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Das Spiel mit den Opferzahlen

 
     
 
Am 26. April trat zum ersten Mal die im November 2004 vom Dresdner Oberbürgermeister Ingolf Rossberg ins Leben gerufene Historikerkommission zur Ermittlung einer offiziellen Totenzahl der Luftangriffe auf Dresden im Februar 1945 an die Öffentlichkeit. In einem "Workshop" berichteten Mitglieder vom bisherigen Stand ihrer Forschungsarbeit und von noch offenen Fragen. Es fiel auf, daß zwar der durch einige voreilige Äußerungen umstrittene Vorsitzende, der aus dem Militärgeschichtlichen Forschungsamt (MGFA) stammende Prof. Dr. Rolf-Dieter Müller, anwesend war, nicht aber der seinerzeit auch in die Kommission berufene renommierteste Fachmann für Fragen der Luftkriegsführung im Zweiten Weltkrieg
, der ehemalige Leitende Wissenschaftliche Direktor im MGFA, Dr. Horst Boog. Auf ihm ruhten vor allem die Hoffnungen, die Kommission werde vorurteilsfrei und ergebnisoffen forschen.

Die Frage, wie viele Opfer die britischen und US-amerikanischen Luftangriffe auf Dresden ein Vierteljahr vor Kriegsende gekostet haben, erregt immer wieder die Öffentlichkeit. Die im Laufe der Jahrzehnte genannten Zahlen liegen extrem weit auseinander. Sie reichen von 25000, die von der Landeshauptstadt Dresden in dem von ihr herausgegebenen Ausstellungskatalog "Verbrannt bis zur Unkenntlichkeit" 1993 genannt wurde, bis zu 300000 Toten, die nicht etwa Rechtsextreme verbreitet haben, wie heute gern behauptet wird, sondern der Stellvertretende Vorsitzende des DDR-Ministerrates Hans Loch, der 1955 öffentlich erklärte, es seien "mehr als 300000 Dresdner" bei den Luftangriffen getötet worden. Der heute auch häufig zitierte englische Historiker David Irving kann keine Zuverlässigkeit für sich in Anspruch nehmen, hat er doch mehrfach von ihm genannte Verlustzahlen korrigiert; mal waren es 135000 Tote, dann 202040, bis er auch diese Zahl korrigierte: Eineinhalb Jahre später räumte er in einem Leserbrief in der Londoner "Times" ein, es habe nur 25000 Tote in Dresden gegeben. Das Statistische Bundesamt ging 1962 in seiner amtlichen Ermittlung der deutschen Luftkriegsopfer von 60000 getöteten Dresdnern aus, während Rolf Hochhuth 1974 in einem Fernseh-Interview 202000 nannte. (Übrigens ist die Behauptung, die Nationalsozialisten hätten gleich nach den Angriffen mit stark überhöhten Dresdner Opferzahlen Propaganda gemacht, falsch. Bis Ende des Krieges sind von amtlichen deutschen Stellen keinerlei Zahlen veröffentlicht worden, was verständlich ist, weil hohe Zahlen demoralisierend auf die Bevölkerung gewirkt hätten.)

Es ist daher verdienstvoll, daß der jetzige Oberbürgermeister die Kommission (Kosten zirka 230000 Euro) ins Leben gerufen hat, wenn auch zu Anfang Befürchtungen aufkommen mußten, man habe ihr Vorgaben gemacht, die wiederum der politischen Propaganda dienen sollten.

Oberbürgermeister Rossberg hatte bei der Konstituierung verkündet, die Kommission solle den "rechtskonservativen und neonationalistischen Kreisen" Wind aus den Segeln nehmen, die den bisherigen offiziösen Totenzahlen von 35000 nicht glaubten, sondern von höheren Verlusten ausgingen. Das aber sei - so Rossberg - eine "ebenso dreiste wie gefährliche Instrumentalisierung". Es schien, als sollte die Kommission nicht ergebnisoffen forschen dürfen, was die Voraussetzung für eine wissenschaftliche Arbeit gewesen wäre.

Ins Zwielicht geriet auch der berufene Vorsitzende, Prof. Müller, als er wenige Wochen nach Gründung der Kommission und ohne, daß sie bisher getagt hätte, in mehreren Zeitschrifteninterviews erklärte, es habe in Dresden nur "mindestens 25000 Tote" (so in "Financial Times Deutschland") gegeben. Auf die Zahlen könnten maximal 20 Prozent aufgeschlagen werden. Im darauf folgenden März wurde er in "Spiegel.online" mit derselben Zahl zitiert, ohne daß er dazu von der Kommission beauftragt war.

