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Deutschland Walser-Kontroverse

 
     
 
Daß das Ende der Ära Kohl mehr als einen bloßen Regierungswechsel markieren würde, konnte schon Jahre vor dem Ereignis risikolos vorhergesagt werden. Nun aber sollte dieser Tag ausgerechnet in eine Zeit fallen, die ohndies schon im Ban- ne grundlegender Umwälzungen steht. Erst eine solche Zusammenballung läßt das schon zu oft strapazierte Wort vom "historischen Umbruch" tatsächlich angemessen erscheinen.

Im kommenden Jahr verwandelt diese Republik endgültig ihr Gesicht. Bislang galt die Bundesrepublik als Hort wirtschaftlicher Stabilität und politischer "Bescheidenheit", manche meinten gar Selbstverleugnung oder Duckmäuserei beobachten zu können. Jetzt, so der Eindruck, geht beides auf einmal vorbei: Die D-Mark
, das Symbol bundesdeutscher Solidität, gilt ab dem 1. Januar 1999 nur noch nominell. Währungspolitisch leben wir ab jetzt im "Euroland". Die zu Recht mit großer Sorge verfolgten wirtschaftspolitischen Vorstellungen der neuen Regierung dürften der lange Zeit bewunderten ökonomischen Effizienz unseres Landes weiteren erheblichen Schaden zufügen. Auch dieses Merkmal der alten Republik droht auf diese Weise Berlin nicht mehr zu erreichen.

Auf der anderen Seite steht das, was sich bereits unter der Überschrift "Berliner Republik" als ein neues, selbstbewußteres Deutschland erkennen läßt. "Das Deutschland, das wir repräsentieren, wird unbefangen sein, in einem guten Sinne vielleicht deutscher sein", so der neue Bundeskanzler Schröder. Worte, für die jeder seiner Vorgänger noch öffentlich gesteinigt worden wäre – heute gehen sie übers Rednerpult wie eine Selbstverständlichkeit: "Unbefangen", ja sogar "deutscher"! Daß man im "besten Sinne" überhaupt "deutscher" sein kann, wäre nicht nur, aber gerade aus dem politischen Umfeld eines SPD-Regierungschefs als unerhörte Provokation abgeschmettert worden.

Wie tiefgreifend der hier absehbare geistige Umschwung geraten ist, davon zeugt die schon jetzt legendäre Rede Martin Walsers. Er hat sich gerade zwei Wochen nach der Bundestagswahl gegen den Mißbrauch der NS-Vergangenheit zum Zwecke der moralischen Erpressung der Deutschen gewandt. Dafür würdigten ihn über tausend anwesende Prominente unseres Landes mit stehendem Beifall. Das renommierte Institut für Rhetorik der Universität Tübingen verlieh seiner Ansprache gar den Titel "Rede des Jahres 1998". Was der noch immer fortgesetzten, hitzigen Auseinandersetzung indes die Krone aufsetzte, war, daß Ignatz Bubis unlängst seinen Vorwurf, Walser sei ein "geistiger Brandstifter", öffentlich zurückgenommen hat. So einsichtig reagierten jedoch längst nicht alle Walser-Kritiker: "... und er ist doch ein Brandstifter", titelte die linke Wochenzeitung "Die Woche" und schoß bei der Gelegenheit auch gleich noch gegen andere, weil man die Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an Martin Walser spontan begrüßt hatte. Offenbar sehen jene, die Walser mit seinem Vorwurf meinte, jetzt ihre Felle wegschwimmen. In der Tat, es war so einfach: Wollte man einem Deutschen den Boden unter den Füßen wegziehen, ihn zum moralischen Verbrecher stempeln, weil er seine eigene Meinung mit seinen eigenen Worten zu verteidigen wagte, schalt man ihn einen "Rechtsradikalen". Was Walser illustrierte, war der im Grundsatz totalitäre Charakter jener "Meinungssoldaten", die ihre Kritiker mit der "Moralkeule ... in den Meinungsdienst nötigen": Denn es genügt ihnen nicht, daß man einfach schweigt und ihre Auffassungen damit still hinnimmt. Sie wollen, sie fordern Übereinstimmung. Der Literat verwies auf Beispiele. Er hat sich in seinem Werk mehrfach mit dem NS-Regime und der Judenverfolgung befaßt. Nur tat er es nicht immer in der geforderten Form. Prompt hielt man dem Autor "Verharmlosung des Holocaust" vor.

Walser zog daraus die Schlußfolgerung, daß man die Deutschen noch heute wie auf Bewährung freigelassene Sträflinge behandele, die durch fortgesetzte eigene Beteuerungen erst beweisen müßten, daß sie keine Übeltäter sind.

