|  | Mit dem Zusammenbruch von     1945 ist nicht nur für den Großteil der Neueren Geschichte eine immer noch andauernde     Umwertung der nationalen Perspektive vorgenommen worden, sondern auch die Früh-und     Urgeschichte verfiel nahezu gänzlich dem Bannfluch. Selbst skandinavische Wissenschaftler     entschuldigen sich für sogenannte "Untaten" der Wikinger. Dabei beherrschte     noch in der Zeit des Natioalsozialismus die eher "germanophil" ausgerichtete     Forschung weithin das Vorurteil, daß wirkliche Zivilisation nur innerhalb des römischen     Limes bestanden habe. Dr. Klaus Goldmann, Jahrgang 1936, Oberkustos des Museums für Vor-     und Frühgeschichte in Berlin, sieht bei dem vergleichenden Blick zurück keinen Anlaß zu     Zerknirschung und Scham. Vielmehr hält er es für unerläßlich, daß wir nur aus der     Kenntnis der eigenen Geschichte, auch der frühen, Kraft für die Gestaltung der Zukunft     finden können. Mit dem Wissenschaftler sprach Müller. 
 Herr Dr. Goldmann, die Wiege der Menschheit scheint, je nach dem neuesten Stand der     Zeitungsmeldungen, entweder in Afrika oder in Asien gestanden zu haben. Wo stand unsere?
 
 Die Frage nach der Wiege der Menschheit ist eine der schwierigsten des Faches und ist     wohl auch eher von Anthropologen als von Archäologen zu beantworten. Es gibt viel zu     wenige Funde von Skelettresten, die aus dieser sicher mehrere Millionen Jahre     zurückliegenden Epoche
   der "Menschwerdung" stammen. Solche Funde können     grundsätzlich nur in Aufschlüssen geborgen werden, deren geologische Schichten ein     entsprechendes Alter haben. Der erste Mensch ist sicher nicht allein dadurch zu     definieren, daß er ein bearbeitetes Gerät als Waffe oder Werkzeug nutzte, sondern durch     Merkmale, die sich fast alle der archäologischen Interpretation entziehen, also etwa     durch die Sprache, den aufrechten Gang und  vielleicht  den Gebrauch des     Feuers. Betrachten wir die Weltregionen, aus denen bisher sehr frühe Formen des Menschen     und auch zeitlich sehr weit zurückweichende archäologische Zeugnisse menschlicher     Tätigkeit gefunden wurden, so kommen als Wiege der Menschheit wohl tatsächlich nur die     zusammenhängenden Kontinente Europa, Asien und Afrika in Frage. 
 Was wissen wir gesichert über die germanisch-nordischen Ausbreitungswellen der     Frühzeit?
 
 Auch beim Versuch der Antwort auf diese Frage sind eher benachbarte Wissenschaften     zuständig, als die Archäologie. Sicher belegt ist die nach Süden gerichtete Ausbreitung     nord- und mitteleuropäischer Volksstämme erst durch schriftliche Quellen ab der Mitte     des ersten vorchristlichen Jahrtausends, archäologische Belege dazu sind sehr schwer zu     interpretieren. Als sehr wahrscheinlich ist als eine ältere Ausbreitungswelle aus dem     gleichen Ursprungsgebiet die sogenannte Seevölkerbewegung um 1200 v. Chr. anzusehen, die     den Untergang zahlreicher mediterraner Reiche, nicht zuletzt des mykenischen Hellas und     des Staates der Hethiter, zur Folge hatte. Mögliche ältere Ausbreitungswellen wie die     der sogennanten Indogermanen sind bisher nur sprachwissenschaftlich erschlossen. Die     Bezeichnung "germanisch" wird heute ungern für die Völker im nördlichen     Europa verwendet, wenn es um die frühe Eisenzeit, die Bronzezeit und die Jungsteinzeit     geht. Allerdings ist gerade in diesem Gebiet archäologisch kein Bevölkerungswechsel bis     zu der Zeit erkennbar, in der die Germanen historisch belegt sind.
 
