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Macht und Kaderpolitik

 
     
 
Wodurch konnte die DDR so lange bestehen? Und warum ist der Staat im Herbst 1989 ohne Widerstand zerfallen? Außenpolitische Vasallität allein beantwortet diese Fragen nicht. Der Rätsel Lösung liegt auch in den inneren Machtstrukturen selbst. Die SED behauptete ihre totale Führung, weil sie alle maßgeblichen Positionen in Staat, Wirtschaft, Militär, Polizei, Medien mit Genossen besetzt hatte – und diese Machtpolitik
fand ihre organisatorische Form im System der Nomenklaturkader. Ein wenig ersprießlicher Fall für den Archivar. Matthias Wagner, 1990 Leiter des Zentralarchivs der ehemaligen Stasi, danach Referatsleiter Archiv beim Aufbau der Gauck-Behörde und später im Bundesarchiv tätig, hat die SED-Kaderpolitik untersucht. Er legte in einem in der Edition Ost erschienenen Buch Dokumente und Akten vor, rekonstruierte die Nomenklaturen akribisch aus dem Wissen der Archive.

Als Stärken der Kommunisten im Klassenkampf galten stets Überzeugung, Parteisoldatentum, Organisation – und Stalin entwickelte daraus das kaderpolitische Prinzip der Nomenklatura. Nomenklatur heißt Namenverzeichnis. Das Wort wurde schon von den Bolschewiki mit dem Begriff "Kader" verbunden. Ein roter Kader, das ist ein Funktionär, der seine Legitimität als Leiter einzig aus ideologischer Ergebenheit zieht. Er wird entsprechend seiner Treue zur Parteiclique ausgewählt. Der Kerngedanke des Kadersystems lautet: Jede Position muß von der nächst höheren bestätigt werden. Zwei Thesen legt Wagner vor. Erstens: Die Verzeichnisse waren nicht linear, selbständig, sondern bildeten ein Netz. "Von der Spitze beginnend, wurden die Nomenklaturen von Ebene zu Ebene nach unten weiterentwickelt." Die Parteichefs konnten über dieses ausgeklügelte zentralistische System den Staat und die Gesellschaft kontrollieren. In der DDR etwa bündelte sich die Macht im SED-Politbüro, "praktisch jedoch in der Hand seines Ersten beziehungsweise Generalsekretärs".

Die Forschung, so meint Wagner, hätte die rote Kaderpolitik meist ungenau beschrieben und vor allem unterschätzt. Das geheime System der Nomenklaturkader nämlich sei politisches Rückgrat und zugleich Korsett der realsozialistischen Parteistaaten gewesen. Wagners zweite – und überzogene – These lautet also: "Nicht Mauer und Schießbefehl, Stasi und Spitzel hielten die DDR zusammen und im Laufen, sondern die gezielte Besetzung aller ,Kommandohöhen‘ der Gesellschaft mit hundertprozentig der SED-Spitze ergebenen Führungspersönlichkeiten."

Wagner zeichnet die Geschichte des Nomenklatursystems seit den Anfängen in der Sowjetunion nach, stellt es als ein "kontinuierlich wirkendes Element des Stalinismus" dar. (Es irritiert dabei, daß er den Stalinismus, der den Leninismus in Theorie und Praxis zu Konsequenz brachte, lediglich als eine Art Fehlentwicklung abzutun bemüht ist.) Die KPD übernahm das erfolgreiche sowjetische Kadermodell 1945. Zunächst wurde die SED kaderpolitisch erobert, 1950 begann der gezielte Aufbau von Nomenklaturen, um die Gesellschaft zu dirigieren. Das Hauptziel hieß Verflechtung des Partei- und Staatsapparates, genauer: faktische Übernahme des Staates durch die Kommunisten. In der Krise 1960/61 rissen die SED-Kader "endgültig die Kontrolle über den Staatsapparat an sich". Besonders die Sicherheitskräfte wurden ganz der Partei unterstellt, die Volkskammer, das formelle demokratisch legitimierte Parlament, diente als Propagandabühne. Der Parteiapparat hatte die Personalhoheit im Land gewonnen.

