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Vom hundsköpfigen Riesen zum Verkehrspatron

 
     
 
Ob Christen oder Agnostiker – viele haben eine Christophorus-Plakette in ihrem Auto. Die einen vertrauen fest auf den Schutz des Riesen mit dem Christuskind auf den Schultern, die anderen sagen sich: „Schaden kann es jedenfalls nicht!“ So wirkt die Verehrung dieses Märtyrers aus der Antike in gewandelter Brauchform bis in unsere Tage der Hochtechnisierung fort.

Im Orient genoß Christophorus unter dem Namen Reprobus als riesenhaftes tiermenschliches Mischwesen (Mann mit Hundekopf) lange Zeit große Verehrung. Seit Alexanders des Großen Tagen ging die Kunde von solchen Mischwesen in den orientalischen
Ländern um und beflügelte die Phantasie der Menschen. Reprobus wurde der Legende nach durch die Taufgnade dem dumpf-tierischen Bereich entrissen, und bevor er zum Blutzeugen wurde, trug er Christus in Kindsgestalt über einen Strom. Derartiges ist der ägyptischen Mythologie nicht fremd. So trug etwa der schakalköpfige Totengott Anubis den knabenhaften Sonnengott Horus über den Nil. Parallelen finden sich in der römischen, indischen und germanischen Mythologie.

Im Abendland konnte sich der hundsköpfige Heilige nicht durchsetzen. Hier war er der Riese mit menschlichem Antlitz auf der Suche nach dem mächtigsten Herrn. Den glaubte er zunächst in einem König gefunden zu haben, doch schied er aus dessen Diensten, als er feststellen mußte, daß dieser den Teufel fürchtete. Wie dem König kündigte Reprobus auch dem Teufel den Dienst auf, als er sah, daß dieser dem Kruzifix auswich. Unterwiesen von einem Einsiedler, glaubte er dem Gekreuzigten dienen zu können, wenn er Pilger über einen wilden Strom trug. So auch den Knaben, unter dessen Last er schließlich in die Knie gezwungen wurde: Er trug Christus, den Herrn des Weltalls. So wurde Reprobus zum Christophorus, das heißt Christusträger.

Unsere mittelalterlichen Vorfahren sahen in Christophorus, dessen Gedächtnis am 25. Juli begangen wurde, vor allem einen Nothelfer: als Fürbitter bei Gott in allen Fällen, in denen die Menschen von schweren Krankheiten, Seuchen wie der Pest, Feuersbrünsten und Hungersnöten heimgesucht wurden. Die größte Bedeutung aber hatte Christophorus als Sterbepatron. Nichts fürchteten die Menschen damals mehr als einen plötzlichen Tod, der sie unvorbereitet, in Sünde und Schuld, jäh aus dieser Welt hinwegriß ins ewige Verderben. Im 12. Jahrhundert bildete sich die Vorstellung heraus, wer den von Christophorus getragenen Christusknaben anschaue, der könne an diesem Tag nicht eines unbußfertigen Todes sterben. Als Blickfang dienten Christophorusfresken an Außenwänden von Kirchen, Schlössern und Rathäusern oder mächtige Christophorusstatuen im Eingangsbereich von Kirchen.

Mit den christlichen Missionaren und den Ordensrittern kam der Christophoruskult auch ins Preußenland und ins Baltikum. Ein berühmtes Zeugnis hierfür war der „Große Christophorus“, eine überlebensgroße Holzplastik, die als Wahrzeichen von Riga am Dünaufer stand. Über den Bereich der baltischen Völker hinaus drang die Kunde von dem wirkmächtigen Christophorus auch zu den Finnen und Lappen.

Der Reformator Martin Luther wollte überhaupt nichts Historisches an Christophorus anerkennen. Für ihn war er eine Erfindung, „anzuzeigen, wie ein Christ sein sollte“, eine Allegorie des christlichen Lebensweges. Dieser Art der Deutung entsprach es, daß die Mitglieder des Evangelischen Johannisstifts Berlin in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts Christophorus als ein Vorbild für die Arbeit sahen, „die Brüder und Schwestern von dem einen Ufer nach dem andern, von Ost nach West zu tragen, durch den ‚Fluß‘, der unser Vaterland so schmerzlich trennt“.

Von der Reichshauptstadt Berlin ging 1929 ein Impuls aus, der Christophorus als den Patron des modernen Verkehrswesens der Öffentlichkeit nahebringen wollte, hierin Initiativen aus Frankreich, Spanien und Österreich folgend. Der katholische Großstadtseelsorger Carl Sonnenschein hatte in Berlin und in der Mark zahlreiche Aktionen und Organisationen ins Leben gerufen, die mit modernsten technischen Mitteln den bis dahin etwas zurückgeblieben wirkenden Diasporakatholizismus attraktiv machen sollten. So hatte er auch den Anstoß zu einer „Deutschen Automobilvereinigung Christophorus“ gegeben, die 1929 eine Autowallfahrt nach Kloster Lehnin durchführte, der in den folgenden Jahren weitere Christophorus-Fahrten folgten. So begann ein Brauchtumswandel um den heiligen Christophorus. Dessen Popularität tat es kaum Abbruch, daß die römisch-katholische Kirche diesen Heiligen, dessen Martyrium historisch nur indirekt nachweisbar ist, 1969 aus dem liturgischen Heiligenkalender strich. Die Christophorus-Plaketten überlebten diesen kurialen Verwaltungsakt. Manfred Müller

 Christophorus trägt Christus über einen Fluß, wird von der Last des Kindes unter Wasser gedrückt und wird getauft.
 
     
     
 
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