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Bedauerliche Schieflage

 
     
 
Drei Fernsehserien über Flucht und Vertreibung in ARD, ORB und ZDF haben im vergangenen Jahr dieses „letzte Kapitel unbewältigter Vergangenheit“ (Heinz Nawratil, „Schwarzbuch der Vertreibung 1945 bis 1948“) ins Bewußtsein der Öffentlichkeit gerückt. „Zu spät“, mag mancher Betroffene resigniert feststellen. Doch noch ist es nicht zu spät, Erinnerungen von Überlebende
n dieses völkermordähnlichen Vorganges in Videointerviews für zukünftige Generationen festzuhalten.

Dies sagte sich offenbar auch der Bund der Vertriebenen (BdV), als er vor einem Jahr einen privaten Förderkreis darum bat, den Filmemacher Kristof Berking damit zu beauftragen, systematisch Videointerviews mit Opfern von Flucht und Vertreibung zu führen. Berking ist bereits bekannt durch seine Dokumentarfilme über Ostdeutschland, die hier verschiedentlich rezensiert wurden. Sein neuester Film, „Ostdeutschland-Reise 1937“ (erhältlich über den Buchhandel) erfreut sich größter Beliebtheit und kann mit seinen zwei mal eineinhalb Stunden als der materialreichste und umfassendste Erinnerungsfilm über das Ostdeutschland von vor der Vertreibung gelten. Mit Kristof Berking sprach Martin Schmidt.

OB: Herr Berking, Ihre Filmproduktionsfirma „Dokuvision“ ist damit beauftragt worden, Videointerviews mit Zeitzeugen aus den alten deutschen Ostprovinzen, dem Sudetenland und allen anderen deutschen Siedlungsgebieten in Ost- und Südost- europa zu führen. Welches sind Ihre persönlichen Motive für diese Arbeit? Schließlich gehören Sie mit 36 Jahren nicht selbst der Erlebnisgeneration an.

Berking: Noch nicht einmal der sogenannten Bekenntnisgeneration, denn ich komme aus Schleswig-Holstein und habe keinerlei verwandtschaftliche Beziehungen in den Osten. Allerdings verbindet mich mit Ostdeutschland eine Art „Wahlverwandtschaft“. Seit meiner ersten Reise dorthin, 1984, läßt mich dieser wunderschöne Landstrich nicht mehr los.

So bin ich eher zufällig mit der Vertriebenenproblematik näher in Berührung gekommen, und je mehr Einzelschicksale ich kennenlernte, desto empörter war ich über das Verschweigen einerseits und die böswilligen Klischees andererseits, die allzuoft das Bild der Vertriebenen in der Öffentlichkeit bestimmten und insbesondere von den Medien genährt wurden, zum Beispiel alljährlich anläßlich der Treffen der Schlesier oder der Sudetendeutschen.

Es verletzt einfach mein Rechtsempfinden, in welcher Weise das Leid und der Heimatverlust von 15 bis 16 Millionen Deutschen - immerhin von so vielen Menschen, wie damals in allen skandinavischen Ländern zusammen lebten - von der Welt und sogar von uns Deutschen selbst ignoriert wird. Wieso gibt es zum Beispiel immer noch keinen zentralen Gedenktag und keine zentrale Gedenkstätte für die weit über zwei Millionen Menschen, die durch die Vertreibung umgekommenen sind?

Die totale Niederlage Deutschlands und der Deutschen in den beiden Weltkriegen hat zu einer einseitigen Darstellung und Interpretation der Geschichte des 20. Jahrhunderts geführt. Während die von Deutschen begangenen Untaten beinahe täglich - seit der Wiedervereinigung Deutschlands sogar in zunehmendem Maße - in den Medien thematisiert werden, sind die vielen Millionen deutschen Opfer kaum jemals Gegenstand der allgegenwärtigen Vergangenheitsbewältigung, ja, sie werden teilweise sogar geleugnet und fast immer verharmlost. Von Wiedergutmachung an unschuldig verschleppten, vertriebenen oder enteigneten Deutschen ganz zu schweigen.

