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Als erster wehrübender Marineoffizier zur Einberufung nach Pillau

 
     
 
Der Zerstörer "Nastojtsch wy" ("Sovremenny"-Kla se), Kieler-Woche-’93-erfahren, bunkert derweil Verpflegung: Matrosen schleppe körbeweise "Chleb" (Brot) über die Gangway an Bord. Uns beschleicht die Frage ob es noch etwas anderes gibt. Kartoffeln – doch in welch erbärmliche Zustand! Der aussortierte Haufen auf der Pier ist größer als das, was übrigbleibt Die Männer winken ab, als wir fotograf
ieren. Wenn ich dagegen unsere Verpflegung s sehe …

Nebenan hievt ein Autokran den Hauptantriebsmotor aus eine "Parchim"-Korvette. Nach 2000 Stunden muß er raus und an Land grundüberhol werden.

Der Abend steht im Zeichen eines Empfangs auf der "Lüneburg". Offiziere Angehörige und Zivilisten dicht an dicht bei Bier, Sekt, Saft oder Wein. Der festlic geschmückte Laderaum ist der Resonanzboden für zahllose Gespräche. Es brummt und summ wie in einem überdimensionalen Bienenstock. Überraschung am Rande: ein leibhaftige Admiral mit Riesentellermütze und offener Uniformjacke über einem respektable Bäuchlein reicht mir Feuer und duzt mich spontan. Sachen gibt’s …

Alexander, Korvettenkapitän auf einem Zerstörer, ist ein bestens informierte Gesprächspartner. Auf englisch geht es stundenlang hin und her über Marine, Politik un Lebensverhältnisse. Unsicherheit ist das alles beherrschende Stichwort, Partnerschaf daher ein immer wieder vorgetragener Wunsch. Verständlich und sicher zukunftsträchtig Die Toasts auf Seefahrt, deutsch-russische Freundschaft und – natürlich! – die Frauen nehmen kein Ende. Zum Abschied am frühen Morgen, fortgesetzt auf dem Schleppe "Norderney", der auf Seite von "Spessart" liegt, schenkt er mir sein Offiziersmütze.

Pillaus Bürgermeister Kuznetzow gibt mir Grüße mit für seinen Eckernförde (Partnerschaft)-Kollegen Buß, der ein Schulkamerad von mir war.

Am nächsten Morgen fahren, bei strömendem Regen, zehn russische Marine-Lkws vor Große Rotkreuzflaggen wehen über den Ladeflächen der Dreiachser. Die bordeigenen Krän hieven insgesamt 60 Tonnen Hilfsgüter an Land. Russische und deutsche "blau Jungs" verladen sie Hand in Hand. Bestimmt sind die Spenden für Krankenhäuser in Pillau und Königsberg. Zwei Kieler Krankenhäuser, das Eckernförder Krankenhaus sowi das Deutsche Rote Kreuz Nordfriesland waren maßgeblich an der Aktion beteiligt Claus-Oskar Friedrichsen, mitreisender Schleswig-Flensburger DRK-Kreisbeauftragter fü Katastrophenschutz, garantiert dafür, daß alle Gaben in die richtigen Hände kommen un nicht auf dem Schwarzen Markt landen.

Neben vier Tonnen Geschirr, Matratzen für 50 Betten, 50 Nachtschränken und viele anderen Gebrauchs- und nützlichen Medizingegenständen aus öffentlichen Bestände wurden auch Privatleute aktiv. Das 1. Versorgungsgeschwader rief zu einer eigene Spendenaktion auf – mit großer Resonanz übrigens. Die Marinekameradschaft Lünebur lieferte kistenweise Medizin an, ein Dentist aus Bayern eine komplette Zahnstation. Hotel und Textilhäuser beteiligten sich, Bürger aus Kappeln, Eckernförde, Wilhelmshaven un Kiel. Aus einem Werk in Pfaffenhofen kamen zehn Tonnen Babynahrung, von eine Spielzeughersteller eine Großspende an Barbie-Puppen. Ein Lütjenburger Textilhaus ha kistenweise neue Kleidung gespendet. Kapitän z. S. Kinast dazu: "Wir habe regelrecht eine Lawine losgetreten."

Mit einem der SIL-Laster fahre ich nach Pillau hinein. Ohne Kontrolle geht’s durc das weit geöffnete Tor. Die städtische Poliklinik ist unser Ziel. Der schwere Lkw ha keine Mühe mit den knietiefen Pfützen, Matrosen-Fahrer Sascha um so mehr damit, die Krankenhaus-Einfahrt zu finden. Russische und deutsche Offiziere fackeln nicht lange entledigen sich ihrer Uniformjacke und packen gemeinsam mit den Matrosen zu. Gleichzeiti ist das auch eine Art Überwachung, daß alles auch dorthin kommt, wo es hin soll. Am End sind wir klatschnaß. Macht nichts – ist ja für einen guten Zweck!

