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Schimmelreiter und Geldäpfel

 
     
 
Wer Mitte Dezember noch immer keine Weihnachtsstimmung verspürt, ist selbst schuld. E sollte sich nicht mit dem Konsumrausch in den Geschäftsstraßen herausreden.

Schließlich gibt es viele Möglichkeiten adventlichen Erlebens: ausgedehnte Lektür bei Kerzenschein, entweder in der Bibel oder in einem Buch, das man längst lesen wollte Bastelarbeiten, ein Gedankenspaziergang auf einem stillen Waldweg oder ei Weihnachtsmarktbummel mit der Familie oder Freunden.

Anregend ist auch die Beschäftigung
mit alten Weihnachtsbräuchen aus der Gegend, in der man zu Hause ist oder an der das Herz hängt, weil man in ihr geboren wurde un aufgewachsen ist. Dabei läßt sich manch Vergessenes ausgraben, was es verdient hätte neu aufgegriffen zu werden.

In der Regel bieten Bibliotheken oder Buchhandlungen die nötigen Informationen. Un für alle, die ganz genau wissen wollen, was es mit dem "Geldapfel" unte schlesischen Weihnachtsbäumen auf sich hat, was der "Schimmelreiter" in Ostdeutschland oder Pommern anstellte, warum vor 1945 in Krippenlandschaften im mährische Altvatergebirge neben dem Wiener Stephansdom das Washingtoner Weiße Haus auftauchte ode wie es zu dem lateinisch-deutschen "Lichtersingen" in Siebenbürgen kam, se eine Reise nach Freiburg empfohlen.

Im Villenviertel Wiehre gibt es dort eine mit ost- und auslandsdeutschen Theme befaßte Einrichtung, die zu Unrecht relativ wenigen Leuten bekannt ist: da "Johannes Künzig-Institut für ostdeutsche Volkskunde". Das, was die in unmittelbarer Nachbarschaft zum "Deutschen Volksliedarchiv" zu findend Jugendstilvilla für die Wissenschaft, aber auch für eine breitere Schicht vo Interessenten bereit hält, sind wahre Schätze der

Überlieferung deutscher Kultur aus dem Osten.

Als Ergebnis eines jahrzehntelangen Sammelns des kulturellen Erbes der deutsche Heimatvertriebenen konnten eine gigantische Menge von 1225 Tonbändern, mehr als 500 ältere Dias aus allen Siedlungsgebieten sowie einige bedeutende Nachläss zusammengetragen werden. Natürlich gibt es auch eine umfangreiche Fachbibliothek.

Unter den über 1200 archivierten Periodica lassen sich kleinste Heimatblätter finde – vom "Fraustädter Ländchen", über den "Löwenberge Heimatgruss" bis zum "Memeler Dampfboot".

Die Nachlässe sind bis heute nur ansatzweise fachlich aufgearbeitet und schon ga nicht für die Öffentlichkeit in angemessener Form zusammengefaßt. Dies gil insbesondere für das erst 1998 ans Institut gelangte Sagen-Archiv des bekannte schlesischen Volkskundlers Will-Erich Peuckert mit rund einer Million Belegen sowie fü das 1985 übernommene Archiv des 1902 in Brünn geborenen und in der deutschen Sprachinse Bielitz aufgewachsenen Alfred Karasek.

Letzteres besteht zum Großteil aus Protokollen und Direktnotierungen aus den Bereiche Volkserzählung, Volksschauspiel und Krippenforschung. Da weihnachtliche Erzählungen un Bräuche über Generationen hinweg die Phantasie der Menschen stark beschäftigt haben un gut in Erinnerung geblieben sind, können "Schatzsucher" in Freiburg nich zuletzt in diesem Bereich fündig werden.

Der Name Alfred Karasek weist auf Traditionen der Volkskunde in Deutschland zurück denen das Institut auch über seinen Gründer und Namenspatron Johannes Künzig auf engste verbunden ist. Leute wie Karasek, Walter Kuhn und Josef Lanz, die in den 1920e Jahren zusammen einer Bielitzer Wandervogelgruppe angehörten, empfanden ein ausgeprägte grenzübergreifendes Gemeinschaftsgefühl mit den Landsleuten im Osten.

Diese Solidarität war der Antrieb für ausgedehnte Fahrten und Feldforschungen, vo deren Früchten die Forschung bis heute zehrt. So stammen von Lanz und Karasek zu Beispiel die einzigartigen Sammlungen zum deutschen Volksschauspiel in de auslandsdeutschen Siedlungen Böhmens und Mährens, Galiziens, der Bukowina, der Batschka des Banats, Syrmiens und Sloweniens. Und der Siedlungshistoriker Walter Kuhn gehörte in den 20er Jahren zu den ersten Protagonisten der sogenannte "Sprachinselvolkskunde".

Der 1897 in Pülfringen im badischen Frankenland geborene Johannes Künzig richtet sein Augenmerk zuerst auf die eigene Heimat. Parallel zu seiner Dissertation über die "Geschichte des Volksliedinteresses in Baden seit der Romantik" und de Gründung des Badischen Volksliedarchivs im Jahre 1923 begann Künzig als Schüler de Volksliedsammlers John Meier mit Aufzeichnungen von im Badischen gesungenen Liedern, die er ab Ende des Jahrzehnts auch akustisch mit dem Edisonograph auf Wachswalzen für die Nachwelt zu erhalten trachtete.