Immerhin haben sich die ARD und das ZDF jüngst in mehrteiligen Dokumentationen zur besten Sendezeit des Themas angenommen.

Das ist richtig, und die Einschaltquoten und die Reaktionen der Zuschauer beweisen, wie sehr da ein Thema unter dem Deckel gehalten worden ist. Erfreulich also, daß man ein Ventil geöffnet hat! Aber schon die anschließenden Diskussionen wiederum wurden umfunktioniert zu Dis-kussionen über deutsche Schuld. Und auch die Filme selbst transportierten auf subtile Weise die Kollektivschuld-These, die die Autoren, wenn man sie konkret danach fragte, natürlich weit von sich weisen würden. Für den unwissenden Zuschauer blieb trotz allem unverblümt gezeigten und benannten Leid der Vertriebenen am Ende doch als Quintessenz hängen: Die Vertreibung und ihre grauenhaften Begleiterscheinungen waren die unvermeidliche Strafe für den von den Deutschen angezettelten Krieg.

Als seriöser Historiker muß man aber doch zum Beispiel die Frage stellen, warum die Sowjets auch in denjenigen Ländern, die sie selbst überfallen haben, ähnlich grausam vorgingen. Die Sowjetunion hatte vor Ausbruch des Krieges mit Deutschland am 22. Juni 1941 ja bereits ihrerseits sechs Länder überfallen: Polen, Finnland, Estland, Lettland, Litauen und Rumänien.

Gegen die Pendelschlag-Theorie, wonach die russischen Greueltaten an deutschen Zivilisten die Folge vorangegangener Greueltaten der Wehrmacht in Rußland gewesen seien, also die Rache für persönlich erlittenes Leid, sprechen auch die Erinnerungen vieler Zeitzeugen, nach denen die asiatischen Sowjetsoldaten besonders grausam vorgegangen sind. Diese kamen aber von hinter dem Ural, wo die Deutschen gar nicht gewesen waren. Umgekehrt ist auch beobachtet worden, daß Rotarmisten, die tatsächlich Familienangehörige durch das Vordringen der Wehrmacht verloren hatten, noch am ehesten Mitleid zeigten mit den unschuldigen Frauen und Kinder.

Und zu noch einem anderen wichtigen Bereich haben mir Zeitzeugenaussagen gefehlt: zur Vorgeschichte der Vertreibung, insbesondere in Polen, der Tsche- choslowakei und Jugoslawien. Es leben noch genug Vertriebene, die aus eigenem Erleben darüber Auskunft gegen können, was es zum Beispiel bedeutete, als Deutscher nach dem Ersten Weltkrieg in dem zu Polen geschlagenen Teil Westpreußens oder Oberschlesiens zu leben. Oder wenn zur Relativierung der Vertreibung der Sudetendeutschen gesagt wird, es seien ja zuvor, 1938, auch 200.000 Tschechen vertrieben worden, so darf man das einfach nicht so im Raum stehen lassen, sondern muß den Zuschauer oder Zuhörer darüber aufklären, daß es sich um Tschechen handelte, die erst nach 1918, und zwar zum Zweck der Tschechisierung, ins Sudetenland gekommen oder als Beamte geschickt worden waren, und daß auch der Vorgang selbst nicht mit der Vertreibung der Sudetendeutschen sieben Jahre später vergleichbar ist.

Ähnlich darf man sich auch im Falle der Polen nicht mit der Darstellung begnügen, daß die in die Häuser der Deutschen eingezogenen Polen ja selbst Vertriebene gewesen seien. Warum, so müßte man an dieser Stelle einen Zeitzeugen oder Teilnehmer einer Diskussionsrunde fragen, mußten denn aus Polen und den unter polnische Verwaltung gestellten deutschen Gebieten zehn Millionen Deutsche vertrieben werden, um für die 1,5 Millionen vertriebenen Polen Platz zu schaffen. Und wenn eine Parallele zu der Vertreibung von Polen nach 1939 aus dem ins Deutsche Reich eingegliederten „Wartheland“ gezogen wird, dann kann man nur antworten: Ja genau! Der Vergleich stimmt.

