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Der Mythos der Reinheit

 
     
 
Sie fühlen sich als der "Messias unter den Völkern", anscheinend bestätigt durch die Leidensgeschichte in der Besatzungszeit von 1939 bis 1945. Und man verweist mit Stolz darauf, daß man nicht wie Frankreich oder Norwegen Quislinge hervorgebracht habe, wie westliche wohlgesinnte Historiker ausgiebig bestätigen. Dieses polnische Selbstportrait über die Befindlichkeit unter der deutschen Besetzung hat jüngst einen Knacks erhalten: der polnische Historiker Gross untersuchte die Ermordnung von Juden in Jedwabne Juli 1941 und fand heraus, daß nicht die Deutschen die Menschen ermordet hatten, wie es auf einem Gedenkstein vermerkt ist, sondern daß die polnische Bevölkerung
über ihre jüdischen Mitbürger hergefallen war.

Daß Antisemitismus und Kollaboration in Polen historisches Tabu sind, kann politisch und psychologisch nachvollzogen werden. Dieser "Mythos der Reinheit" diente insbesondere der Legitimation gegenüber der Sowjetunion nach 1945 zur sozialen und physischen Selbsterhaltung. Aber schon Adam Michnik hatte auf die freiwillige Mitarbeit polnischer Kommunisten mit dem Angreifer Sowjetunion hingewiesen, und der jüdische Historiker Samuel Sharp schrieb bereits 1953, man hätte deutscherseits jederzeit genügend Schurken finden können, die sich für ein Marionettenregime hätten verwenden lassen – doch das sei von der NS-Führung nicht erwünscht gewesen.

1990 hatte die in Posen erscheinende Zeitschrift "Wprost" eine Artikelserie eines jungen deutschen Historikers über Denunziation, Verrat und Kollaboration publiziert und die Polen in Aufregung versetzt. Professoren der Akademie der Wissenschaften in Warschau und Veteranen des Widerstandes überschütteten den Autor mit Verleumdungen und insinuierten Verdächtigungen. Für die öffentliche Meinung in Polen schien die Sache klar: der Autor sei von den Juden finanziert, arbeite für den KGB oder Mossad und last but not least, er sei ein Angehöriger der Gestapo.

Gewiß: Die Mehrheit des polnischen Widerstandes hatte für die polnische Souveränität gekämpft und sich nicht auf verlockende Angebote der Besatzung eingelassen. In den Führungskreisen der von London gesteuerten Widerstandsbewegung und der Regierungsdelegatur, die politisch die polnische Exilregierung im Lande vertrat, wurden nach dem Überfall auf die Sowjetunion jedoch andere Strategien entworfen, die man ihr später nicht ganz zu Unrecht als die "Theorie der zwei Feinde" vorwarf. Mehrheitlich waren die Eliten des Untergrundes neben ihrer absoluten Gegnerschaft zu den Deutschen ebenso entschlossene Feinde der Russen und des Bolschewismus, oftmals gepaart mit einem religiös oder wirtschaftlich motivierten Antisemitismus.

Die völlig verfahrene deutsche Besatzungspolitik der Jahre 1939 bis 1941 erforderte aus dem Blickwinkel der deutschen Sicherheitskräfte im Sommer 1941 eine Neuorientierung. Man versuchte der Führung der Widerstandsbewegung zu verdeutlichen, daß eine deutsche Niederlage nicht mit einem Sieg des nationalen Polen gleichbedeutend sein werde. Die politisch erfahrenen Widerständler, gute Kenner der Russen und der These ihres Nationaldichters Adam Mickiewicz folgend, daß der Deutsche nur das Leben, der Russe aber die Seele nehme, scheuten sich zwar davor, auf die deutschen Angebote eines "Burgfriedens" offen einzugehen, bereiteten sich aber innerlich auf konspirative Schritte vor, die gegen den ungeliebten Verbündeten in Moskau und Aggressor vom 17. September 1939 nach einer erneuten Besetzung des Landes gerichtet waren. Britische Regierungsstellen befürchteten daher, daß der polnische Widerstand mit den Deutschen gegen die Sowjets ein Kampfbündnis schließen könnte, zumal die Führung der von England gesteuerten polnischen Armija Krajowa (AK = Landes-Armee) London laufend von deutsch-polnischen Kontaktaufnahmen ausführlich berichtet hatte.

