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Als deutscher Lehrer

 
     
 
Die Arbeitslosigkeit im Königsberger Gebiet ist katastrophal. Die offizielle Zahl von 20 Prozent wird selbst von Beamten als stark geschönt bezeichnet. Dabei ist die Lage auf dem Land noch vergleichsweise erträglich: Fast jeder hat dort eine Kuh, ein Schwein, Hühner, vielleicht Schafe und Gänse, sicher einen Garten, oft einen Kartoffelacker. Schlimm aber ist die Lage in den Städten, wo die Arbeitslos
en diese Vorteile nicht haben und von wenigen Rubeln leben müssen. Zwei Drittel der Bewohner des Gebietes wohnen dabei in Königsberg, Insterburg und Tilsit. Kein Wunder, daß Kriminalität, Alkoholismus, Drogensucht und Prostitution sprunghaft ansteigen.

Dazu kommt, daß wegen der mangelnen Geldmittel des Staates viele Pflege- und Fortbildungseinrichtungen speziell für Behinderte jeder Art geschlossen oder in ihrer Belegung eingeschränkt wurden.

So gibt es beispielsweise keine Förderungsmöglichkeit für hör- und sprechgeschädigte Kinder mehr. Auch durchaus nicht "harmlose" Fälle wurden aus der Psychiatrie in die Familien entlassen. So wurde ich selbst einmal über eine dreiviertel Stunde von einem betrunkenen Geistesgestörten im Lehrerzimmer der Deutschen Schule in Trakehnen festgehalten. Er war vorher zu seiner selbst schwer psychisch gestörten Familie entlassen worden. Schlimmer noch: er bedrohte sogar die hochschwangere Wächterin der Schule. Ich wurde zwar durch einen ehemaligen Polizisten befreit, der psychisch Kranke ist jedoch weiterhin auf freiem Fuß. Zwei weitere "Besuche" konnten nur mühsam abgewendet werden.

Besorgniserregend ist die Lage auch auf dem Gebiet der Berufsausbildung. Zwar leistet die russische Schule oft mit sehr beschränkten Mitteln Beachtliches, doch bei der Entlassung stehen die Kinder, vor allem auf dem Land, meist vor dem Nichts. Denn ein berufsgebundenes Ausbildungssystem wie bei uns gibt es nicht.

Zwei Beispiele: der 19jährige Dyma, ein fleißiger, hilfsbereiter und intelligenter Junge, ist seit seiner Schulentlassung arbeitslos. Er hilft seiner Mutter bei den Tieren und repariert Schuhe. Er macht das sehr ordentlich und er ist damit in eine Marktlücke gestoßen, da es sonst weit und breit keine Reparaturmöglichkeiten gibt. Aber er befindet sich dennoch am Rande der Legalität, weil ohne Ausbildung – die es gar nicht gibt! – solch eine Tätigkeit eigentlich unzulässig ist.

Das andere Beispiel ist die 23jährige, sehr intelligente Natalja. Ihre Mutter ist eine Rußlanddeutsche. Sie hat den Schulabschluß mit Auszeichnung bestanden. Ihr Traum war es, Geographie zu studieren. Aber dazu fehlen die Mittel. Und da sie im "letzten Dorf" wohnt, wo es keinen regulären Anschluß an den Bus mehr gibt, hat sie auch keine Berufsmöglichkeit. So versorgt auch sie die Tiere, schneidert etwas – auch das eigentlich unzulässig – und sie fährt jeden Tag bei Sommerhitze, Regen oder Schnee auf einem sagenhaft schlechten Feldweg mit dem alten Fahrrad eine halbe Stunde nach Trakehnen und lernt Deutsch, das sie inzwischen sehr gut beherrscht.

So ist es kein Wunder, daß auch Leute, die mir noch im letzten Jahr versicherten, sie würden hierbleiben, inzwischen die Ausreise beantragt haben. Doch auch hier wurden Hindernisse aufgebaut. Allein die Reise in das gut tausend Kilometer entfernte Moskau zur deutschen Sprachprüfung ist für einen 70järigen körperlich geschädigten Rentner aus einem abgelegenen ostdeutschen Dorf eine Zumutung.

Aber auch viele Menschen, die keineswegs deutscher Ab-stammung sind, versuchen ins Ausland zu kommen. So möchte das sehr fleißige russisch-koreanische Ehepaar Sudijan, das ei-nen erfolgreichen privaten Lebensmittelhandel aufgebaut hat, nach Kanada auswandern. Die Schikanen des privaten Han-dels durch die Behörden durch ständig neue Abgaben und Ver-ordnungen, die Entwertung des Rubels und die Ausgrenzung der "Schlitzäugigen", die "auf russischem Bo-den" (in Ost-preußen!) nichts zu suchen hätten, lassen ihnen oft keine andere Wahl.

Meine Ausbildung als Englischlehrer kam auf diese Weise wieder zu Ehren und ich mußte – ohne jede Vorbereitung und ohne Material – nicht nur Deutsch, sondern auch Englisch unterrichten. Immer mehr Russen wollen ins englischsprachige Ausland – zur Zeit gilt Irland als der Geheimtip.

