|   | 
          So gelang es Stalin, gleich zu Beginn wesentliche Vorteile     gegenüber seinen deutschen Kontrahenten zu gewinnen, die ein geradezu massives Defizit an     Augenmaß und politischer Intelligenz an den Tag gelegt haben. 
       Sogar Nicolaus v. Below, der von 1937 bis 1945 als dessen Luftwaffenadjutant mit Hitler     eng zusammengearbeitet hat und in seinen Erinnerungen den ehemaligen Chef sehr einfühlsam     und wohlwollend behandelt, spricht von dessen Ahnungslosigkeit und Dilettantismus in     außenpolitisch   en Dingen (296). Er umreißt auch dessen Persönlichkeit, in der sich ein     Maß an sachlicher Nüchternheit mit einer traumhaften Sicht der Gegebenheiten und einem     bis zum Sendungsbewußtsein gesteigerten Selbstbewußtsein widerspruchsvoll     zusammenfanden, wobei nicht selten Wunschbilder den Blick auf die Realität verdeckten. 
       Das hatte schwerwiegende Konsequenzen. Bekanntlich zieht sich der Gedanke der Eroberung     eines "Lebensraumes im Osten" und des Kampfes gegen den "jüdischen     Bolschewismus" leitmotivartig durch die politische Vorstellungswelt des Diktators,     doch die erste Runde der Auseinandersetzung war klar an den Gegner gegangen. Die     Sowjetunion hatte Deutschland in eine Art Stellvertreterkrieg gegen die Westmächte     manövriert und ihm gegenüber die eigene Position wirtschaftlich und strategisch     wesentlich verstärkt, aber jede direkte Konfrontation mit den Westmächten vermieden.
       Dagegen mußte Hitler schon am 25. August 1939 einsehen, daß er sein Vabanquespiel     verlor, vor dem auch Göring gewarnt hatte. Die erhoffte Schockwirkung des Moskauer Paktes     blieb aus, und damit verminderte sich auch die Aussicht auf ein abermaliges Stillhalten     der Westmächte bei dem Angriff auf Polen. Deutschland aber war auf einen     "großen" europäischen und gar einen Weltkrieg höchst mangelhaft vorbereitet,     und Hitler war bestürzt, als er sich nach dem schwerwiegenden Fehlschlag seiner Politik     unmittelbar mit dem "Ernstfall" konfrontiert sah. General Halder schrieb dazu in     sein Tagebuch: "Führer ziemlich zusammengebrochen." Als dann am 3. September     das englische Ultimatum überreicht wurde, kam es zu der vom Chefdolmetscher Schmidt     geschilderten Szene: "Wie versteinert saß Hitler da und blickte vor sich hin 
     Nach einer Weile, die mir wie eine Ewigkeit vorkam, wandte er sich Ribbentrop zu, der wie     erstarrt am Fenster stehengeblieben war. ,Was nun? fragte Hitler seinen     Außenminister 
" Betroffene Ratlosigkeit verbreitete sich aber auch  wie     Below bestätigt  unter den im Vorraum wartenden Gästen und lastete auf ihnen.
       Diese Realität steht natürlich in krassem Gegensatz zu jenen traumhaft-visionären     Wunschbildern, in denen sich der Führer tatsächlich als Welteroberer gesehen haben mag     und denen etwa auch jene Vorstellungen von der Ausgestaltung Berlins entsprachen, die man     ihm wenigstens im Holzmodell überreicht hat.
       Die harte Wirklichkeit sah anders aus. Politisch hatte Deutschland seine italienischen     und japanischen Freunde verärgert und sich in Abhängigkeit von dem östlichen Koloß     begeben, dessen Gefährlichkeit General Beck klar erkannt hatte. Militärisch bereitete     zwar Polen keine entscheidenden Schwierigkeiten, doch alles weitere lag im Nebel. Hier     mußte man sich mit Improvisationen behelfen, die oft nur infolge schwerer Fehler des     Gegners erfolgreich waren. Von durchdachten Plänen zur Eroberung der Weltherrschaft mit     Hilfe von Angriffskriegen war keine Spur. Vielmehr hat Hitler selbst zugegeben, daß die     Zeit gegen ihn arbeitete, und wohl zuinnerst gefühlt, was General Beck ausgesprochen hat:     "Bei einem Krieg gegen eine Weltkoalition wird Deutschland unterliegen und dieser     schließlich auf Gnade und Ungnade ausgeliefert sein." So ist denn auch seine Rede am     1. September 1939 vor dem Reichstag alles andere als eine Fanfare für den Aufbruch zum     Marsch an die Weltherrschaft. Sie ist vielmehr auf einen sehr ernsten Ton gestimmt und     enthält den Kernsatz: "Ein Wort habe ich nie kennengelernt, es heißt:     Kapitulation."
