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Sie haben nichts zu verlieren

 
     
 
Seit Anfang des Jahres sind etwa 16000 Flüchtlinge in rund 2000 "Cayucos", so werden die traditionellen afrikanischen Holzfischerboote genannt, allein nach Teneriffa gekommen, die übrigen Kanareninseln weisen ähnliche Zahlen auf. Die Überfahrt ist lebensgefährlich, die meisten Reisenden sind Nichtschwimmer. Die Dauer der Seefahrt ist unterschiedlich, von Mauretanien aus brauchen die Boote etwa fünf bis sechs Tage, von Senegal aus sind es zehn bis 14 Tage. Wer die Sonne der Kanaren kennt, kann allein die Qual, mit wenig oder keinem Trinkwasser ausgestattet zu sein, erahnen. "Viele der Afrikaner trinken dann Meerwasser, ohne zu wissen, daß das noch schlimmer als gar kein Wasser ist", berichtet Austin Taylor, Koordinator der Hilfseinsätze des Roten Kreuz
es auf Teneriffa.

Wissen denn die Afrikaner nicht von all den schwierigen Realitäten? Im allgemeinen sind die Ankömmlinge über das, was sie erwartet, schlecht oder gar nicht informiert, erklärt Marta Rodriguez, Beauftragte für Integration und Sensibilisierung von "Las Palmas Acoge". Bereits 1989 wurde "Las Palmas Acoge" als ehrenamtlich arbeitende Sozialstation gegründet, die illegalen Einwanderern die Möglichkeit zu Unterkunft, juristischer Unterstützung und Integrationshilfe bietet. Die Philosophie der Station vermeidet den Begriff "illegale Einwanderung", kein Mensch sei illegal, besser spreche man von "irregulärer Migration". Das Projekt setzt an dem Punkt an, an dem die Flüchtlinge nach 40 Tagen im Aufnahmelager auf der Straße landen. Etwa 80 Prozent der "Gäste" kommen aus Marokko, Ghana und Sierra Leone. Normalerweise handelt es sich um unverheiratete Männer im Alter von 20 bis 45 Jahren, doch kommen auch Frauen an. "Bei den Einreisenden sind alle sozialen Schichten vertreten", so Marta Rodriguez, "vom Landarbeiter über Schäfer, Fischer bis hin zu Universitätsprofessoren war hier schon alles vertreten." "Manche Ankömmlinge haben eine sehr unrealistische, ja kindliche Vorstellung von dem, was Europa sei. Wir hatten hier Sportler, richtig durchtrainierte Jungs aus Liberia. Die kamen an und waren erstaunt und enttäuscht, daß unsere Station kein Fitneßstudio und kein Schwimmbad hat und sich keine Möglichkeit bietet, sofort schnell ein berühmter Spitzensportler zu werden", erzählt Marta und lächelt mitleidig und gleichzeitig amüsiert. Ihr Schützling Charqui wußte schon, daß es schwierig werden würde, die heiß begehrten "Papiere" zu bekommen. "Das erfährt man von Freunden und Bekannten, erst in Marokko und dann auch hier an jeder Straßenecke", sagt er. Aber Anrufe von hier aus nach Hause beschwichtigen die Familie und verschleiern die wahre Situation: "Ich sage meiner Familie, es geht mir gut. Sie sollen sich keine Sorgen machen. Sie verstehen nicht, daß ich kein Geld verdienen kann ohne Papiere", erklärt Charqui. Viele wollen sich, und gerade auch vor der Familie und Freunden, kein Scheitern im vielgelobten Westen eingestehen und schönen daher die Wirklichkeit, bleiben hier und versuchen weiterhin, sich irgendwie durchzuschlagen, auf daß es irgendwann klappe. Die, die die Einreise ins "Paradies Europa" per Boot wagen, hören zwar von den Risiken der Reise, "aber sie können sich die Gefahren der Überfahrt gar nicht richtig vorstellen", so Taylor. Maria Jesus Reguera Arjona, Sozialarbeiterin bei "Las Palmas Acoge", weiß von einem Videoprojekt in Guinea-Conakry, das mit drastischen Aufnahmen vor der Überquerung des Atlantiks warnt. Doch die Aussicht auf einen Verdienst, mit dem eine ganze Familie unterhalten werden kann, ist zu attraktiv. "Diese Menschen sind zu allem bereit, die meisten haben nichts zu verlieren und alles zu gewinnen", gibt Taylor zu bedenken.