Aber auch der Deutschunterricht war recht gut besucht. Ich mußte bis zu sieben Stunden am Tag geben, die letzte von 21 bis 22 Uhr. Dabei geht es nicht allein um das Erlernen der deutschen Sprache, sondern auch um Informationen über Deutschland, um die Möglichkeit zu sprechen. Die Menschen sind einfach froh, wenn man sie überhaupt zur Kenntnis nimmt. Die deutsche Schule in Trakehnen ist übrigens keine eigenständige Schule, sondern eine Angebotsschule, die neben deutschen Sprachkursen Computerkurse, Handarbeit und Basteln auf freiwilliger Basis anbietet.

Nachdem die deutsche Vergangenheit Ostdeutschlands offiziell lange verschwiegen oder gar geleugnet wurde, bahnt sich auf diesem Gebiet inzwischen eine Änderung an. Gerade die Schulen übernehmen hier eine Vorreiterrolle. So haben – mit deutscher Hilfe, insbesondere auch durch die deutschen Vertriebenen – verschiedene Schulen kleine Museen über die deutsche Vergangenheit ihres Ortes eingerichtet, so auch in Trakehnen.

Ich erlebte, wie ein Bus mit Mitgliedern des Kreisverbandes Ebenrode/Stallupönen der Freundeskreis Ostdeutschland mit ihrem Vorsitzen-den, Herrn Heinacher, nach Trakehnen kam. Am Tor des alten Landstallmeisterhauses wur-den sie von Schulkindern in ostdeutscher Tracht und dem Lehrerkollegium empfangen. Es wurde ihnen das Museum zusammen mit einem Film über das alte Gestüt Trakehnen gezeigt. Die Kreisgemeinschaft hatte sehr zur Freude der Schule zahlreiche Fotos des alten Tra-kehnen mitge-bracht und versprach Hilfe bei der weiteren Renovierung der Schule, die bereits mit Hilfe der baden-württembergischen Gemeinde Not-zingen begon-nen werden konnte. In der Turnhalle san-gen dann die russischen und rußlanddeutschen Schulkinder der Gruppe "Kalinka" ost-preußische und russische Volkslieder.

Einige Tage später traf sich eine kleine Gruppe von Angehörigen des ehemaligen Fallschirmjäger-Panzerkorps mit russischen Kriegsveteranen und dem Chef des Rayons Ebenrode (das entspricht etwa unserem Landrat). Die alten deutschen Soldaten, die 1944/45 als junge Burschen dort gekämpft hatten – der Vorsitzende der Traditionsgemeinschaft, Herr Seide, war an seinem 19. Geburtstag dort verwundet worden –, hatten den russischen Ka-meraden 194 große Pakete mitgebracht. Es wurde ein Gegenbesuch beim Volkstrauertag in Munster vereinbart. In ihren Reden sprachen die alten russischen Soldaten von dem großen Respekt, den sie vor Deutschland und speziell den deutschen Soldaten hätten. Die deutschen Soldaten seien in einen Krieg gezogen, den nicht sie selbst, sondern die Politiker zu verantworten gehabt hätten. Die Russen hätten das gleiche gewollt wie die deutschen Soldaten auch, nämlich den Krieg gewinnen und dabei möglichst lebend heimzukehren. Die Verabschiedung fand mit vielen Umarmungen und Bruderküssen statt. Ich hatte den Eindruck, daß die oft als "Revanchisten" verdächtigten deutschen Heimatvertriebenen und Soldaten hier mehr für die Verständigung getan hatten, als manch ein "Friedenskämpfer" – von denen ich allerdings in Ostdeutschland noch keinen getroffen habe.

Es gibt auch immer noch erfreuliche Beispiele von Privatinitiative. So versucht die russisch-ukrainische Familie Morosow, bei Trakehnen auf dem ehemaligen Gut Guddin die alte Tradition der Trakehner Pferdezucht wiederzubeleben. Konstantin Morosow und seine Frau Swetlana, die schon einmal besuchsweise im schwäbischen Kirchheim/Teck gewesen ist, haben unter entsetzlich primitiven Bedingungen nun schon einiges aufgebaut. Mit fünf Pferden fingen sie vor vier Jahren bei Trakehnen an; nun sind es schon 44. Mit geringen Mitteln und großem Fleiß wird gearbeitet. Schon sind neue Ställe im Bau. "Erst das Futter für die Pferde, dann die Ställe und zuletzt die Familie", so bringt Morosow seine Arbeitsweise auf den Punkt. Er, der eine gute Stellung in einem ukrainischen Gestüt aufgab, um hier selbständig zu sein, hat den Traum, daß "Trakehnen widder Vadderland von Pferde" werden muß. Und seine Frau macht mit und fährt nach schwerster Arbeit abends um 21 Uhr noch zum Deutschunterricht nach Trakehnen. So gibt es durchaus auch Positives zu berichten.

Noch über ein anderes Beispiel kann ich berichten: Seit 1993 kam Schenia Filippowa – damals ein 15jähriges Schulmädchen – in unseren Deutschunterricht. Sie hatte es nicht leicht. Sie wuchs ohne Vater auf, und das ist in einem Dorf wie Trakehnen schwer. Wie fast alle Mitschülerinnen stand sie nach der Schule vor dem Nichts. Durch private deutsche Initiative wurde ihr im benachbarten Gumbinnen ein Computerkurs ermöglicht. Nun gibt sie selbst im Rahmen der deutschen Schule Computerkurse und auch Anfängerkurse in Deutsch. Als Dolmetscherin ist sie den deutschen Kolleginnen und Kollegen inzwischen unentbehrlich geworden.

 
     
     
 
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