Ebenfalls 1923 erschien sein erstes Buch unter dem Titel "Badische Sagen" denen 1930 in der Sammlung des Diederichs Verlags die "Schwarzwaldsagen" folgten. Zu Beginn der 30er Jahre entdeckte Künzig schließlich sein volkskundliche Interesse für die aus Baden und dem gesamten oberrheinischen Raum im 18. Jahrhundert ge Südosten ausgewanderten Deutschen. Zwischen 1930 und 1945 unternahm er ganz auf sic gestellt Feldforschungsreisen in das Banat und nach Siebenbürgen, wobei ihn die Erkenntnis vorantrieb, in so manchem Kolonistendorf mit überwiegend oberdeutsche Siedlerherkunft Erzählungen, Lieder und Bräuche entdecken zu können, die in de "Mutterlandschaften" vergessen waren.

Etliche Bücher bildeten den Ertrag dieser volkskundlichen Pioniertaten. Späte folgten weitere Fahrten in die Slowakei und die Ukraine.

Nachdem Johannes Künzig zwischen 1937 und 1942 als Professor für Volkskunde an de Hochschule für Lehrerbildung in Karlsruhe und von 1942 bis zum zerstörerische Bombenangriff am 27. November 1944 als Leiter des neu eingerichteten Instituts fü Volkskunde an der Universität Freiburg tätig gewesen war, engagierte er sich in de direkten Nachkriegszeit bei der Caritas für die hilfsbedürftigen deutsche Ost-Flüchtlinge.

Im Jahre 1950 rief Künzig dann nach seiner Pensionierung eine private Forschungsstell für die Volkskunde der Heimatvertriebe-nen ins Leben, die die Keimzelle des heutige Instituts bildet. Ein Jahr später veröffentlichte er in der Vertriebenenpresse eine Aufruf zur Sammlung volkskundlicher Überlieferung. Das Echo bestand in regelrechte Materiallawinen. So sandte der Oberlandesrat Dr. Otto Wenzelides aus dem schlesische Troppau im Laufe von Monaten 178 Schulhefte mit handgeschriebenen Aufzeichnungen ein.

Ferner wurden in allen Teilen der Bundesrepublik und Österreichs Volkslieder un Erzählungen der Vertriebenen in ihren Mundarten auf Tonband aufgezeichnet. Diese Arbei war vorrangig, da ältere Zeitzeugen nicht mehr lange zu leben hatten und die Erinnerun an den Alltag in der Heimat mit den Jahren schwächer wurde. Das 1958 erschienen Ton-Bild-Buch "Ehe sie verklingen ... Alte deutsche Volksweisen vom Böhmerwald bi zur Wolga" mit vier Schallplatten sowie dokumentierenden bzw. erläuternden Texte schrieb Volkskundegeschichte. Über 50 Platten mit Titeln wie "Gottschee Volkslieder" oder "Balladen aus ostdeutscher Überlieferung" folgten.

Seit 1965 wird Künzigs Institut mit Mitteln des Landes Baden-Württemberg finanziert und seit 1983 trägt es nach dem Tod des Gründers dessen Namen. Der jetzige Leiter, Prof Werner Mezger, bilanzierte die Leistungen seiner Vorgänger auf einer Tagung im Oktobe 1998 mit den Worten: Dieser Bereich sei "so konsequent und systematisch erschlosse wie kein anderes Gebiet der Volkskunde".

Allerdings werden die "Volkskunde der Heimatvertriebenen" und die "Sprachinselvolkskunde" heute oft als unzeitgemäß abgestempelt. Das gil teilweise sogar für die traditionelle Volkskunde insgesamt, sprich die Erforschung vo Volksliedern, Märchen und Sagen, Bräuchen aller Art, Wohn- und Handwerkskultur, die sei den 1970er Jahren immer mehr an den Rand des Faches gedrängt wurden.

Dafür rücken in der an manchen Universitäten als "Europäisch Ethnologie", "Empirische Kulturwissenschaft" ode "Kulturanthropologie" bezeichneten Disziplin Themen ins Blickfeld, die ma früher der Soziologie zugeordnet hätte: Frauen-, Arbeiter- und Stadtteilforschung Freizeitverhalten usw.

Bedauerlich ist auch, daß seit Mitte der 80er Jahre eine begrifflich "Entsorgung" der "ostdeutschen Volkskunde" stattfindet. Die "Kommission für ostdeutsche Volkskunde" heißt inzwischen "Kommission fü deutsche und osteuropäische Volkskunde", obwohl es weder um hessische ode mecklenburgische, noch um russische oder ukrainische Volkskunde geht.

Die Hauptsache ist offenbar, daß der Begriff "ostdeutsch" im alten Sinn verschwindet. Bislang hat sich das Johannes-Künzig-Institut dieser Sprachregelun erfreulicherweise noch nicht angepaßt.

 
     
     
 
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