|  |  Ein junger Mann rief mich an: Ich höre, daß Sie sich für alte Geschichten  interessieren. Darf ich Sie einmal aufsuchen? So lernte ich einen jungen Mann  kennen, der einen guten Eindruck auf mich machte. Er war in den 20er Jahren. In  Gestik und Sprache zeigte sich ruhige Selbstsicherheit. Ich wußte sofort, daß  ich es mit einem jungen Mann zu tun hatte, der sich in der gegenwärtigen Welt zu  Hause fühlte. Er vertrat die Zeit, in der er lebte. Er war Teil dieser Zeit. Ich habe gehört, sagte der junge Mann, daß Sie sich mit der Vergangenheit  beschäftigen. Sie versuchen, der Vergangenheit das Leben zurückzugeben, das sie  verloren hat, warum tun Sie das? Die Vergangenheit ist tot. Die Vergangenheit  ist ein Friedhof, auf dem alle Ereignisse zu ewiger Ruhe gelangt sind. Ich  sagte, lieber junger Freund, jede Gegenwart ist ein Kind der Vergangenheit. Und  zwar der Vergangenheit, die einen Tag alt ist, die zehn Jahre alt ist, die  hundert Jahre alt ist, die eine Million Jahre alt ist. Die Gegenwart geht ihren  Weg in die Zukunft und trägt auf dem Rücken einen Ruck-sack, in dem sich der  gerade vergangene Tag zusammen mit einer Million Jahren befinden. Dieser  Rucksack mag manchem zu schwer sein, aber er kann ihn nicht ablegen. Er kann nur  so tun, als bemerke er ihn nicht.  Ich sehe schon, sagte der junge Mann, daß wir ein interessantes Gespräch haben  werden. Ich habe eine alte Geschichte in meinem Rucksack … Sie betrifft meinen Großvater. Mein Großvater lebt nicht mehr. Auch mehr  Vater lebt nicht mehr. Aber über meinen Vater bin ich in den Besitz von Papieren  gekommen, von alten Dokumenten, alten Briefen, alten Fotos … Mein Großvater war  im Kriege Feldgeistlicher. Er beschreibt dies so: Ich bin ein Feldgeistlicher,  dessen Aufgabe es war, Waffen zu segnen, Verwundete zu trösten und Menschen zu  beerdigen, die zu Tode kamen, ohne krank gewesen zu sein …  Wir mußten einen Wald durchqueren. Ein Soldat hielt mich an und sagte, lassen  Sie mich vorgehen, Herr Pfarrer. Es könnte hier Minen  geben. Ich blieb gehorsam  stehen, ließ ihn vorgehen. Der junge Soldat trat auf eine Mine, die Explosion  tötete ihn und mir riß es einen Fuß und einen Unterschenkel vom Leibe. Der junge  Mann, der mir die Worte seines Großvaters vorlas, machte eine Pause. Mein  Großvater trug seitdem eine Prothese … Er blätterte in den Unterlagen, suchte eine neue Stelle und las weiter vor: Ich  wurde aus der Wehrmacht entlassen. Ich bekam eine Pfarrei in einem kleinen Dorf  in der Nähe von Stallupönen. Der junge Mann fragte, wissen Sie, wo Stallupönen  liegt? Ich sagte, ja, es ist eine kleine Stadt in Ostdeutschland. Der junge Mann las  vor: Ich mußte zufrieden sein mit der kleinen Kirche. Als ich sie das erste Mal  sah, dachte ich, da bist du an das ärmste Gotteshaus der Welt geraten. Kahle  Wände, kahles Gestühl, der Altar ein Möbelstück, das sich nicht mit sakraler  Aura umgeben konnte, keine Größe, kein Reichtum, keine Bildnisse von Engeln und  Aposteln, nichts also, was das Wort Gottes daran hindern könnte, dieses kahle  Haus donnernd zu erfüllen. Hinter dem Altar das Kruzifix. Ein Holzkreuz. Der  