Um so aufschlußreicher war die jetzt durchgeführte erste öffentliche Verlautbarung im Rahmen des "Workshops".

Eines der Kommissionsmitglieder fand es "seltsam, daß selbst einfach erreichbare Quellen bisher nicht ausgewertet wurden". Jetzt hat man sie herangezogen. Unbekannt aber sei weiterhin, wie viele Flüchtlinge etwa aus Schlesien sich in den Tagen des Angriffs in Dresden aufgehalten haben und wie viele von ihnen Opfer der Luftangriffe wurden. Jetzt wollen die Historiker versuchen, mit Hilfe der Vertriebenenverbände diese Fragen zu beantworten.

Im März dieses Jahres ließ die Kommission einen Aufruf veröffentlichen, mit dem sie erneut um Unterstützung bat: Sie sucht Personen, die Angaben über zusätzliche Einquartierungen von Flüchtlingen, Soldaten und Ausgebombten anderer Städte in Dresdner Wohnungen bezeugen können, ebenso wie Augenzeugen aus Feuerwehr, NSDAP-Organisationen, Militär, Räumkommandos, Friedhofskommissionen, des Roten Kreuzes, der Reichsbahn und so weiter (Stadtarchiv Dresden, Postfach 120020, 01001 Dresden).

Die Untersuchungen waren also noch in Gange. Trotzdem konnte der Vorsitzende im "Workshop" bereits bekanntgeben, daß vermutlich "25000 plus x" Dresdner durch die Angriffe getötet worden seien. Auf diese Zahl könne man 10 bis 20 Prozent Tote aufschlagen, so daß man maximal auf 30000 Tote kommt.

Häufig wird in der Öffentlichkeit der Verdacht geäußert, viele Menschen könnten nicht mehr gefunden werden, weil sie spurlos verbrannt seien, hätten doch in den Kellern Temperaturen von über 900 Grad geherrscht. Wissenschaftler erklärten auf der Zusammenkunft, daß Menschen nicht ohne Rückstand verbrennen, eine These, die durch die sofort nach den Großangriffen auf Hamburg im Juli 1943 begonnenen pathologisch-anatomischen Untersuchungen (Prof. Dr. Siegfried Gräff: "Der Tod im Luftkrieg") bestätigt ist. Der Feuerwehrfachmann Hans Brunswig konstatierte allerdings, es sei häufig nicht möglich gewesen festzustellen, wie viele Menschen in einem Keller verbrannt seien, wenn man nur noch weiße Aschereste sowie ausgeglühte Uhren, Taschenmesser und so weiter vorfand. Man kann aber davon ausgehen, daß durch solche Veraschung von Menschen die Verlustzahlen nicht wesentlich in die Höhe getrieben wurden. Hingegen ist die Zahl der Flüchtlinge aus Schlesien, die in die Luftangriffe gerieten und dabei getötet wurden, von Bedeutung.

Die jetzt von Prof. Müller genannten Zahlen stimmen bemerkenswert genau mit seinen vor über einem Jahr bereits bekannt gegebenen Zahlen überein, als die Kommission ihre Arbeit noch gar nicht begonnen hatte.

Die Höhe der Opfer von Dresden ändert nichts an der grundsätzlichen Aussage, daß die alliierten Luftangriffe mit dem erklärten Ziel, möglichst viele Frauen und Kinder zu töten, um die Moral der Deutschen zu brechen, Kriegsverbrechen waren, die bewußt begangen wurden ohne Rücksicht auf das geltende Völkerrecht. Das bestätigte erst jüngst der US-amerikanische Völkerrechtler Professor Alfred de Zayas, langjähriger Generalsekretär des Uno-Menschenrechtsausschusses in Genf. Im Februar 2006 veröffentlichte er einen Artikel, in dem es zusammenfassend hieß: "Die Flächenbombardements deutscher Städte waren Verbrechen, vor allem weil sie nachweislich primär zum Zwecke der Terrorisierung der Bevölkerung durchgeführt wurden und nicht zur Zerstörung militärischer Ziele."

Die Kommission hofft, Ende 2006 die offiziellen Zahlen bekanntgeben zu können.

Wie viele Menschen starben im Feuersturm 1945?

Vor allem die Zahl der Flüchtlinge ist ungewiß
 
     
     
 
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