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Die Erinnerung erwacht

 
     
 
Heimat ist, wo die Rechnungen ankommen", höhnte Heiner Müller in einem späten Gedicht über die bundesdeutsche Manie, sämtlich Lebensbereiche auf ökonomische, finanzielle und soziologische Parameter zu reduzieren Noch vor gar nicht so langer Zeit wurde diese eingeschränkte Wahrnehmung als fortschrittlich verkauft. Aus dieser Haltung heraus wurden Vertreibung und Heimatverlus als statistisch zu erfassende Ereignisse behandelt, die sich mit Lastenausgleich
un wirtschaftlicher Integration der Vertriebenen erledigt hätten. Wer Heimat als eine erste bewußt erfahrene Wirklichkeit definierte, in der man zunächst selbstverständlic aufgehoben ist, an die man sich auch fernerhin erinnert, der man seine Besorgtheit widme und deren Auslöschung daher als traumatisch erfahren wird, wer seinen Heimatbegriff in diesem Sinne festlegte, setzte sich automatisch dem Generalverdacht de Blut-und-Boden-Ideologie aus. Das Vokabular, das 1950 Eingang in die Charta der deutsche Heimatvertriebenen fand: "Den Menschen mit Zwang von seiner Heimat zu trenne bedeutet, ihn im Geiste töten", klang da wie eine Nachricht nicht bloß aus eine anderen Zeit, sondern von einem fremden Stern. Inzwischen ist klar, daß die kollektiv Erinnerung an die Vertreibung und an den Untergang der deutschen Ostprovinzen keinesweg mit dem Abtritt der Erlebnisgeneration verschwinden wird. Aus der Traumaforschung is bekannt, daß seelische Erschütterungen, die von den Betroffenen selbst nich aufgearbeitet worden sind, an nachfolgende Generationen weitergegeben werden und in dere Bewußtsein weiterarbeiten. Inzwischen bahnt sich in der deutschen Wissenschaft – beispielhaft wurde hier kürzlich der an der Frankfurter "Viadrina" lehrend Osteuropahistoriker Karl Schlögel gewürdigt – eine neue Sichtweise an.

Die beiden Bücher des 1952 geborenen Schriftstellers Hans-Ulrich Treichel, die 1998 in Suhrkamp Verlag erschienen sind, haben diese Kehrtwende vorweggenommen und in gewisse Weise auch begründet. Treichel ist selber ein Nachkomme von Heimatvertriebenen. Vor übe einem Jahr erschien seine Novelle "Der Verlorene", eine meisterhafte Prosa übe die deutsche Nachkriegs- und Wirtschaftswunderzeit, in der die Vertreibung der Eltern au Ostdeutschland als Vergangenheit, die nicht vergehen will, ständig präsent ist. Nach de Erfolg dieses Titels hat Suhrkamp die Textsammlung "Von Leib und Seele" herausgebracht, für die Treichel 1993 den Förderpreis zum Bremer Literaturpreis erhielt Zuvor war der Autor, der in Versmold in Ostwestfalen geboren wurde, mit einige Gedichtbänden hervorgetreten, seit 1995 ist er Professor am Deutschen Literaturinstitu in Leipzig.

Die acht Texte der Sammlung sind autobiographisch angelegt. Der sakrale Titel "Vo Leib und Seele" signalisiert, daß es hier um Dinge geht, die den Autor existentiel berühren. Der erste Text handelt von den Kindheitsjahren in der ostwestfälische Geburtsstadt, "einer trübsinnigen Ansammlung von Zweifamilienhäusern un Umgehungsstraßen". In der elterlichen Wohnküche hängt eine Fotografie vo Preußisch Holland, während den Neuankömmlingen, den "Menschen aus dem Osten" draußen Mißgunst, Mißtrauen, Ablehnung entgegenschlagen. Der Wohlstand, zu dem einig Neuankömmlinge gelangen, steht ihnen in den Augen der Einheimischen nicht zu: "Den wer aus dem Osten kam, der war in den Augen der Alteingesessenen ein minderwertiger un von seinem Grund und Boden wahrscheinlich völlig zu Recht vertriebener Mensch, und s fühlte auch ich mich in meinem Geburtsort zumeist als ein minderwertiger und aus eine mir zudem völlig unbekannten Heimat wohl zu Recht vertriebener Mensch (...)." Dies Spannungen vergiften auch die familiären Beziehungen, vor allem das Verhältnis de Erzählers zu seinen Brüdern, sie unterminieren sein Selbstwertgefühl und die Fähigkeit, seine Außenwelt einzuschätzen und mit ihr zurechtzukommen. In den Texte gibt es eine Reihe von Szenen, in denen die aus einer traumatischen Kindheit herrührende bestürzende Hilflosigkeit und Verlorenheit zutage tritt, die den Erzähler als eine in bürgerlichen Sinne "gescheiterte Existenz" erscheinen läßt.

In der Novelle "Der Verlorene" werden diese Motive vertieft. Es handelt sic um die Ich-Erzählung eines Anfang der 50er Jahre Geborenen, der gleichfalls in Ostwestfalen aufwächst. Die Eltern sind Bauern aus Ostdeutschland, ihr Treck wurde am 20 Januar 1945 in einem Dorf westlich von Königsberg von den Russen überrollt, die Mutte von den Russen vergewaltigt. Im Chaos ging der einjährige Sohn Arnold verloren, den die Mutter einer fremden Frau in den Arm drückte. Den Handlungsfaden bildet die langwierige quälende Suche der Eltern nach dem verlorenen Sohn. Der Verlust Arnolds steht Pars pr toto für einen umfassenden, elementaren Verlust, gleich zu Beginn der Erzählung heiß es: "Zuhaus, das war der Osten, und der Bruder war im Osten geboren worden. Währen die Mutter das Wort ,Zuhaus‘ aussprach, begann sie zu weinen, so wie sie oft zu weinen begann, wenn vom Bruder die Rede war."