       Nach dem Zusammenbruch der polnischen Armee begannen die Sowjets, sich der ihnen     vertraglich zugesprochenen Gebiete Ostpolens und der baltischen Staaten zu bemächtigen,     und auch Finnland war dieses Schicksal zugedacht, doch es wehrte sich tapfer und     geschickt. Die Westmächte  zumal Frankreich, das den Krieg vom eigenen Territorium     fernhalten wollte  suchten sich nun mit der Begründung oder unter dem Vorwand der     Finnlandhilfe im Norden festzusetzen, um die dortigen Ressourcen zu kontrollieren und eine     Flankenstellung gegenüber Deutschland und Rußland zu gewinnen. Um einen direkten     Zusammenstoß mit ihnen zu vermeiden, fand sich Moskau vorerst zu einem einigermaßen     glimpflichen Frieden mit Helsinki bereit. Bald darauf befreite der deutsche Angriff auf     Norwegen die Russen von solchen Sorgen und ließ den bisherigen "komischen     Krieg" (drôle de guerre) vielversprechend zum echten "imperialistischen     Krieg" entbrennen. In diesen Monaten erwog man in London und Paris auch eine Aktion,     die sich aus dem Nahen Osten unter eventueller Teilnahme türkischer und persischer     Truppen gegen die Sowjetunion richten sollte, welche man als Verbündete Deutschlands     betrachtete, doch blieb es aus verschiedenen Gründen bei bloßen Überlegungen.     Diesbezügliche Akten wurden von den Deutschen im Frankreichfeldzug erbeutet und den     Russen zugänglich gemacht, was deren Mißtrauen gegen die Westmächte verstärkte.     Umgekehrt aber hat damals die Komintern alles getan, um deren Kriegsanstrengungen gegen     Deutschland zu konterkarieren, was bis zur Zusammenarbeit mit dem deutschen Geheimdienst     ging.
       Bald aber schuf der spektakuläre deutsche Sieg im Westen eine grundlegend neue     strategische Lage, was aber von der "Zeitgeschichte" mit einer geradezu     bewundernswerten Hartnäckigkeit ignoriert wird. Frankreichs Divisionen waren zerschlagen,     die Engländer unter Verlust fast ihres gesamten Kriegsmaterials auf ihre Insel     zurückgetrieben, und zwischen der Roten Armee und dem Atlantik stand nur mehr die     deutsche Wehrmacht. War sie ausgeschaltet, dann waren die Sowjets die Herren zumindest     Kontinentaleuropas, und die Briten hätten das nur durch einen fliegenden Wechsel zu einer     Verständigung oder einem Bündnis mit Hitlerdeutschland verhindern können. Nun war ein     solcher zwar objektiv höchst unwahrscheinlich, aber der mißtrauische Stalin argwöhnte,     die "kapitalistischen" Mächte könnten sich zur entscheidenden Stunde doch noch     gegen das "Vaterland aller Werktätigen" zusammenfinden, was übrigens auch der     kommunistischen Logik entsprochen hätte. Immerhin wäre ein solcher Seitenwechsel nicht     ganz ausgeschlossen gewesen, wenn man in London die sowjetischen Absichten durchschaute,     und das galt es zu verhindern.
       Ab Mitte Juni 1940 begann Moskau eine stärkere Dynamik zu entwickeln. Die baltischen     Staaten wurden sowjetisiert, Bessarabien trotz deutscher Einwände annektiert, dazu über     die im Zusatzprotokoll vereinbarte Linie hinaus auch die Nordbukowina und ein     Grenzstreifen der Moldau, und das ohnehin schon hohe Rüstungstempo nochmals forciert.     Überdies begann die sowjetische Propaganda unverkennbar kritische Töne gegenüber     Deutschland anzuschlagen, die allerdings von noch schärferen Angriffen auf die     Westmächte begleitet waren, und Moskau suchte die Konflikte zwischen den Balkanstaaten     auszunützen. Das suchte Berlin mit dem Wiener Schiedsspruch vom 30. August 1940     abzublocken, der mit einer Garantie für das durch seine Ölquellen wichtige Rumänien     verbunden war, die sich zumindest indirekt gegen die Sowjetunion richtete. Die Entsendung     einer "Lehrtruppe" auf rumänisches Ansuchen gab der Garantie symbolischen     Rückhalt.
       Weltmachtpolitisch befand sich Deutschland trotz der bisherigen Siege mit dem     Fortschreiten der Jahreszeit in einer schwieriger werdenden Lage. Die Luftschlacht über     England neigte sich der Niederlage zu, es erwies sich als unmöglich, die divergierenden     Interessen Italiens, Frankreichs und Spaniens politisch auf einen Nenner zu bringen, und     bei den Gesprächen in Hendaye und Montoire zeigten sich Franco und Pétain sehr     zurückhaltend. Die militärische Schwäche und wirtschaftliche Hilfsbedürftigkeit     Italiens wurde immer deutlicher, der Dreimächtepakt vom 27. September beeindruckte     Washington wenig, am 28. Oktober erzeugte der Angriff Mussolinis auf Griechenland einen     gefährlichen neuen Krisenherd und schließlich mußte man nach der Wiederwahl Roosevelts     am 5. November mit einer zunehmenden Feindseligkeit Amerikas rechnen. Im Osten aber     bildete der russische Koloß eine latente Bedrohung, und sein Verhalten war undurchsichtig     und zweideutig genug. Die Weltkoalition, vor der General Beck gewarnt hatte, warf ihre     Schatten voraus.