Aber laufen Sie nicht Gefahr mit der Fokussierung auf das Schicksal der deutschen Vertriebenen, ihrerseits einseitig vorzugehen?

Nicht wenn man bedenkt, wie unendlich viele Fernseh- und Radiosendungen, Bücher und Zeitungsartikel, Seminare und Symposien es bereits gibt, die sich ausschließlich damit beschäftigen, deutsche Täterschaft zu belegen. Vor dem Hintergrund dieser bedauerlichen Schieflage des Erinnerns ist es nicht nur legitim, sondern sogar moralisch geboten, in einer Zeitzeugenbefragung auch einmal gezielt nach dem Schicksal der deutschen Opfer zu fragen, um so zu einer insgesamt ausgewogeneren Darstellung der Geschichte des 20. Jahrhunderts beizutragen.

In den von mir bisher bereits für konkrete Dokumentarfilmproduktionen (siehe u. a. Berkings Zweiteiler „Ostdeutschland im Inferno ’44/’45“ und „Ostdeutschland im Todeskampf ’45“, erhältlich über den Buchhandel) und nun auch systematisch für das Archiv des BdV durchgeführten Zeitzeugeninterviews soll es aber nicht nur darum gehen, an das massenhaft begangene Unrecht zu erinnern. Für beinahe noch wichtiger halte ich es, die noch lebendige positive Erinnerung an die durch Vertreibung und Zerstörung untergegangene Kultur in Mitteleuropa festzuhalten.

Die Interviews mit den Heimatvertriebenen sollen auch den status quo ante widerspiegeln, also gewissermaßen Mosaikstein für Mosaikstein den letzten Stand der in vielen Jahrhunderten gewachsenen und durch Umsiedlung, Flucht und Vertreibung weitgehend untergegangenen deutschen Kulturlandschaften im Osten virtuell rekonstruieren. Deshalb bin ich auch besonders an Zeitzeugen möglichst früher Jahrgänge interessiert.

Sehen Sie neben der beschriebenen historisch-moralischen Dimension auch einen praktischen Nutzwert einer solchen Dokumentation?

Ja, eben gerade durch das Festhalten der positiven Erinnerungen an die Zeit vor der Vertreibung. Seit dem Umbruch von 1989 geraten zahlreiche einstige West-Ost-Verbindungen erneut ins kulturpolitische und wirtschaftliche Blickfeld. Ich meine auch, es ist auf polnischer, tschechischer und russischer Seite bereits ein deutlich zunehmendes Interesse an der Vergangenheit der erworbenen Gebiete zu registrieren, und diese Vergangenheit war nun einmal deutsch. Auch wenn ein bewußtes Anknüpfen an deutsche Kulturleistungen in Ost- und Südostmitteleuropa noch nicht direkt in Mode ist, so hält die Konservierung der Erinnerung ausgewählter Wissensträger diese Möglichkeit doch immerhin offen. Wenn dieses Interesse in einigen Jahren erst richtig erwacht, dann ist es zu spät, die Vertriebenen nach ihren Erinnerungen an die alte Heimat zu befragen. Das ist eine Erkenntnis, die ich häufig auch von den zu interviewenden Zeitzeugen selbst zu hören bekomme: „Hätte ich das alles doch bloß meine Mutter gefragt, als sie noch lebte; die wußte so viel.“

Irgendwann wird es übrigens auch zu spät sein, um sich bei Überlebenden der Vertreibung noch zu entschuldigen und sie um Vergebung zu bitten. Das sollten etwa die Tschechen bedenken, wenn sie die Aufhebung der Benesch-Dekrete so lange herauszögern, bis keiner, der noch materielle Ansprüche stellen könnte, mehr am Leben ist. Das Versäumnis, das Unrecht den Opfern selbst gegenüber nicht anerkannt zu haben, läßt sich nie mehr nachholen und belastet das Gewissen einer Nation für immer.

Die Bedeutung von Zeitzeugenberichten für eine authentische Erinnerung an historische Ereignisse liegt auf der Hand. Aber warum haben Sie das Medium der Videoaufzeichnung gewählt?