1986 wurden die Hauptnomenklaturen letztmals neu definiert: das Kaderverzeichnis des ZK der SED sowie das des Ministerrates. Die Doppelung entsprach der verfassungsgemäßen Trennung von Partei und Staat: laut Artikel 5(1) übten die "Bürger der DDR ihre politische Macht durch demokratisch gewählte Volksvertretungen aus". Formell waren exekutive und legislative Gewalt getrennt, es gab Parteien, Verbände, Organisationen, Gewerkschaften. Doch blieb diese "sozialistische Demokratie" äußerlich. Über ihre Nomenklaturkader vor allem steuerte die Partei die Gesellschaft, alle Entscheidungsstellen im Staat waren zugleich von SED-Verzeichnissen erfaßt. Die Erhellung der totalitären Strukturen in der DDR ist das Verdienst der sachlichen Studie Wagners. Der Staatsrat als kollektives Staatsoberhaupt lebte nach Ulbricht weiter als Farce. Der Nationale Verteidigungsrat, de jure der Volkskammer verantwortlich, verkam zum Parteigremium. Das Oberste Gericht, der Generalstaatsanwalt wurden über die "Hauptnomenklatur" besetzt. Dieser Modus wiederholte sich auf den unteren Ebenen. Die Staatsorgane verwalteten den Alltag, besaßen aber keine machtpolitische Befugnis. Die Blockparteien funktionierten im übrigen beflissen von selbst, auch die Kirchen waren nicht in Nomenklaturen erfaßt, doch für ihre Einbindung reichte der Schein des Mitwirkens ("Kirche im Sozialismus") und die Lenkung durch das MfS. Ein Kader sollte zugleich Macht ausüben und dem Apparat dienen. Das System funktionierte dank Anpassung und blinder Gefolgschaft. Der Disziplin wurde durch Privilegien wie Strafe nachgeholfen. Jeder "Entscheidungsträger" lebte mit der Angst, in den Augen seines Vorgesetzten etwas falsch zu machen, "wobei es kaum objektive Kriterien gab". Die Abhängigkeit erzeugte vorauseilenden Gehorsam, provozierte Druck auf die folgende Ebene. Warum jedoch versagte das System? Warum verhielten sich die 2,3 Millionen Genossen im Herbst 1989 nicht konterrevolutiionär? An der Spitze der Hierarchie stand ein siecher Generalsekretär. Während das ruinierte Land in Aufruhr war, warteten die Kader ergeben auf Befehle von oben. Ein Parteisoldat war unabhängiges Handeln nicht gewöhnt; der Kader war Objekt, ein System. "Im dem Moment, da er eigenständig handelt und agiert, ist er kein Nomenklaturkader mehr – dann hört auch das Nomenklaturkadersystem auf zu existieren, weil dies zu unterbinden sein Daseinszweck war." Das System war nur um den Preis der Aufhebung reformierbar. Der ganze Apparat verharrte gelähmt, da die Spitze nicht handelte.

Alle Macht hat das Zentrum, und versagte diese Zentrale in einer Krise, "ist die Implosion des Machtsystems die logische Folge". Darin liegt durchaus ein Grund für den friedlichen Charakter der Wende 1989.

Wagner hat seiner spröden, unpolemischen Darstellung mehr als einhundert Seiten Anhang mitgegeben: darunter die erwähnten zentralen Nomenklaturen von 1986. Den Schluß bildet ein rührendes Interview mit Hans-Dieter Schütt, von 1984 bis 1989 Chefredakteur der "Jungen Welt", Kader der Hauptnomenklatura. Der einstige Propagandist führt in der quälenden Tradition kommunistischer Selbstanklage eine Fehlerdiskussion mit sich selbst, so daß man beinahe mitleidend von dem Buch scheidet.

Wagner, Matthias: Ab morgen bist du Direktor. Das System der Nomenklaturkader in der DDR, edition ost (Rote Reihe), Berlin 1998, 24,80 Mark

 

 
     
     
 
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