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Befreiung oder Niederlage oder was?

 
     
 
Auch wenn es die kommunistische Sowjetregierung in den 20er und 30er Jahren nicht gestört haben mag, daß Polen in der damals ostpolnischen Ukraine und in Weißrußland 95 orthodoxe Kirchen zerstört und abgefackelt hatten, so konnten die Sowjets diese Drangsal an Weißrussen und Ukrainern nicht auf Dauer ohne Konsequenzen gegenüber Polen dulden. Die Rückeroberung der eigenen Minderheiten, die in "Ostpolen" immerhin eine Vierfünftelmehrheit bildeten, war ein naheliegendes Motiv.

Im Hintergrund wirkte außerdem Stalins langfristige Absicht, die bürgerliche Ordnung in Zentraleuropa durch die kommunistische zu ersetzen. Er versuchte, dazu in Europa die Voraussetzungen für einen Krieg der Briten, Franzosen und Deutschen gegeneinander zu schaffen. Nach seiner Rechnung wäre Mitteleuropa nach einem solchen Kriege so verwüstet und verarmt, daß die Bevölkerung
dort reif und bereit für eine kommunistische Gesellschaftsordnung gewesen wäre. Stalin ließ zu diesem Zwecke 1939 fast gleichzeitig mit Großbritannien, Frankreich und dem Deutschen Reich verhandeln, um den drei Parteien den Rücken für einen Krieg gegeneinander zu stärken. Er bot Paris und London bis zu 120 Heeresdivisionen, wenn Briten und Franzosen dafür zum Krieg mit Deutschland schritten. Doch beide Staaten wollten dazu nur wenig eigene Truppen zur Verfügung stellen und den Sowjets die Hauptlast eines solchen Krieges überlassen. Das jedoch lag nicht in Stalins Absicht. So setzte der sowjetische Diktator auf die deutsche Karte, gab Hitler die Nichtangriffsgarantie vom 23. August 1939 und hoffte, daß der deutsche Diktator mit dieser Rückendeckung den ersten Schritt zum Kriege tun würde. Wegen der britisch-polnischen Garantieerklärung vom März 1939 konnte er ja damit rechnen, daß Briten und Franzosen nach dem ersten deutschen Schritt dem Deutschen Reich den Krieg erklären würden. Stalins Rechnung in Bezug auf den deutsch-britisch-französischen Krieg ging schon zehn Tage später auf. Dies alles hatte mit einer Befreiung Deutschlands nichts zu tun.

Die polnische Regierung von 1939 hätte nur ein einziges Interesse haben dürfen: die Konsolidierung und Bewahrung des von ihr geführten Vielvölkerstaats. Dazu hätte es einer Ausgleichspolitik im Inneren und nach außen hin bedurft, das heißt zu allen Nachbarstaaten und mit den elf Millionen Nichtpolen im eigenen Lande. Doch die polnische Regierung war 1939 in dieser Hinsicht in ihrer seit 1920 verfolgten Politik gefangen. Mit einer Außenpolitik, die mal die West- und mal die Ostausdehnung des eigenen Landes zu einem Staat Großpolen anstrebte, hatten die Polen zwischen 1919 und 1938 Kriege und Invasionen gegen die Sowjetunion, gegen Litauen, Deutschland und die Tschechoslowakei begonnen und geführt und sich damit alle Nachbarn außer den Letten und Rumänen zum Feind gemacht. Dazu kam eine drakonische Polonisierung der Minderheiten an Ukrainern, Juden, Deutschen, Weißrussen, Litauern und Ungarn in Polen, die sich in den 30er Jahren zu einer massiven Verfolgung und Unterdrückung auswuchs, und den 19 Millionen Polen elf Millionen Feinde im eigenen Land bescherte.