Oumar Kasse, ebenfalls Mitarbeiter bei "Las Palmas Acoge", selbst gebürtiger Senegalese und nun in Gran Canaria verheiratet, betont die Notwendigkeit, die afrikanische Jugend aufzuklären. Vor allem die afrikanische akademische Elite, aber auch die Mittelklasse müßte bleiben, um das "Ausbluten des Kontinents" zu stoppen. Sie müßten begreifen: "Die Zukunft liegt in Afrika."

Jeder einzelne Europäer könne da nicht allzuviel tun. "Da sind schon die Politiker gefragt. Allerdings sind wir es, die sie wählen", räumt Rot-Kreuz-Mitarbeiter Taylor ein. Wie die Mitarbeiter von "Las Palmas Acoge" erachtet auch er ehrliche Investitionen und Geschäftsbeziehungen zwischen Europa und Afrika als wichtige, langfristige Lösungsansätze. Bis dahin müßte allerdings ein zielgerichtetes und effektives Konzept für Entwicklungshilfe gefunden werden, daß die Korruption in den afrikanischen Oberschichten umgehen könne.

Und was hilft auf die Schnelle, welche Lösungen könnten da greifen? Taylor denkt kurz nach, bevor er sich äußert. "Ich denke, die Grenzkontrolle durch ,Frontex ist zumindest von menschlicher Seite her gesehen ein positiver Ansatz. Denn immerhin werden damit weitere Opfer verhindert." Letztlich werde damit auch den Menschenhändlern, die die Überfahrt verkaufen, ein Strich durch die Rechnung gemacht. "Wir dürfen bei all den Diskussionen nicht vergessen, daß es Menschen sind, die hier ankommen. Und wenn man bedenkt, daß da größtenteils die normale Mittelklasse Afrikas ohne Hab und Gut in miserablem Zustand hier ankommt, dann läßt sich vage erahnen, wie dort drüben die Situation ausschaut", schließt Taylor. Daß es zwischen der Lokalbevölkerung und den Einwanderern zu Mißverständnissen und Reibereien kommen kann, erklärt Taylor mit verschiedenen Sitten: Zwar sind vor allem die Afrikaner aus den südlicheren Regionen sehr höflich, doch haben sie beispielsweise die für Europäer befremdliche Eigenschaft, mit einem zischenden ‚tsts" - Taylor imitiert es lachend - "statt einem ,Entschuldigen Sie bitte um Aufmerksamkeit zu bitten."

"Die Ängste der Europäer vor so vielen Fremden kann ich schon verstehen", meint Marta Rodriguez, "aber wir können von den Ankömmlingen Werte vor Augen geführt bekommen, die hier immer mehr ins Vergessen geraten: Zuhören, Respekt, Hilfsbereitschaft. Und in Afrika wirft man nichts weg."

 

Chancenlos in Afrika

Wie könnte man denn verhindern, daß immer mehr Menschen aus Afrika kommen? In seinem frisch gelernten Spanisch mit französischem Akzent meint der Marokaner Charqui kurz: "Europa muß helfen." Der 30jährige ist für 1500 Euro von einem großen Fischereischiff auf die Kanaren mitgenommen worden, für ihn schon ein kleines Vermögen. In Marokko hat er sich mit Taxifahren die "Eintrittskarte" verdient. Nun wartet er auf seine Legalisierung, wenn er nur drei Jahre einen festen Wohnsitz in Spanien nachweisen kann. Damit sieht es allerdings nicht so rosig aus. Denn er hat sich bei seinem ersten illegalen Einreiseversuch vor anderthalb Jahren bereits einen Abschiebungsbefehl eingehandelt. Früher habe er als Fischer in Marokko ganz gut verdient, aber mittlerweile bringe das nichts mehr ein. Denn "in Marokko gibt es zwar Arbeit, aber kein Geld", erklärt sein ebenfalls aus Marokko stammender Freund Driss und fährt fort: "Ich habe zwölf Stunden am Tag gearbeitet und hatte abends dann 100 Dirham verdient, das sind ungefähr neun Euro." Und das, obwohl Driss eine technische Ausbildung als Mechaniker hat. "Afrika und auch Marokko brauchen geschäftliche Kontakte mit Europa", so Driss.
 
     
     
 
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