Jesuskörper, ebenfalls aus Holz. Keine Arbeit, die das Werk eines großen  Künstlers war. Eine eher bäuerliche Schnitzarbeit. Aber die Figur hatte schöne,  große Holzaugen, etwas zu groß, wie ich fand … Ich erinnerte mich an die Worte des Ortsvorstehers. Sein Name war Kallus. Er war  Ortsvorsteher und der Gastwirt des Dorfes. Ein kluger Mann. Er hatte mich mit  verhaltener Trauer angesehen und gesagt, herzlich willkommen, Herr Pfarrer. Er  hatte meine Prothese bemerkt und fragte, waren Sie Soldat? Ich sagte, nein, ich  war nicht Soldat. Aber, hatte Kallus geantwortet, Sie sind verwundet worden. Ich  war auch Soldat. Und ich teile Ihnen gerne mit, was meine Ansicht ist. Es gibt  mehrere Arten von Kriegsteilnehmern. Da sind zunächst die Toten. Dann gibt es  die zweierlei Verletzten. Das sind diejenigen, die von ihrem Körper ständig an  den Krieg erinnert werden, und diejenigen, die den Krieg im Kopf behalten und  mit einer Verwundung leben müssen, die möglicherweise schlimmer ist, als Arm  oder Bein verloren zu haben. Kallus hatte mich angesehen und gefragt, fällt es  Ihnen schwer, mich zu verstehen, Herr Pfarrer? Nein, sagte ich, ich bin mit  Ihnen einer Meinung. Die schlimmsten Verwundungen empfängt die Seele. Kallus  hatte hinzugefügt, auf diesem Gebiete wird noch einiges auf uns zukommen. Was  den Körper und die Seele betrifft. Wenn die Russen nach Ostdeutschland hineinkommen,  wird es das Ende Ostdeutschlands sein … Wenige Monate später begann die Großoffensive der Russen. Die Russen drangen  nach Ostdeutschland hinein. Man hörte von schrecklichen Greueltaten, die ein ganzes  Land in Panik versetzten. Überall Aufbruchstimmung. Die große Flucht begann.  Auch in meinem kleinen Dorf rüstete man sich zur Flucht … Ich war allein in  meiner Kirche, als ein deutscher Soldat die Kirchentür aufriß und schrie, wollt  ihr leben oder sterben? Ihr müßt weg. Läuten Sie die Kirchenglocken. Er  verschwand, aber er hatte die Kirchentür offen gelassen. Durch die offene  Kirchentür drang eisiger Wind mit Schwaden von stäubendem Schnee. Von einer  Sekunde zur anderen war die Kirche ein eiskalter Ort geworden. Wir alle im Dorf hatten auf diesen Augenblick gewartet. Die Gespanne standen  schon bereit. Die Wagen waren beladen mit allem, was mitzuneh- men man für  notwendig hielt, Vor allem natürlich Lebensmittel. Aber jeder hatte noch irgend  etwas, was er nicht zurücklassen mochte. Diese tiefe Erregung am Rande wartender  Verzweiflung, Fragen, die sich plötzlich wichtig machten, als handle es sich um  Fragen von Leben und Tod. Es hatte herzzerreißende Augenblicke gegeben, in denen  man sich gefragt hatte, wovon trennst du dich? Was kannst du hier lassen? Alle  hatten das, was ihre Heimat war, aufgeteilt in Stückwerk. Welches Stück nimmst  du mit? Welches Stück Heimat kannst du entbehren? Mit solchen Gedanken wurde die  Heimat zerbrochen. Man hatte sich umgeben mit Bruchstücken von Heimat, die man  danach beurteilen mußte, wie transportabel sie waren. Man hatte die Kühe  gemolken, ohne mit der Milch etwas anfangen zu können … Ich zog also den Glockenstrick und ließ unsere Glocke hören, so gut sie es  konnte. Sie