Das Volk der Polen und mit ihm die Regierung ab 1919 fühlten sich als die legitimen Erben der Polnisch-Litauischen Union, in der die Polen bis 1772 als Oberschicht über viele Völker fremder Sprache herrschten. Dieses Reich der Polen und Litauer reichte lange Zeit etwa 250 Kilometer nach Osten in den russischen Sprachraum hinein und umfaßte für begrenzte Zeit auch Gebiete mit deutschsprachiger Bevölkerung im Westen. Die polnische Elite von 1919 wollte geographisch an 1772 anschließen. So sagte der polnische Delegierte bei den Versailler Verhandlungen Dmowski, daß die dem neuen Staate Polen zugestandenen Gebiete "nur eine Anzahlung auf ein wirkliches Großpolen sind". Polen verlangte in Versailles den Anschluß von Teilen Pommerns, ganz Ostdeutschlands und Oberschlesiens.

Die Forderungen der Polen verstummten nicht, bis es zum Zweiten Weltkrieg kam. Der Stellvertretende Ministerpräsident Grabski schrieb 1923: "Vor allem besteht für die Machtpolitik Polens noch immer dasselbe grundlegende Dilemma, das auf unserer ganzen bisherigen Geschichte lastet, nämlich die Frage: Welche Richtung soll die Expansion des polnischen Volkes einschlagen?" Im Oktober 1925 stand in der Gazeta Gdansk zu lesen: "Polen muß darauf bestehen, daß es ohne Königsberg, ohne ganz Ostdeutschland nicht existieren kann. Wir müssen jetzt in Locarno fordern, daß ganz Ostdeutschland liquidiert wird." 1930 hieß es in der regierungsnahen Mocarstwowiec: "Unser Ideal ist, Polen mit den Grenzen an der Oder im Westen und der Neiße in der Lausitz abzurunden ... Wir werden die ganze Welt mit unserem Krieg gegen Deutschland überraschen." 1933 bot die polnische Regierung der französischen dreimal in Geheimverhandlungen an, gemeinsam mit Frankreich einen Krieg gegen Deutschland zu eröffnen. Im Juni 1939 berichteten zwei Beamte des britischen Auswärtigen Amts nach einer "fact finding mission" durch Polen von ihren Sondierungsgesprächen im polnischen Generalstab, "jedenfalls schien die allgemeine Auffassung zu sein, daß Ostdeutschland von Polen annektiert werden müsse".

Die polnischen Kriegsmotive schienen, nach allem, was wir heute über die militärischen Kräfteverhältnisse von 1939 zwischen Polen und Deutschland wissen, illusorisch. Doch ab dem Frühjahr 1939 begannen die britischen und französischen Regierungen die polnische zu drängen, bei den laufenden deutsch-polnischen Verhandlungen gegenüber Deutschland hart zu bleiben. Es ging bei den Gesprächen zwischen Warschau und Berlin um den zukünftigen Status der 1920 von Deutschland abgetrennten Hansestadt Danzig, um die Verkehrsverbindungen zwischen dem Reichsgebiet und dem 1919 abgetrennten Ostdeutschland sowie den Minderheitenschutz der in Polen verbliebenen eine Million Volksdeutschen.

Im März 1939 schlossen Großbritannien und Polen einen Vertrag zur gegenseitigen Militärunterstützung für den Fall eines deutsch-polnischen Konflikts um Danzig. Im Mai 1939 sagte der französische Oberbefehlshaber General Gamelin dem polnischen Kriegsminister Kasprzycki den Angriff des französischen Heeres gegen Deutschland für eben diesen Fall zu. Auch die USA signalisierten den Polen, daß sie auf ihrer Seite stünden. Und die Sowjetunion verhandelte bis zum Tage vor dem Abschluß des deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrages mit Großbritannien und Frankreich über einen gemeinsamen Krieg gegen Deutschland. Über die Gespräche wurde Polen ständig informiert. So glaubte man in Polen mit dem Versprechen der Briten und Franzosen, der Unterstützung der USA und der Illusion, die Sowjets ständen auf Seiten der Briten und Franzosen, bis kurz vor Kriegsbeginn, man könne einen Krieg gegen Deutschland leicht gewinnen. Auch dieses alles hatte mit einer Befreiung der Deutschen nichts zu tun.

Widmet man sich den deutschen Kriegsinteressen, springt als erstes ins Auge, daß Hitler am 1. September 1939 "wegen Danzigs" einen Krieg eröffnete. Doch das war nur der Anlaß. Die Gründe lagen tiefer.