Ludmilla, die Verwaltungschefin der Klinik – ihr Mann ist Marineoffizier – lädt uns zum Dank in ihr Büro. Wir sind überrascht: der Tisch quillt über von belegte Broten, Torten und Obst. Darauf Wodka-Toasts aus Fingerhutgläschen. Man halte sich einma die Versorgungssituation des Hauses vor Augen. Es fehlt schlicht an allem, sogar an Wasse (die maroden Leitungen stammen noch aus der Kaiserzeit). Das Dach offen, die Wänd feucht, Fußböden morsch, null Technik. Wie kann hier einer gesund werden!?

Zum Ausgleich wird im traditionsreichen "Haus der Offiziere und Klub de Matrosen" abends eine Disco aufgezogen. Blaue Jungs und Pillauer Mädchen kommen in Strömen. Es soll dort ziemlich rund gegangen sein in dieser Nacht …

Auch die Umgebung lockt. Schließlich haben wir die legendäre Samlandküste sozusage vor der Tür. Peter Pöverlein von der "Spessart", Korvettenkapitän d. R., un ich schlendern durch die Stadt Richtung Leuchtturm und Mole. Zuvor hat uns ein russische Oberst sein Buch über die Geschichte Pillaus (auf deutsch) verkauft. Wir wissen dami auch, was wir vor uns haben. Bau- und Militärgeschichte, Flüchtlings- und Soldatenlebe anno ’45 – auf Schritt und Tritt blutgetränkter Boden. Das geht schon durch un durch! An der Mole, vor Kriegsende Hoffnungsträger für Tausende von Flüchtlingen un Verwundeten, stoppt plötzlich neben uns ein Auto – völlig unerwartet hier drauße an der offenen See. Im Nu sind wir umringt. "Daß wir das noch erleben dürfen deutsche Marineoffiziere an diesem Ort!" begrüßt uns einer der Umstehenden in breitestem Ostpreußisch. Ehemalige Pillauer aus Kiel-Heikendorf auf Spurensuche in de alten Heimat, frisch eingetroffen mit der "Akademik Sergej Wawilow". Anhan eines Bildbandes zeigt uns der Senior der Familie mit zitternden Händen, wie das Gebie früher einmal ausgesehen hat. Relikt aus jener Zeit: ein vor sich hin rostende Kriegsmarine-Torpedo auf dem Strand. Uns beschäftigt auch die Frage, wie sie denn in die geschlossene Stadt Pillau gekommen seien. "Ganz einfach", lautet die Antwort "auf Einladung des Pillauer Polizeichefs". Der steht daneben und freut sic über diese kuriose Begegnung, die er ermöglicht hat.

Der Chief und ich wandern am einsamen Strand entlang, klauben Bernsteinsplitter aus de schneeweißen Samland-Sand und sehen einem jungen Mann im Taucheranzug zu, der zwische Seetang versteckte dicke Klumpen des ostdeutschen Goldes mit einem Kescher aus de Brandung fischt. Ohne es gemerkt zu haben, hat uns der Marsch herausgeführt aus de "gesperrten Stadt", noch dazu in Uniform. Wir sind einfach nur baff! Andernort bestehen scharf bewachte Kontrollpunkte, die nur mit Sonderausweis passiert werde dürfen. Sogar ein hoher Marineoffizier wurde knallhart abgewiesen, weil er das Papie vergessen hatte. "So soll verhindert werden, daß das organisierte Verbrechen sam Drogenszene nach Pillau herüberschwappt und die Moral der Flotte vollend untergräbt", begründet Korvettenkapitän Alexander diese rigorose Regelung. Die schillernden Mafia-Gestalten, die wir in einigen Königsberger Gaststätten beobachte haben, scheinen ihm recht geben.

Auf unserem Rückweg durchstreifen wir die gesprengten oder zerschossene Festungsanlagen im Dünenwäldchen. Bis kurz vor Kriegsende war ein Geschütz besonder erbittert umkämpft. Russische Soldaten teilten hier ihre letzte Machorka-Ration mit de Deutschen, bevor sie in die Gefangenschaft gingen.

In der Nähe des ehemaligen Kurfürsten-Denkmals, das heute in Eckernförde steht bieten uns Jugendliche eine Flagge der sowjetischen Kriegsmarine an, russische Matrose beschenken uns durch den Zaun mit Abzeichen.