Wenn es nur darum ginge, die Verluste Deutschlands und der Deutschen im 20. Jahrhundert aktenkundig zu machen, dann würde es ausreichen, Augenzeugenberichte und andere Primärquellen schriftlich zu fixieren, so wie es ja auch vielfach geschehen ist und geschieht. Im Hinblick auf eine öffentlichkeitswirksame Präsentation ist es jedoch mehr und mehr geboten, sich auch der elektronischen Medien zu bedienen, mit denen erheblich mehr interessierte Menschen erreicht werden als mit dicken Folianten, die in Bibliotheken und Archiven schlummern.

Außerdem ist das spontan vor laufender Kamera gesprochene Wort in der Regel eindringlicher, überzeugender und kurzweiliger. Bei entsprechender Auswahl der Zeitzeugen kann es auch noch einen - wenn auch bescheidenen - zusätzlichen wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn hinsichtlich historischer Einzelereignisse ge-ben, „Zeugenaussagen“ im engeren Sinne. Und regelmäßig wiederkehrende übereinstimmende Aussagen und Erinnerungen sind geeignet, den typischen Ablauf gewisser historischer Vorgänge zu belegen und so der Verharmlosung als „Einzelfallerscheinung“ entgegenzuwirken. Nebenbei erhält man mit den Videointerviews schließlich auch noch eine Sammlung von Tondukumenten der unterschiedlichen Dialekte.

Mündliche Überlieferung video- graphisch aufzuzeichnen, ist ja eine relativ neue Form der „Geschichtsschreibung“. Gibt es ähnliche Projekte, auf deren Erfahrungen man zurückgreifen kann?

In Amerika soll es über 250 solcher „oral history“-Projekte geben. Ein wenn auch nicht vom Umfang, so doch vom Ansatz her vergleichbares Projekt ist die „Survivors of the Shoa Visual History Foundation“ - kurz: Shoa Foundation - des Hollywood-Regisseurs Steven Spielberg. Diese hat in den vergangenen Jahren nach eigenen Angaben über 51.000 Videointerviews mit Überlebenden des Holocaust durchführen lassen. Die Gesamtspielzeit des Materials beträgt 13 Jahre und sechs Monate. Selbsterklärtes Ziel ist es, „to ensure that future generations never forget what so few lived to tell“ („um sicherzustellen, daß künftige Generationen niemals vergessen, was so wenige Überlebende erzählen konnten“, siehe im Internet: www.vhf.org). Die Shoa Foundation stellt die digital gespeicherten Interviews ausgewählten Museen online zur Verfügung, macht sie Forschern und Studenten zugänglich und produziert daraus pädagogische Filme und CD-Roms für den Unterricht und für Bibliotheken etc.

Eine ähnliche Verwertung schwebt dem BdV für unsere Interviews mit Opfern von Umsiedlung, Flucht, Vertreibung und Spätaussiedlung vor, und zwar im Rahmen des geplanten „Zentrums gegen Vertreibungen“ in Berlin, über dessen Zielsetzung und Fortschritt in der Realisierung man sich übrigens gut im Internet informieren kann (www.z-g-v.de). Wegen der geringen finanziellen und personellen Mittel und aufgrund des weit fortgeschrittenen Alters der Zeitzeugen müssen wir uns zunächst ganz auf die Aufnahme von Interviews konzentrieren. Dies hat allerdings, trotz der damit verbundenen erheblichen Kosten, in fernsehsendefähiger Qualität zu geschehen, so daß der späteren Verwertung der Interviews keine technischen Grenzen gesetzt sind.