       So begann der deutsche Generalstab im Juli 1940 mit den gedanklichen Vorbereitungen     für den Feldzug im Osten. Dabei spielte die Annahme eines unmittelbar bevorstehenden     Angriffs der Roten Armee auf das Reich keine Rolle, eher fürchtete man eine Aktion gegen     Rumänien. Dringender war die Sorge, Amerika und Rußland könnten im weiteren Verlauf des     Krieges für England Partei ergreifen. Tatsächlich warb London um Moskau, doch dieses     blieb zurückhaltend, denn in eventuellen Bündnisverhandlungen bestand die Gefahr, daß     die Briten in die sowjetischen Karten blickten.
       So ergab sich für Hitler  unabhängig von den alten Leitmotiven der Eroberung     eines "Lebensraumes im Osten" und des Kampfes gegen den "jüdischen     Bolschewismus"  ein unmittelbarer Handlungsbedarf: War die Lage im Osten nicht     vor dem Eingreifen Amerikas bereinigt, dann war der Krieg für Deutschland aussichtslos.     So begann man sich auf eine militärische Auseinandersetzung mit der Sowjetunion     vorzubereiten, ohne vorerst die Tür für eine politische Lösung oder Zwischenlösung      die Einbeziehung der Sowjetunion in den Dreimächtepakt  gänzlich     zuzuschlagen. Der Besuch des Außenkommissars Molotow in Berlin im November 1940 brachte     dann Klarheit.
       Nun wird dieser Besuch von vielen Historikern mit Recht als ein Schlüsselereignis in     der Geschichte des Zweiten Weltkriegs, ja des 20. Jahrhunderts angesehen. Dieser     Auffassung entspricht es auch, daß die Sowjets jene Vorgänge konsequent zu verschleiern     suchten. So wollten sie nach der Eroberung von Berlin die Tonbänder der seinerzeitigen     Gespräche in die Hand bekommen und ihre Agitprop-"Historie" hat sich darüber     ausgeschwiegen oder auf einige kurze und nichtssagende Passagen beschränkt. Daher war man     lange auf die deutschen Darstellungen angewiesen, die erst vor kurzer Zeit durch russische     Veröffentlichungen im wesentlichen bestätigt wurden. So rundet sich heute ein Bild von     der Folgerichtigkeit und dem Raffinement Stalins bei der Durchführung der schon von Lenin     entworfenen Langzeitstrategie gegenüber Deutschland und besonders den westlichen     "Kapitalisten" und "Imperialisten". Während seine Partner oft in     nebulöse Betrachtungen abschweiften, bezog sich Molotow genau auf jene Punkte, wo die     sowjetische Expansionspolitik auf deutschen Widerstand gestoßen war oder stoßen mußte.     Zunächst verlangte er im Sinne der Vereinbarungen von 1939 die Überlassung Finnlands,     äußerte sein Mißfallen über die deutsche Garantie für Rumänien, die sich gegen die     Sowjetunion richte, und forderte eine russische Truppenpräsenz in Bulgarien sowie     Stützpunkte an den Dardanellen. Auch verlangte er nähere Erläuterungen über den     Dreierpakt und den sogenannten großostasiatischen Raum. Stalins Abgesandter betonte     ferner, die bisherige Abgrenzung der Interessensphären sei überholt und müsse neu     festgelegt werden, wie er in der abschließenden Besprechung mit Ribbentrop im     Luftschutzkeller der Sowjetbotschaft näher darlegte. Über die bisherigen Forderungen     hinaus bekundete er das sowjetische Interesse an Rumänien, Ungarn, Jugoslawien und     Griechenland  also am gesamten Südostraum , erinnerte daran, daß der     Sowjetunion auch ein Mitspracherecht bezüglich Westpolens zugestanden worden war, und     forderte schließlich eine Kontrolle der Ostseeausgänge. Man konnte das zusammenfassen:     "Rußland schickte sich an, die Ostsee in ein russisches Binnenmeer zu verwandeln,     den Balkan zu unterwerfen, die polnischen Verhältnisse so zu regeln, daß, wenn möglich,     die vierte Teilung Polens durch eine Art Kongreßpolen  unter russischer Oberhoheit     also  abgelöst werden konnte" (256). (Schluß folgt)
        | 
            |