 Wie darf man sich die frühen Lebensformen unserer Vorfahren im Vergleich mit anderen     Kulturkreisen vorstellen?
 
 Es ist nicht möglich, die frühen Lebensformen unserer Vorfahren mit denen anderer     Kulturkreise zu vergleichen, ohne daß spezifische Zeitspannen für einen Vergleich     zugrunde gelegt werden. Sicher wechselten im Laufe der Jahrtausende Herrschaftssysteme und     staatliche Organisation in entscheidenden Punkten ihre Struktur, auch die     Gesellschaftsordnung insgesamt veränderte sich. Man vergleiche z. B. nur die Entwicklung     von Staat und Kirche während der letzten 800 Jahre in Deutschland. Ich gehe     beispielsweise nicht nur für die Bronzezeit Alteuropas vom Bestehen eines geordneten     Staatensystems aus, das mit Sicherheit auch diplomatische Beziehungen zu benachbarten und     weit entfernten Staaten im Süden unterhielt.
 
 Kann man davon ausgehen, daß wir für unsere Frühzeit eine sogenannte Holzkultur     annehmen müssen, deren Funde naturgemäß leicht der Verwitterung preisgegeben waren und     die deshalb kaum noch nachweisbar ist?
 
 In seiner "Topographia Germaniae" berichtet Merian noch 1652 bei der     Beschreibung der Stadt "Naugarden", das ist Nowgorod, "daß sie größer     als Rom, aber meistentheils hültzerne Gebäw habe 
 daß sie die Hauptstatt in     Reussen, gantz von Holtz, wie andere Stätte in Reussen auch, gebauet seye: 
".     Solche Angaben gelten nach allen archäologischen Befunden analog auch für das waldreiche     nördliche Alteuropa bis in das Mittelalter hinein. Selbst "Stadtmauern" waren     damals zunächst aus Holz errichtet, und die ganze Kunst der Holzbearbeitung zeigt sich     nicht nur in den erhaltenen Stabkirchen und den Wikinger-Schiffen, sondern auch in den in     Feuchtböden geborgenen Holzgeräten und -gefäßen. Ein gutes Beispiel für solche     Holzarchitektur ist Biskupin bei Gnesen, eine Wehrsiedlung der frühen Eisenzeit, die um     730 v. Chr. nur mit Eichen errichtet wurde und später unter Wasser geriet. Wenn es bei     uns schon vor 3000 Jahren "hochherrschaftliche" Fachwerk-Schlösse gab, können     selbst in günstigem Fall leider nur die Unterlagen aus Feldsteinen gefunden werden, auf     denen einst die Schwellbalken lagen.
 
 Gehörten zu dieser Ära der Holzkultur auch die Buchenstäbe, die Runen? Wie alt sind     sie und läßt sich nur ihr kultischer Gebrauch nachweisen oder dienten sie auch der     Übermittlung von Botschaften?
 
 Es scheint mir eine nicht nachvollziehbare Feststellung zu sein, wenn das lesbare     Runenalphabet häufig nur als kultische Schrift  dann aber doch dem Latein des     Mittelalters ähnlich?  gedeutet wird. Natürlich diente es auch der Übermittlung     von profanen Daten. Für mich ist eine weitere Frage, welche Schriften von unseren     Vorfahren neben den Runen genutzt wurden, ob die Kaufleute in Vineta, Haithabu oder Birka     das griechische, lateinische oder kyrillische Alphabet benutzten oder auch (für mich     sicherlich!) auf arabisch korrespondierten? Schreiben konnten sie, weshalb finden wir     sonst Schreibgriffel in den wendischen Siedlungen? Und wer schreiben kann, kann ebenso     lesen. Weshalb wurde die Wulfia-Bibel ins Gotische übersetzt, wenn die Goten schriftlos     waren? Das Alter der Runen reicht zeitlich weit zurück, und die Ähnlichkeit mit dem     etruskischen Alphabet scheint mir nicht zufällig zu bestehen. Hier ist aber sicher noch     viel Forschungsarbeit zu leisten.
 