Ab Oktober 1942 kam es zwischen der Sicherheitsabteilung der polnischen Regierungsdelegatur und einem Sonderkommando der Gestapo zu ständigen, geheimen Konsultationen, die neben der Bereinigung örtlicher Probleme wie der Entfernung von Gestapoleuten, die sich besonders grausamen Verhaltens schuldig gemacht hatten, der Entlassung von antisowjetisch eingestellten Widerstandskämpfern usw. zu der Suche nach den Gräbern von Katyn führte.

Im Rahmen dieses "modus vivendi" konkurrierten bald Gestapo und die militärische Abwehr, die durch den Umstand, nicht von Gewaltmaßnahmen belastet zu sein, erfolgreich mit vertrauensbildenden Maßnahmen bei den polnischen  Gesellschaftseliten Wirkung zeigte und eine Kursänderung in Richtung eines gemeinsamen  antibolschewistischen Kampfes vorantrieb. Abwehrstellen konnten so auch mit polnischer Assistenz den Plan bearbeiten, die polnische Anders-Armee, die in der UdSSR Ende 1941 in Aufstellung begriffen war, 1942 in den Rücken der Roten Armee fallen zu lassen. Erfolgreiche Abwehr-Vertreter des Ausgleichs waren die Rechtsanwälte Gerhard Kowalla und der spätere Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Günther Nollau, der eine Rechtsanwaltskanzlei in Krakau leitete. Das damit aufgebaute Vertrauen reichte immerhin dafür aus, daß der kommunistische polnische Oberbefehlshaber der Streitkräfte, Michal Rola-Zymierski, 1945 dem in Norwegen in englischer Kriegsgefangenschaft sitzenden Kowalla, einem alten Bekannten aus Warschauer Besatzungstagen, einen hohen Posten in der Wirtschaft der Volksrepublik Polen anbot.

Die konkreten Annäherungen in Litauen, denen Verhandlungen und Abmachungen folgten, führte jedoch der Abwehroffizier Dr. Julius Christiansen. Der Oberstleutnant, aus einer bekannten Sylter Kapitänsfamilie stammend, Syndikus des Reichesverbandes des Deutschen Tiefbaugewerbes und Abgeordneter des Preußischen Landtages als Vertreter der nationalliberalen Deutschen Volkspartei vor 1933, hatte wegen seiner skeptischen Haltung dem NS-System gegenüber Unterschlupf bei der Abwehr von Admiral Wilhelm Canaris gefunden. 1942 kam er als Leiter der Abwehrstelle Wilna in die litauische Hauptstadt und bezog Oktober 1943 seine Dienststelle in der Ciurlionstraße.

Gegenspieler und Partner von Christiansen war der legendäre polnische General Aleksander Krzyzanowski, genannt "Wilk" (Wolf), der von deutscher Seite den freundlicheren Decknamen "Blümchen" erhielt. Er leitete ab Frühsommer 1941 die Bezirke Wilna und Nowogrodek der polnischen Widerstandsbewegung ZWZ, später Armija Krajowa (AK). Bei den Verhandlungen war auch ein Angehöriger des britischen Nachrichtendienstes, ein gewisser "Robert", als Verbindungsmann vertreten, nach dem östliche Sicherheitsbehörden mit größter Anstrengung bis in die achtziger Jahre fahndeten. Die Briten hatten ein Interesse daran, den Vormarsch der Roten Armee an der ehemals russisch-polnischen Grenze zum Stillstand zu bringen, und schienen daher eine deutsch-polnische Verständigung mit einem daraus möglicherweise resultierenden Halt der Sowjets zu billigen.

Die politische Zuordnung der Aktionen auftretender Partisanengruppen gestaltete sich äußerst schwierig, denn kriminelle Banden gaben sich als politische, kommunistische als nationale aus und alle verwendeten, wenn es erforderlich und möglich war, Uniformen des Gegners. Die Übergriffe auf Juden, die polnische Widerständler in Litauen durchführten, konnten von den Sturmbataillonen des Ex-Faschistenführers Boleslaw Piasecki, von der rechtsgerichteten NSZ oder russischen Nationalisten und allen anderen begangen worden sein. Auch die AK ließ sich Übergriffe zuschulden kommen wie den Überfall auf Ejszyskis und die Vergewaltigung der dort lebenden jüdischen Frauen und Mädchen, wie eine Augenzeugin, Yaffa Eliach, heute Professorin in New York, erzählt.