Am Ende eines Interviews, das bis zu drei Stunden dauern kann, werden noch möglichst viele Fotografien und fotogene Dokumente, die geeignet sind, das Gesagte zu illustrieren, professionell abgefilmt und dabei vom Zeitzeugen selbst kommentiert. Die Videokassetten werden zusammen mit fotokopierten schriftlichen Zeugnissen (Tagebücher, Lebensberichte, Zeitungsartikel, Dokumente etc.) sowie einem beim Interviewtermin aufgenommenen Foto des Zeitzeugen archiviert. Ein Protokoll erfaßt die Daten des Zeitzeugen und den Inhalt des Interviews in einer Datenbank, so daß zum Beispiel ein Doktorand, der sich, sagen wir einmal, mit der Umsiedlung der Deutsch-Balten, Buchenlanddeutschen, Wolhyniendeutschen, Bessarabien- und Dobrudschadeutschen 1939/41 ins „Wartheland“ beschäftigt, die relevanten Zeitzeugenaussagen per Stichwortsuche finden kann.

Welche Zeitzeugen mit welchen Themen wählen Sie aus?

Wegen der begrenzten Mittel muß unter der auch heute noch großen Anzahl möglicher Zeitzeugen eine enge Auswahl getroffen werden. Bisher konnten erst etwa 110 Interviews aufgezeichnet werden. Wichtig ist bei diesem Projekt, daß alle Umsiedlungs- und Vertreibungsgruppen berücksichtigt werden, vom Baltikum bis Bessarabien, also gerade auch die sonst häufig vernachlässigten kleineren Gruppen. Man denke nur an den vergangenes Jahr ausgestrahlten ARD-Dreiteiler über Flucht und Vertreibung, bei dem noch nicht einmal die Donauschwaben - zusammen immerhin 1,5 Millionen Vertriebene! - gewürdigt wurden.

Sodann muß darauf geachtet werden, daß innerhalb der einzelnen freundschaftlichen Gruppen möglichst alle wichtigen Regionen repräsentiert sind, also bei den Buchenlanddeutschen etwa: die Nord-Bukowina (ukrainische Umgebung), Tschernowitz (Mischbevölkerung und Musterbeispiel eines multikulturellen Gemeinwesens der untergegangenen Habsburgermonarchie) und die Süd-Bukowina (rumänische Umgebung). Außerdem sollten alle wichtigen Schicksalstypen erfaßt werden, im Hinblick auf Ostdeutschland also zum Beispiel: geglückte Flucht bis in den Westen, mißglückte Flucht und Einnahme durch die Russen, Wolfskind in Litauen, Waisenkind in Nord-Ostdeutschland, Verschleppung nach Sibirien, Internierung in polnischem Lager usw.

Mögliche Augenzeugenaussagen zum Komplex der Vertreibung bzw. Umsiedlung sind denn auch eine unerläßliche Voraussetzung für das Zustandekommen eines Interviews, so daß „Vertriebene“, die zum Zeitpunkt der Vertreibung zum Beispiel in russischer Kriegsgefangenschaft waren, im Rahmen dieses Projekts leider höchstens ausnahmsweise einmal berück-sichtigt werden können.

Der zweite, d. h. chronologisch gesehen erste große Schwerpunkt eines jeden Interviews sind, wie gesagt, die Erinnerungen an die alte Heimat selbst. Als drittes großes Thema schließlich werden die Umstände des Neubeginns nach der Vertreibung abgehandelt, denn auch zum Beispiel die enorme Integrationsleistung der Bundesländer ist ein historisches Lehrbeispiel. Wegen dieser drei Schwerpunkte läuft das Zeitzeugen-Videointerview-Archiv auch unter der Überschrift „Heimat - Vertreibung - Integration“.

Hinsichtlich des Nachkriegsaspekts ist es übrigens auch wichtig, möglichst viele Zeitzeugen in den neuen Bundesländern zu befragen, denn in der DDR war das Schicksal der Vertriebenen tabuisiert, so daß es diese Vertriebenen doppelt schwer getroffen hat. Überhaupt ist auch mir erst durch die Interviews klar geworden, wie sehr Heimatvertreibung ein nicht bloß auf den traumatisierenden Vorgang der Vertreibung selbst beschränkter Schicksalsschlag ist, sondern darüber hinaus auch eine Belastung für den Rest des Lebens und eine massive Beeinträchtigung der persönlichen Entwicklungschancen. Die alles in allem doch friedliche und gelungene Integration von ca. zwölf Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen in dem vollkommen darniederliegenden und ausgebombten Rest-Deutschland ist ein beispielloser Vorgang, der ebenfalls in den Interviews beleuchtet wird.