hatte nur eine kleine Stimme, aber es war eine Stimme, an die man  sich gewöhnt hatte. Als ich sie hörte, schien es mir, als könne man eine Glocke  auch weinen hören. Und wieder erschien jemand in der offenen Kirchentür und  rief, Herr Pfarrer, kommen Sie, wir müssen los. Da stand ich nun und befand mich in einer Situation, die man eine  außerordentliche nennen konnte. Ich beschreibe sie, um festzuhalten, daß es  Situationen gibt, die sich weit außerhalb gewöhnlicher Situationen befinden. Es  war eine Stille entstanden, die keine gewöhnliche Stille war. Und in der Stille,  die keine gewöhnliche war, hörte ich seine Stimme. Jesus sagte, du willst mich  allein lassen? Ihr wollt mich allein lassen? Jetzt erschien Kallus, der Ortsvorsteher, der selbst Soldat gewesen war. Er  sagte, beeilen Sie sich, Herr Pfarrer. Wir verlassen alle unsere Häuser, und Sie  müssen Ihre Kirche verlassen. Ich konnte nicht anders. Ich wies auf das Kruzifix  und sagte, können wir ihn nicht mitnehmen? Kallus war so verwundert, daß er mich  fragte, was wollen Sie mitnehmen? Das Kruzifix? Ich sagte, ja, ich möchte  unseren Jesus mitnehmen. Kallus holte tief Atem und sagte dann, ich weiß nicht,  Herr Pfarrer, ob ich Sie richtig verstehe? Wir können doch das Kruzifix nicht  mitnehmen. Glauben Sie, wir hätten auf irgendeinem unserer Wagen noch Platz für  ihn? … Er senkte die Stimme und sagte, Herr Pfarrer, wie kriegen wir ihn da runter vom  Kreuz? Ich sagte, er hängt nur an einem Haken. Einige Männer haben keine  Schwierigkeit, ihn abzuhängen. Kallus fragte, und wie verladen wir ihn? Ich  sagte, das wird nicht schwierig sein. Kallus stellte seine Fragen jetzt ganz  sachlich. Wie lang ist das Ding? Ich sagte, von Kopf bis Fuß ist das Kreuz etwa  drei Meter lang. Und die ausgebreiteten Arme schätze ich auf etwa zwei Meter.  Kallus fragte, das Gewicht? Ich sagte, das Kreuz ist aus massivem Holz. Es ist  nicht leicht, aber es wird auch nicht zu schwer sein. Kallus war hinausgegangen auf die Dorfstraße. Er ging von Wagen zu Wagen und  sagte, unser Pfarrer hat einen Vorschlag gemacht. Er möchte unseren Jesus aus  der Kirche mitnehmen und fragt, wer auf seinem Wagen noch Platz für ihn hat.  Kallus wunderte sich über das Schweigen, das plötzlich entstanden war. Kallus  sagte, ich habe unserem Pfarrer gesagt, daß alle Wagen vollgepackt seien. Ich  frage also, ist jemand unter uns, der einen Sack Mehl von seinem Wagen  herunternimmt, um Platz zu schaffen für unseren Jesus? Jemand sagte, auf den  Sack Mehl werden wir angewiesen sein. Ein Sack Mehl macht viele Leute satt. Wen  macht unser Jesus satt? Aber es gab auch viele Frauen, die ihre Stimme erhoben.  Sie sagten, Jesus mitnehmen? Sagen wir ja oder sagen wir nein. Werden wir für  das Nein bestraft? Werden wir für das Ja belohnt? Jemand sagte ganz verbittert,  man hätte uns diese Frage gar nicht stellen dürfen. Kallus hatte zugehört und sagte dann, ich nehme ihn mit …  Herbert Reinecker: „Der Jesus von Stallupönen – Novellen über Menschenliebe und  Gottesliebe“, Edition Steinmeier, Nördlingen, 85 Seiten, 10 Euro. 
 
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