Solche "Beteuerungen" aber verlangen nur totalitär gesinnte Menschen und Institutionen, welche die von ihnen in Schach gehaltenen Menschen stets unter Verdacht halten wollen.

Walsers Gegner beklagen nun, er habe "die Falschen" ermutigt, sprich "die Rechten". Zwischen "rechts" und "rechtsextrem" wird abermals ganz bewußt nicht unterschieden. Hier geht es auch um etwas ganz anderes. Nachdem es nicht gelingen wollte, Martin Walser selbst zum braunen Gesellen zu stempeln, soll wenigstens jeder, der ihm zustimmt, solchermaßen gebranntmarkt werden.

In diesem Sinne hielt Ignatz Bubis Walser vor, daß ihm ja auch die "Nationalzeitung" zugestimmt habe. Die Antwort des Litaraten brachte es auf den Punkt: "... wenn Sie mir das madig machen wollen, weil die Nationalzeitung damit Mißbrauch macht, dann schränken Sie einfach das Gewissen wieder ein auf das, was die Nationalzeitung nicht mißbrauchen kann."

Als er dies sagte, hatte der Schriftsteller wahrscheinlich noch gar keine Vorstellung davon, wie weit diese "Einschränkung des Gewissens" getrieben werden kann. Kurz vor Weihnachten verübten Unbekannte einen Anschlag auf das Grab von Bubis-Vorgänger Heinz Galinski. Die Tochter des verstorbenen Vorsitzenden des Zentralrats der Juden äußerte – offenbar in Anspielung auf Walser –, die "geistigen Brandstifter und Schreibtischtäter" trügen Verantwortung dafür, daß ein Klima entstanden sei, in dem eine solche Tat möglich werde. Ein derart ungeheuerlicher Versuch, Walser unausgesprochen in Zusammenhang zu bringen mit Grabschändern, könnte sprachlos machen. Er sollte es aber nicht. Denn hier tritt in unfaßbarer Weise nur das zutage, was der mutige Literat auszusprechen wagte.

Auch der Berliner Bischof Huber und der rechtspolitische Sprecher der Grünen, Volker Beck, weideten das schändliche Sprengstoffattentat auf das Grab Heinz Galinskis umgehend aus und stellten es in einen Zusammenhang mit der Walser-Debatte. Dabei wissen sie, daß ein ähnlicher Anschlag von wahrscheinlich denselben Tätern schon am 28. September verübt worden war, also lange, bevor Martin Walser seine Rede überhaupt gehalten hatte. Es blieb Ignatz Bubis vorbehalten, den abermaligen Instrumentalisieren die Stirn zu bieten. Er erkärte öffentlich, die Tat habe nichts mit der Walser-Rede zu tun. Eine Richtigstellung, die dem Vorsitzenden des Zentralrats der Juden hoch anzurechnen ist.

Die von Walser kritisierten Tugendwarte stehen allerdings vor einem Dilemma: Ihre Art, "Deutschland" auf Auschwitz zuzuspitzen, die ganze Identität unseres Volkes auf diesen düstersten Punkt seiner Geschichte zu fokussieren, muß schlußendlich darin gipfeln, daß gerade junge Deutsche mit ihrem Vaterland nichts mehr anfangen wollen. Wie will man aber "Deutschen", die sich gar nicht als solche empfinden, weil man sie ihrer eigenen Nation abspenstig gemacht hat, von ihrer besonderen nationalen Verantwortung predigen?

Andere reagieren entgegengesetzt. Auch sie meinen nach jah- re-, jahrzehntelanger Belehrung schließlich selbst, daß die gesamte deutsche Vergangenheit letztlich nur drei Teile kennt: Hitlerregime, Vorgeschichte und Nachspiel. Sie ziehen aber nicht den Schluß daraus, einfach alles abzustreifen. Sie haben den Wunsch, "wie alle anderen auf der Welt auch", ein positives Verhältnis zu ihrer Nation aufzubauen. Da nun aber dem ihnen vermittelten Bild zufolge alles und jedes in der deutschen Geschichte irgendwie auf, die Nazis hinausgelaufen ist, fangen sie fatalerweise an, sich die braune Soße schönzureden, die Verbrechen zu leugnen oder gar – die schrecklichste Variante – in ihnen anderes als nur Abscheulichkeit zu entdecken.

Kurz gesagt: Wer keinen zivilisierten Partiotismus zuläßt, löst entweder die nationale Verantwortungsgemeinschaft – mit allen Konsequenzen – auf, oder er bekommt einen unzivilisierten National-Chauvinismus.