 Die Zunft der Vor- und Frühgeschichtler gilt hierzulande als zumindest politisch     bedenklich, weshalb vermutlich auch Ihre deutschen Kollegen am ehesten in fernen Ländern     und Kontinenten zu finden sind. Woran liegt das?
 
 Die "Zunft" der Prähistoriker ist mit ihren Forschungsthemen keinesfalls     vorwiegend ins Ausland emigriert, sie befaßt sich aber leider zu häufig nicht mit     historischen Fragestellungen zur Geschichte des Vaterlandes. Zu oft scheint es als     "Forschungsaufgabe" auszureichen, daß die siebenhundertzweiunddreißigste     Siedlung einer Epoche durch einige Scherben im Landkreis Posemuckel-Süd für unzählige     D-Mark "ausgewertet und vollständig dokumentiert" wird. Der Hintergrund für     diese unhistorische Betrachtungsweise kann aber durchaus aus unserer Geschichte des gerade     vergangenen Jahrhunderts erklärt werden: Zu stark wurden bis 1945 die Tugenden der     Germanen, wie sie schon der Römer Tacitus als vorbildlich beschrieben hatte,     hervorgehoben und ein einseitiges, aber meiner Meinung nach dennoch primitives Bild     unserer Vorfahren gezeichnet. Selbst im "Dritten Reich" beherrschte noch ein     jahrhundertealtes Vorurteil sogar die damals durchaus "germanophile"     Wissenschaft, wonach echte Zivilisation  verbunden mit Steinbau, Wasserbau und     Zentralheizung  nur innerhalb des römischen Limes bestanden hat. Außerhalb lebten     eben Barbaren, die nur vom Süden lernen konnten und deren Intelligenzquotient dem eines     Bibers unterlegen war, der ja Staudämme bauen konnte, was man hier erst im 12.     Jahrhundert gelernt habe.
 
 Verhält es sich so, daß dasjenige Volk, das die größtmögliche nachweisbare     Rückbindung aufweist, zugleich auch mit dem massivsten politisch-kulturellen Anspruch in     der Gegenwart und für die Zukunft auftritt?
 
 Eigentlich ist die Antwort für mich ein eindeutiges "Ja". Es scheint aber,     daß aus von mir nicht nachvollziehbaren Gründen die alteuropäische Völkergemeinschaft,     soweit sie im nördlichen Mitteleuropa beheimatet ist, ein ihr zustehendes     Selbstbewußtsein, das wegen der Bedeutung ihrer geschichtlichen Entwicklung und ihrer     Zivilisation entstehen mußte, verloren hat. Bis heute "entschuldigen" sich     selbst skandinavische Wissenschaftlier zuweilen für sogenannte "Untaten" der     Wikinger, ihrer eigenen Vorfahren. Dies ist ähnlich dem Verhalten der deutschen     Bevölkerung, die, obwohl vielfach selbst Nachfahren der Wandalen, sich über die Medien     fast täglich mit einem Begriff des "Vandalismus" besudeln läßt, einem     Schimpfwort, das erstmals als politische Propaganda im heutigen Sinne im Jahre 1739 durch     die Französische Akademie eingeführt wurde und keinerlei historische Begründung hat.
 
 Welche Bedeutung hat eigentlich das "Wissen, wie es war" sowohl für Ihre     Disziplin als auch für mögliche kulturpolitische Folgerungen?
 
 "Das Wissen, wie es war" zu rekonstruieren, ist nicht nur das Ziel der     Archäologie, sondern jeder historischen Disziplin. Während die Historiker ihre     Kenntnisse vorwiegend der Auswertung schriftlicher Quellen verdanken, sind die     Archäologen mehr auf die Deutung der materiellen Hinterlassenschaft der frühen     Bevölkerung angewiesen. Es ist eher die Quantität der jeweiligen Quellen, die bestimmt,     ob ein Fach mehr "archäologisch" oder "historisch" arbeiten muß.     Eindeutig ist, daß die Geschichte der Epochen der Menschheit, in der die Schrift noch     nicht bekannt war, ausschließlich mit archäologischen Methoden geschrieben werden kann.     Geschichte, das Wissen, woher wir kommen, und "wie es war" ist bei allen     Völkern in allen Regionen der Welt, bewußt oder unbewußt, immer die Grundlage aller     politischen, nicht nur kulturpolitischer Entscheidungen. Die aufgeschriebene, damit auch     für alle öffentlich zugängliche und diskutierbare Geschichte ist eine Voraussetzung     für jede demokratische Willensbildung. Für bestimmte Entscheidungen ist geschichtliches     Wissen unverzichtbar, um die Tragweite von Beschlüssen beurteilen zu können.
 