Deutschlands Lage vor dem Zweiten Weltkrieg wurde von Verhältnissen geprägt, die weitestgehend Folgen von Versailles waren. Das Deutsche Reich beendete den Ersten Weltkrieg zwar mit Schulden, doch nicht überschuldet. Ein "normales" wirtschaftliches und demokratisch liberales Weiterleben wäre nach einem Ausgleichsfrieden 1919 durchaus möglich gewesen. Doch die dem Deutschen Reich 1920 ohne Verhandlungen auferlegten Friedenskonditionen belasteten die junge deutsche Nachkriegsrepublik in einer Weise, die den besiegten Deutschen eine Reihe von massiven Gründen hinterließen, den in Versailles festgelegten Status Deutschlands wieder zu verbessern. Die Gründe lagen auf den Gebieten der Wirtschaft und der deutschen Landesteile, die gegen das "Selbstbestimmungsrecht der Völker" von Deutschland abgetrennt und Nachbarstaaten zugeschlagen worden waren, also gegen den Willen der dort lebenden deutschen Mehrheitsbevölkerung.

Die 20 Reichsregierungen vor Hitlers Amtsantritt versuchten, die Verbesserung der Lage Deutschlands auf dem Verhandlungswege durchzusetzen. Die Regierungen der Siegermächte kamen ihnen in keinem wesentlichen Punkt entgegen. Ab 1933 versuchte auch Hitler, die Sanktionen des Versailler Vertrages auf dem Verhandlungsweg zu lockern, was ihm in keinem Fall gelang. Erst als er ab 1934 pokerte und ab 1937 mit Gewalt drohte, konnte er eines der Versailler Probleme nach dem anderen lösen. Dies ging so lange gut, bis er den Bogen überspannte und den Zweiten Weltkrieg auslöste. So wurden aus den vitalen Interessen der Deutschen Interessen, die den Krieg auslösten. Der damalige britische Botschafter in Berlin Henderson schrieb dazu: "Die Nachkriegserfahrung hatte Nazi-Deutschland unglücklicherweise gelehrt, daß man ohne Gewalt oder Androhung von Gewalt nichts erreichen konnte."

Das erste vitale Interesse lag auf wirtschaftlichem Gebiet. Deutschland hatte ab 1920 Reparationen in nicht einlösbaren Dimensionen zu bezahlen. Die Schuldverschreibungen zur Bezahlung der letzten Zinsen für die Reparationen aus dem Ersten Weltkrieg muß die Bundesrepublik Deutschland bis zum Jahr 2010 einlösen.

Das besiegte Deutschland hatte seine Handelshochseeflotte sowie einen großen Anteil seines Eisenbahn- und Lkw-Fuhrparks an die Sieger abzugeben. Es verlor drei seiner vier Kohlereviere an zwei Nachbarstaaten, dazu 75 Prozent der Eisenerzvorkommen, große Landwirtschaftsgebiete, die privaten Auslandsvermögen und die Auslandsniederlassungen der deutschen Wirtschaft. Deutschland mußte 26 Prozent des Wertes seiner zukünftigen Exporte als Strafe an die Sieger zahlen und sich die Masse seiner Reparationszahlungen als Kredite im Ausland borgen. So waren die Lage der deutschen Wirtschaft, des Außenhandels und der Devisen nach zehn Friedensjahren katastrophal. Die Sieger gaben Deutschland keine Chance zur Erholung. Die deutsche Bevölkerung brauchte bedingt durch die Gebietsverluste mehr Lebensmittel- und Rohstoffimporte als vor 1914. Die Devisen hierfür mußten im Ausland verdient werden. Gleichzeitig weigerte sich das Ausland, Importe aus Deutschland aufzunehmen. Die Zölle auf deutsche Waren wurden ständig erhöht, deutsche Importe im Ausland kontingentiert und zu alledem deutsche Exporterlöse im Ausland beschlagnahmt, um damit außenstehende Reparationsforderungen zu bedienen. Dieses alles führte neben der Weltwirtschaftskrise Anfang der 30er Jahre zu einem Wirtschaftskollaps im besiegten Deutschland. Die Folgen waren Massenarbeitslosigkeit und die Verelendung breiter Schichten der Bevölkerung.
 
     
     
 
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