Walser hat das Tor aufgestoßen für den offenen Dialog, der nur möglich ist, wenn die Dunstglocke aus ständig drohender Verleumdung weggezogen wird. Nur so kann sich ein Gespräch entfalten darüber, was wir unter unserer Nation heute verstehen. Denn weiß Gerhard Schröder eigentlich, was er unter "deutscher" versteht?

Man mag das kaum glauben, hat doch gerade die neue Regierung mit ihrem Projekt der massenhaften doppelten Staatsbürgerschaft gezeigt, daß sie den Weg von der Nation zur gestaltlosen Ansammlung auseinanderdriftender Kulturen und Identitäten zielstrebig weitergehen will. Daß zwischen der angestrebten Integration von Ausländern und einer Politik der multiethnischen Gesellschaft ein grundsätzlicher Widerspruch besteht, wird weggewischt. In was soll sich – wer auch immer – "integrieren", wenn der Wunsch nach nationaler oder kutureller Identität des ganzen Volkes als Deutschtümelei verunglimpft wird? Das Ziel Integrati- on einerseits und Umformung Deutschlands in einen offenen Raum für alles und jeden andererseits werden schwerlich zusammenpassen.

So strömen Menschen ins Land, die konsequenterweise auch gar nicht daran denken, sich zu "integrieren", denn das hieße ja, auf jede Art nationaler und kultureller Identität zu verzichten zugunsten einer Gesellschaft, die ihnen als Pendant zu ihrer angestammten Kultur bloß ein "Macht doch was ihr wollt" anbietet.

Der Fall Öcalan hat gezeigt, welche Gefahren hier lauern. Einer kleinen, militant-fundamentalistischen Gruppe von Ausländern konnte es da gelingen, den ganzen Rechtsstaat peinlichst vorzuführen. Und es trat kein "deutsches Volk" auf den Plan, das sich diese Aushöhlung, ja Verspottung seiner Staatskultur und Souveränität verbeten hätte. Indes: "Keine Demokratie ohne Demos", ohne Volk also. Ein Satz, den sich kluge Kritiker einer falsch verstandenen Europa-Idee auf die Fahnen schrieben.

Und man möchte ergänzen: Auch kein Rechtsstaat. Beide sind darauf angewiesen, daß sich das Volk als Nation begreift und bereit ist, sein Rechtssystem und seine Volksherrschaft zu verteidigen. Dazu bedarf es einer gemeinsamen nationalen und kulturellen Identität. Daß diese niemals in einen vorgebenen, freiheitsfeindlichen Einheitsbrei münden darf, versteht sich von selbst und ändert nichts an der Notwendigkeit eines gemeinsamen Fundamentes, das mehr sein muß als die kodierte Rechtsordnung.

Der weitgehende Verlust dieser nationalen Identität hat im Umgang mit der deutschen Geschichte ihren Ursprung, womit die umfassende Aktualität der Walser-Rede hervortritt. Solange sich die Selbstbetrachtung der Deutschen nahezu gänzlich in der "Dauerpräsentation unserer Schande" erschöpft, muß jede nationale Identität ersticken oder fehllaufen – wie oben beschrieben. Damit begeben wir uns aber nicht nur eines "guten Gefühls", von dem Walser auch gar nicht gesprochen hat. Wir gefährden auf Dauer so die Basis unseres Landes und Staates.

Ist das womöglich das Ziel derer, denen das Bild der Deutschen von sich selbst gar nicht fatal genug sein kann? Martin Walser ist anzurechnen, daß er die Methoden aufgedeckt hat. Jetzt geht es darum, die Ziele derer öffentlich zu analysieren und zu diskutieren, die mit soviel Aufwand tagtäglich daran arbeiten, die Deutschen an sich selbst verzweifeln zu lassen.

Hier gilt es, fair zu unterscheiden zwischen jenen, die bloß einer scheinbar schönen Illusion nachhängen und den wirklichen Defätisten. Die ersteren meinen tatsächlich, daß die Entfremdnung der Deutschen vom nationalen Bezug eine menschlichere Welt zur Folge hätte. Die Zeichen mehren sich indes, daß eine wachsende Zahl derart geprägter Wunschdenker beginnt, die Realität wahrzunehmen. Je mehr Sachlichkeit in die Debatte mit ihnen einziehen kann, desto stärker wird sich dieser Prozeß beleben.

Die tatsächlichen Defätisten allerdings werden alles versuchen, eine solche Versachlichung zu verhindern, und zwar mit den altbekannten Mitteln des instrumentellen "Antifaschismus": Bewußtes Mißverstehen, gnadenlose Diffamierung und haltlose, aber um so lautstärker vorgebrachte Beschuldigungen.

Trotz allem: Martin Walser hat in diesem Jahr 1998 beispielhaft vorgeführt, daß die Chance besteht, dem zu widerstehen.

 

 
     
     
 
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