 Inwieweit lassen sich die Erfahrungen, die Lebensformen und die Beharrlichkeit der     Lebensgewohnheiten unserer Ahnen noch in der Gegenwart feststellen?
 
 Auch dies ist nur bedingt eine Frage, die der Archäologe beantworten kann, eher jedoch     eine Frage an die Lebenserfahrung jedes einzelnen oder  fachlich  an die     Volkskunde. Letztlich ist es die Frage nach der Bedeutung von Traditionen. Jeder wird     heute noch in den verschiedenen Ländern der Bundesrepublik Deutschland unterschiedliche     Verhaltensweisen der dort beheimateten Stämme, seien es Schwaben, Bayern, Sachen oder     Preußen, erkennen, die natürlich auch auf deren unterschiedliche geschichtliche     Erfahrungen zurückgehen. Diese Zusammenhänge völlig aufzudröseln, wird der     Geschichtswissenschaft niemals möglich sein, diese kann nur Annäherungen liefern. Noch     schwieriger wird dies dann, wenn Traditionen durch Vertreibungen oder freiwilliges     Verlassen einer alten Heimat "gebrochen" werden, aber als oft "unbewußtes     Wissen" in die neue Heimat mitgenommen werden. Sie leben aber weiter, selbst in den     Kindern und deren Nachkommen, auch auf anderen Kontinenten.
 
 Welche Schlußfolgerungen könnte man aus dem eventuellen Fortbestehen überlieferter     Lebensgewohnheiten für die Zukunft ziehen?
 
 Ich bin der festen Überzeugung, daß wir nur aus der Geschichte des eigenen Volkes die     Kraft finden können, die Zukunft zu meistern. Das gilt für die "guten" und die     "schlechten" Taten und Erfahrungen unserer Ahnen. Ich möchte mit einem Zitat     aus Herbords "Leben des Otto von Bamberg", des Pommernapostels, abschließen,     der im 12. Jahrhundert über die früheren Heiden schreibt: "So groß aber ist die     Treue und Gemeinschaft unter ihnen, daß sie Diebstahl und Betrug gar nicht kennen und     Kisten und Behälter nicht verschlossen haben. Denn ein Schloß oder einen Schlüssel     haben wir dort nicht gesehen, sie selbst aber wunderten sich sehr, als sie unsere     Packsättel und Koffer verschlossen sahen. Ihre Kleider, ihr Geld und alle ihre     Kostbarkeiten verwahren sie in einfach zugedeckten Kufen und Fässern, keinen Betrug     fürchtend, weil sie ihn eben nicht kennen. Und was wunderbar zu sagen ist, ihr Tisch wird     niemals abgedeckt, steht niemals ohne Speise, sondern jeder Familienvater hat sein Haus     für sich, sauber und anständig, nur zur Speisung bestimmt. Da wird der Tisch von allem     Eß- und Trinkbaren niemals leer, sondern wenn das eine weggenommen wird, wird das andere     aufgesetzt; keine Maus, kein Mausefänger wird zugelassen, sondern mit einem reinen Tuch     werden die Speisen zugedeckt und warten der Esser. Zu welcher Zeit es nun jemand belieben     mag, sich zu stärken, mag es ein Fremder oder ein Hausgenosse sein, so findet er     eingelassen auf dem Tische alles bereit." Ist dies nicht eine Vision aus der     Vergangenheit für die Zukunft?
 
 
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