Nachmittags "open ship" für die Bevölkerung und Pressekonferenz. Der Aben ist ausgefüllt mit Besuch und Gegenbesuchen auf den Schiffen. Zum Beispiel auf eine Energieschiff der Nordmeerflotte aus Seweromorsk bei Murmansk. Dabei sind auc Atom-U-Boot-Fahrer, die von Störfällen und Untergängen zu berichten wissen, auch vo Nuklear-Abfall-Verklappungen im Eismeer.

Glasnost wird in unseren freundschaftlichen Gesprächen groß geschrieben. Abschied mi herzlicher Umarmung – nach russischer Sitte. Ihr großer Wunsch: uns hier eines Tage wieder begrüßen zu können. Dennoch wird dies für die Russen vorerst der letzt ausländische Flottenbesuch gewesen sein. Sie haben sich verausgabt, so daß es kein Mittel mehr für derartige repräsentative Zwecke gibt. Also haben die russische Marineoffiziere tief in die eigene Tasche gegriffen (welch ein Opfer bei Monatsgehälter zwischen 200 und 300 Mark), um von dem wenigen, was sie haben, auch noch unsere Bewirtun finanzieren zu können. Hut ab!

Nach der Seeklar-Meldung an den Kommandeur am 6. September um 9 Uhr läuft der Verban ab 9.45 Uhr Schiff für Schiff aus. Das Marine-Musikkorps der baltischen Flotte beschall die Szene mit Märschen. "Klingt gut", meint Sören Steckner, 1. Wach-Ing. un Kapitänleutnant d. R., neben mir und lädt mich zu einem Maschinenbesuch ein "Unsere zwölf Zylinder im Keller machen auch gute Musik", empfiehlt er mi grinsend.

Viele Arme winken hinüber und herüber. Der eine oder andere wird die Kontakte auc privat aufrechterhalten und vertiefen, denn es ist heute kein Problem mehr, zumindest nac Königsberg zu kommen (Bahn ab Berlin jede Woche, Flüge, Schiffahrtslinien).

Auf Reede vor der Mole wartet der Passagierliner "Albatros". Er brauch – wir können nur staunen – unseren Liegeplatz im Marinehafen. Die Passagier sollen von dort per Bus zu einer Ostdeutschland-Rundfahrt starten.

Während unseres seegangsmäßig bewegten Rückmarsches nach Kiel werden, wie schon au der Ausreise, eine ganze Reihe von Übungen durchgefahren. Die 300 Mann Besatzung darunter viele Reservisten, müssen auf dieser Ausbildungsreise zeigen, was sie (noch können und dies auffrischen, ob bei Übungen wie Herstellen der Verschlußzustände Bekämpfen von Bränden, Leckabwehr, Hilfeleistung in See, Minenabwurf, Towing verschiedene Manöver im Bereich Antrieb, E-Technik, ABC-Maßnahmen, Postbeutelübergabe Abbergen von Personal, Mann über Bord, Beibootfahren etc. Eine enorme Leistungspalette die da in kürzester Zeit bewältigt werden muß. Wäre das Wetter sommerlicher, hätte sich die "Spessart"-Fahrer nach hartem Übungsalltag sogar im bordeigene Swimming-Pool entspannen können. Das größte Schiff der deutschen Marine, ursprünglic ein dänischer Säuretanker, mit seinen 14 000 tdw gilt nicht nur deswegen als "Luxusliner der Flotte". Unterbringung, Bewirtung und Verpflegung sind fast s luxuriös wie auf einer Kreuzfahrt.

Der Tag wird durch den Absturz eines Marineflieger-Tornados überschattet. Einer unse Schlepper ist zum Wracktauchen abgestellt. Der Anblick der um die Absturzstelle heru positionierten Marinefahrzeuge macht uns alle ernst. Dennoch, das Übungsprogramm mu routinemäßig weiterlaufen.

Über Nacht ankern in der Geltinger Bucht. Die Kommandanten treffen sich an Bord de "Spessart" zu einem Abschlußgespräch mit dem Kommandeur.

Marsch nach Kiel. Pünktlich um 14 Uhr Festmachen an der Scheermole. Kapitän zur Se Klaus Kinast läßt die Besatzung antreten zur Kommandeurs-Musterung. Er betont, da diese Reise "zu einer Normalität in den gegenseitigen Beziehungen nach der Wende in früheren Ostblock" beitragen möge. Last but not least auch dies: "Nicht nu Vergnügen, sondern auch Arbeit hat es gegeben, vor allem eine hervorragend Zusammenarbeit zwischen Stammbesatzungen einerseits sowie den eingeschifften Reserviste andererseits."

Ende der Reise mit dem Wegtreten ins verdiente Wochenende, sicher ein weni nachdenklicher und beeindruckter als sonst. (Schluß)

 

 
     
     
 
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