Sie erwähnten bereits die vom BdV angestrebte Errichtung eines großen „Zentrums gegen Vertreibungen“ in Berlin. Dort sollen neben den betroffenen Deutschen auch Vertreibungsopfer anderer Nationen zur Darstellung gebracht werden. Geht Ihre Tätigkeit auch in diese Richtung?

Eine thematische Ausdehnung des Interviewprojekts auf Heimatvertriebene und zur Assimilierung Gezwungene anderer Nationen wäre natürlich wün- schenswert. Ich denke da zum Beispiel an die 1,5 Millionen Polen, die durch die Westverschiebung ihres Landes unter anderem aus dem Lemberger Raum vertrieben wurden. Auf einer Interviewreise durch das Baltikum und Finnland, die allerdings in erster Linie den dort noch lebenden Deutsch-Balten, ostdeutschen „Wolfskindern“ und Wiborger Deutschen galt, konnte ich bereits einige Interviews mit estnischen und lettischen „Waldbrüdern“ über deren Widerstand gegen die sowjetrussische Okku- pation und Deportation führen, sowie mit vertriebenen finnischen Kareliern, deren Schicksalsweg erstaunliche Parallelen zu der Situation der deutschen Vertriebenen aufweist.

Als langjähriges Mitglied der „Gesellschaft für bedrohte Völker“ könnte ich mir auch gut vorstellen, systematisch Interviews mit Opfern aktueller Vertreibungen aufzuzeichnen, also etwa mit Tschetschenen, Bosniern, Kurden usw. Das ist alles nur eine Frage der zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel oder auch, wenn Sie so wollen, der Bereitschaft der öffentlichen Hand, das Projekt bzw. das geplante Zentrum gegen Vertreibungen zu unterstützen.

In Anbetracht der Dimensionen oder, besser gesagt, Relationen der verschiedenen historischen und aktuellen Vertreibungen gehe ich allerdings davon aus, daß bei dem Zentrum gegen Vertreibungen die Vertreibung der Deutschen in der Mitte des 20. Jahrhunderts den Schwerpunkt bilden wird. Angesichts sehr begrenzter Mittel für das Videoprojekt konzentriert sich auch meine Arbeit zunächst auf die deutschen Vertriebenen. Mir liegen mittlerweile etliche hundert bereits ausgewählte Adressen von geeigneten Zeitzeugen aller freundschaftlichen Gruppen und aus allen Bundesländern vor - mehr als ich jemals bewältigen kann.

Heißt das, daß Sie keine Zeitzeugen mehr suchen?

Nicht unbedingt. Obwohl man nie alle wird interviewen können, rufen wir doch weiterhin dazu auf, geeignete Zeitzeugen zu benennen und am besten auch gleich schriftliche Erlebnisberichte einzureichen, damit die repräsentative Auswahl, von der ich vorhin sprach, noch besser getroffen werden kann. Und wer weiß, vielleicht findet sich morgen ein großer gemeinnütziger Sponsor, der weitere Interviews finanziert.

Wer also als Zeitzeuge zu einem Interview bereit ist oder einen geeigneten Zeitzeugen nennen kann, ist aufgefordert, sich bei der Bundesgeschäftsstelle des BdV in Bonn oder auch direkt bei mir zu melden, und zwar nach Möglichkeit bitte schriftlich und mit Hinweis auf Herkunft, Art des Heimatverlustes und eventuell be- sondere Erlebnisse - gute wie schlechte -, für die sich zukünftige Generationen interessieren könnten.

Herr Berking, vielen Dank für dieses Interview und alles Gute für Ihre wichtige Arbeit!

 

Kontakt: Kristof Berking, Dokuvision GmbH, Schildarpstraße 10, 48712 Gescher, Tel.: 0 25 42 / 95 13 17, Fax: 0 25 42 / 95 13 37

 
     
     
 
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