Die meisten Partisanen verfügten über deutsche Waffen – einige waren erbeutet, die Mehrzahl wurde von deutschen Dienststellen konspirativ übergeben, um gegen die Sowjets zu kämpfen – im Gegenzug wurden polnische Gefangene aus deutscher Haft entlassen. Stellvertreter mag hier das Partisanenbataillon des Leutnant Czeslaw Zajaczkowski "Ragnar" sein, der einen Waffenstillstand im Bezirk Nowogrodek ausgehandelt hatte. Zajaczkowski selbst fiel bei Kämpfen gegen den NKWD bei Lida am 8. Dezember 1944.

Die deutsch-polnische Annäherung war aber in einem größeren Maßstab angelegt, denn auch Zivilstellen wie der Gebietskommissar von Wilna-Land oder der SS- und Polizeiführer sowie der SD und die Sicherheitspolizei beteiligten sich an der Bündnisgestaltung. Die Kontakte und Begegnungen wurden mit Wissen und Zustimmung der AK-Führung in Warschau durchgeführt. Man darf annehmen, mehrheitlich und überwiegend im Bewußtsein, damit polnische Interessen in diesem Raum den Sowjets gegenüber zu vertreten. Wann begann die Annäherung? Was ist konkret zwischen Abwehr und AK verhandelt worden und, noch bedeutender, was waren die Ergebnisse?

Die ersten Kontakte fanden bereits im Frühsommer 1943 statt, als kommunistische Partisanen sich in Polen immer stärker bemerkbar machten. Zu dieser Zeit befand sich im Keller eines deutschen Soldatenheimes in Wilna der Stab einer polnischen Partisaneneinheit, die in und um Wilna aktiv war. Anstatt die Polen auszuheben, lud Christiansen den Führer zu einem Essen an seinem Dienstsitz ein. Es fand ein Gespräch statt, dessen resultierende Abmachungen mit Handschlag und Ehrenwort besiegelt wurden. Verabredet war die Bewaffnung der Polen, die ihrerseits Kommunisten bekämpfen wollten. Ab Spätsommer 1943 operierten dann tatsächlich nationale Partisanengruppen südlich Wilna im Einverständnis der Wehrmacht gegen kommunistische Gruppen. Feldpostbriefe Christiansens vom Januar 1944 bestätigen den Erfolg seiner Mission. Die örtliche Gendarmerie schloß ihrerseits am 8. Januar 1944 mit den polnischen AK-Gruppen "Szczerbia" und "Brona", die von der sowjetischen Einheit Markow bedrängt wurden, ein lokales Bündnis.

Anfang Februar 1944 suchte Christiansen sogar das polnische Stabsquartier von "Wilk" auf, man verstand sich, die Atmosphäre war gut, die Stimmung ausgelassen. Am 19. Februar 1944 berichtete Christiansen, daß er von der Führung große Vollmachten für seine Verhandlungen erhalten habe. Der Abwehroffizier flog mit einem Flugzeug alle wichtigen Wehrmachtsstäbe an, instruierte die Generalität von dem Kurswechsel der deutsch-polnischen Beziehungen und trug in Berlin vor. Selbst die SS unterstützte das Vorhaben.

Aber "Wilk" stelle Forderungen: 1. Anerkennung Polens in den Grenzen von 1939; 2. Wiedergutmachung der Kriegsschäden von 1939; 3. Freilassung aller polnischer Gefangenen und Zwangsarbeiter, 4. Übergabe von Waffen für 30 000 Mann nebst Panzer und Artillerie an den Leiter des AK-Bezirks Wilna.

Am 10. Februar 1944 kam es zu einem Treffen von Christiansen und Krzyzanowski in einem Restaurant in Wilna. Christiansen war gut vorbereitet: sein V-Mann Borowski war mit der Neuaufstellung von AK-Einheiten befaßt, der Leiter des AK-Nachrichtendienstes Gisewicz operativ aus deutscher Haft "geflohen". Zudem war die AK bereits an den Stadtkommandanten von Lida mit dem Angebot der Zusammenarbeit herangetreten. Den Deutschen wurde der polnische Forderungskatalog übergeben. ()

 
     
     
 
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