastruktur, ein einmaliges Sozialsystem, Wohlstand und Sicherheit für alle, "uns geht s doch gut!".

Nun, die Währung ist weg, die Wirtschaft dümpelt bestenfalls, die Staatsfinanzen sind marode wie die Bildungseinrichtungen und die Armee, das Sozial- und das Rentensystem laufen aus dem Ruder.

Zudem sind die weltpolitischen Konstanten dahin, an welche der saturierte Bundesrepublikaner und seine Politiker ihre Ersatz-Identität in Zeiten des Kalten Krieges heften konnten. Einst mußte noch dem Kommunismus standgehalten und "Europa gebaut" werden.

Der Ostblock ist weg. Der Ausbau der EU ist heute allenfalls Grund für Sorgen. Selbst die "westliche Wertegemeinschaft" steht nach dem Rückfall der USA ins imperiale Faustrecht ziemlich ramponiert da. Kurz: All die großen und kleinen Dinge, mit denen die Bundesrepublik über ihr merkwürdiges Vakuum hinwegtäuschen konnte, sind zerstoben oder verblaßt.

Andere Länder tun sich ebenfalls nicht leicht mit den Veränderungen unserer Zeit. Doch sie haben als wegweisenden und sinnstiftenden Halt ihre Nationalgeschichte. Die Bundesrepublik aber versteht sich dezidiert als Gegenentwurf zur Tradition jenes Landes, auf dem sie errichtet wurde - siehe Reichstag, siehe Bundeswehr u.v.m. Geschichte, das sind für ihre Tonangeber die "Dämonen der Vergangenheit", vor denen man sich in die oben erwähnten, vergänglichen Konstrukte in vermeintliche Sicherheit gebracht hatte.

Die Deutschen haben es meistenteils verschüchtert oder resigniert aufgegeben, ihr demokratisches "Recht auf Vaterland" bei den politischen und medialen Eliten der Bundesrepublik einzuklagen. Sie sind sogar zu müde, auf das grundgesetzlich verbriefte Recht zu drängen, sich eine eigene Verfassung zu geben. Das hätte, so steht es geschrieben im Grundgesetz, nach "Vollendung der Einheit" per Volksabstimmung geschehen müssen. Die politische Klasse hat arrogant entschieden, dem Volk dieses fundamentale Recht vorzuenthalten. Das ist nicht allein ein verfassungspolitischer Skandal erster Ordnung. Es ist vor allem ein symbolischer Akt, der aufzeigt, welchen Wert die politische Klasse Bonns und Berlins der Nation und ihren Rechten beimißt.

Die Sache hat indes für die politische Führung einen Haken, der nach und nach zutage tritt: Ihr bleibt der ehrliche Rückgriff auf vaterländische Tugenden wie Selbstbehauptungswillen und solidarischer Einsatz für das Wohl der Nation in Notlagen verwehrt. Daher läuft nicht nur Schröders jüngster, rein machttaktisch motivierter Griff in die pseudopatriotische Phrasenkiste ins Leere. Auch ernstgemeinte Appelle verhallen: Wir erinnern uns an Roman Herzogs Ruf nach einem "Ruck durchs Land". Die Wirkung war gleich null, die Deutschen ahnten: Da will eine politische Klasse ein Volk für sich mobilisieren, die dessen (selbstbestimmte, demokratische und selbstbewußte) Mobilisierung in Wahrheit fürchtet wie den Rachen des Lindwurms.

So gehen "Ruck-durchs-Land"-Reden am Publikum vorbei. Die Menschen ziehen sich vom Geschehen einer Republik zurück, die eigentlich gar kein Vaterland (Land der Väter also) sein will. Mit der Bundesrepublik fühlt sich kaum jemand emotional, gar patriotisch verbunden. Sie hat keine Verwurzelung, weil ihre politische Klasse, die sich - wie Richard v. Weizsäcker es polemisch formulierte - "den Staat zur Beute gemacht" hat, dem Volk zutiefst mißtraut.

Jetzt, da dies seelenlose Vehikel Bundesrepublik in den Augen der Deutschen nicht mehr richtig funktioniert, gehen sie halt jeder für sich allein weiter. Keine gemeinsame Anstrengung, keine nationale Mobilisierung, die auf den guten Traditionen des Landes fußt, wie etwa jüngst in Holland. Die Nation der Deutschen begegnet der abschätzigen Distanz, welche die politische Klasse der Bundesrepublik ihr entgegenbringt, mit der Flucht ins Private. Statt Roman Herzogs "Ruck durchs Land" eignet sich somit Riesters "Private Vorsorge" weit besser zur Parole deutscher Befindlichkeit im Jahre 2002.

 

Das einzig Historische sind die Triumph-Krickeleien der Rotarmisten von 1945: Innenansicht des "neuen" Reichstages
 
     
     
 
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