Beim Betrachten des Fotoalbums macht der Erzähler eine seltsame Entdeckung: Arnold der noch in Ostdeutschland fotografiert wurde, ist als vollständiger kleiner Mensc abgebildet, während von ihm selber, dem im Westen geborenen Nachkriegskind, stets nu Körper- oder Gesichtsfragmente zu erkennen sind. Die Rekonstruktion der Biographie anhan der Fotografie mißlingt, die durch Krieg und Vertreibung verursachten Brüche sind s massiv, daß das Leben der Familie nur noch ein fragmentarisches ist, das sich nicht meh in der kleinbürgerlichen Ikonografie des Fotos erfassen läßt. Der Verlust Arnold findet seine Entsprechung im Ich-Verlust des Erzählers, den die Eltern zu eine "Arnold-Ersatz" machen wollen.

Die Eltern bringen es nicht über sich, ihr neues Haus für längere Zei unbeaufsichtigt zu lassen. Nur am Wochenende brechen sie, gleichsam einem Pflichtetho gehorchend, zu kurzen Ausflügen auf. Es sind unfrohe Unternehmungen, die dem Jungen zu Qual werden; rückblickend erkennt er, "von Anfang an in einer von Schuld und Scha vergifteten Atmosphäre aufgewachsen" zu sein. Die Eltern versuchen, ein Lebensnormalität in Ritualen wie dem jährlichen Schlachtfest aufrechtzuerhalten, das si gemeinsam mit anderen Ostdeutschland begehen. Diese Feste sollen auch die in der Bibe geschilderte Freudenfeier, zu der der Vater nach der Heimkehr seines verlorenen Sohne einlädt, vorwegnehmen. Da die Heimkehr aber nicht stattfindet, enden sie im enttäuschte Schweigen.

Die Eltern kommen als Fleischgroßhändler zu Wohlstand, der sich augenfällig in imme größeren Autos äußert. Die Ausdünstungen der Kunstlederbezüge lösen bei dem Junge regelmäßig Brechreiz aus, der Surrogatcharakter wird körperlich greifbar. Das Haus in Ostwestfalen, das für ihn bereits eine mythische Kindheitshöhle ist, fällt dem Arbeits und Modernisierungswahn zum Opfer, es wird entkernt, dem Zeitgeschmack angepaßt, dami erinnerungslos und beliebig. Der Vater weiß um seinen Selbstbetrug. "Konkurren belebt das Geschäft", diese aufmunternde Banalität gerinnt ihm in Stunden de Wahrheit zur bitteren Formel: "Das Leben ist ein Kampf."

Treichel beschreibt eine tragische Familiengeschichte aus den 50er Jahren als Realgroteske. Mit fortlaufender Lektüre bemerkt der Leser, wie Treichels präzis Sprache, die die Gegenstände spiralförmig umkreist, ironisch funkelt, sarkastisch wir und Gleichnischarakter annimmt. Die Suche nach Arnold wird unterdessen immer skurriler Die Eltern glauben zu wissen, daß eine vom Suchdienst als "Findelkind 2307" ausgewiesene Waise mit Arnold identisch ist. Der Erzähler wird zum Objekt fü vergleichende Schädelmessungen, für Bauchlinien- un Stirnhöckeruntersuchungen  und Wahrscheinlichkeitsrechnungen. Gnadenlos Wissenschaftlichkeit soll den Identitätsbeweis erzwingen und den Verlust aufheben. Da vervollständigt die Irritationen des Erzählers über seine Identität. Hatte er Arnol zunächst als eine Art heroisches Opfer empfunden, das ihn aus der Gewöhnlichkei heraushob, wird ihm der nunmehr "untote Bruder" zum Vampir, der ihm das eigen Ich raubt. Als er und das "Findelkind 2307" sich am Schluß der Erzählung kur begegnen, begreifen sie sich als Doppelgänger, die sich ihre Verlorenheit gegenseiti bestätigen.

"Der Verlorene" ist eine subtile Mentalitätsgeschichte der Bundesrepublik Treichel hat mit einer seltenen Genauigkeit gezeigt, wie die Folgen der Vertreibung de Bundesrepublik einen nachhaltigen Stempel aufdrückten. Auch gibt es nur wenig literarische Texte, in denen der Elterngeneration soviel einfühlendes Verständnis zutei geworden ist wie hier. Was heute leichthin als Verdrängungsmentalität und Bigotterie de Adenauer-Ära verurteilt wird, liest sich bei Treichel als eine tragische und vielleich alternativlose Überlebensstrategie. Eine Überlebensstrategie, die andererseits de Aufstand der Söhne gegen die Eltern evozierte: "Ich wurde das, was man eine schwierigen Jungen nennt, undankbar, widerborstig und ständig gereizt, der der Mutte besonders dann zusetzte, wenn es ihr schlecht ging." Die Revolte von 1968 lieg außerhalb des Zeitrahmens dieses Buches, aber sie ist in nahezu jeder Zeile gegenwärti – und ihre Aufhebung im Hegelschen Sinne ebenfalls. Hans-Ulrich Treichel ist mi dieser Novelle zu einem der wichtigsten deutschsprachigen Autoren des Jahrzehnts geworden.

Hans-Ulrich Treichel: "Der Verlorene", Erzählung, 176 S., 32 DM; "Vo Leib und Seele", Berichte, 86 S., Tb., 10,80 DM, beide Suhrkamp Verlag Frankfurt a. M. 1998
 
     
     
 
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