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Flutkatastrophe: Einer für alle alle für einen

 
     
 
Langsam kehrt wieder Alltag in das Katastrophengebiet an der Elbe ein. Das Wasser ist abgeflossen, und die direkte Gefahr ist vorbei. Doch mit dem Rückgang des Wassers offenbaren sich auch die Schäden. Tausende von Menschen finden ihr Zuhause nicht mehr so vor, wie es noch vor wenigen Wochen war. Doch bei allen materiellen Verlusten hat sich in dieser Ausnahmesituation gezeigt, daß "Zusammenhalt" für die Menschen in Deutschland kein Fremdwort
ist. Jan Heitmann, Fregattenkapitän der Reserve und Kommandeur eines Marineinfanteriebataillons, ist seit der Gründung der Katastrophenschutzkompanie Hamburg als Zugführer aktiv. Auch er gehörte zu den Tausenden von Helfern, die gegen die Naturgewalt ankämpften. Sein Hochwassertagebuch stellt er hier exklusiv für die Leser des es / zur Verfügung.

 

Sand. Überall Sand. Wir sind in einer Kiesgrube bei Dersenow, einem kleinen Ort an der B 5 im Kreis Ludwigslust. Wenige Kilometer entfernt fließt die Elbe, die ihr Bett bereits verlassen hat und bedrohlich an den Deichen leckt. Unser Auftrag: Sandsäcke füllen. Die Bundeswehr befindet sich mit 30.000 Soldaten im größten Katastropheneinsatz ihrer Geschichte. Und wir sind ein Teil davon.

Wir, das ist die Katastrophenschutzkompanie Hamburg. Fast 80 Mann, alles Reservisten. Die Kompanie ist militärisch in drei Züge zu je drei Gruppen gegliedert. Alle Dienstposten sind hauptsächlich nach Ausbildung und Eignung besetzt, der Dienstgrad spielt nur eine untergeordnete Rolle. Ich bin Führer des II. Zuges. Seit sieben Jahren üben wir uns in der Deichverteidigung. Nun endlich ist es soweit, wir gehen in unseren ersten "scharfen" Einsatz.

Es ist Montag, der 19. August. In aller Herrgottsfrühe klingelt das Telefon. Ein Panzerbataillon benötigt dringend personelle Un-terstützung. Meldekopf: Schul- und Sportzentrum Boizenburg. Ich alarmiere meine Gruppenführer, die wiederum klingeln ihre Soldaten aus dem Bett. Kein Grund zur Eile für mich. Bis die Gruppenführer alle Männer erreicht haben, wird es noch eine Weile dauern. Mein Marschgepäck steht schon seit Tagen griffbereit. Da die Bundeswehr keine Fahrzeuge für uns hat, wird Einzelmarsch mit Privatwagen befohlen. Ich regele noch einige berufliche Dinge, verabschiede mich von meiner Familie und mache mich von Hamburg aus auf den Weg. Ich nehme die B 5. Immer geradeaus. Kurz vor Geest-hacht mehren sich die Rettungsfahrzeuge. Feuerwehr, THW, Rotes Kreuz. Scheinbar planlos kommen sie aus allen Richtungen und fahren in alle Richtungen. In Höhe des Atomkraftwerkes und des Kernforschungszentrums starker Militärverkehr. Dann in Lauenburg bricht der Verkehr zusammen. Eine Kolonne des THW quält sich langsam mit Blaulicht und Sirene an der wartenden Autoschlange vorbei nach Osten. Ich folge. Ein merkwürdiges Gefühl kommt auf. Man spürt förmlich eine unbestimmte Bedrohung. Am Ortsausgang, etwa in Höhe des ehemaligen Grenzüberganges, wird die Straße gesperrt. Kieslaster um Kieslaster biegt ein und fährt nach Osten. Auch der Gegenverkehr hält. Neben mir ein Linienbus, voll mit Feuerwehrmännern. Der Fahrer öffnet das Fenster. "Na, auch im Einsatz?". "Wenn ich je ankomme ..." antworte ich resigniert. Ich steige aus dem Auto. Ein Polizist erkennt meine Uniform und winkt mich durch. Endlich freie Fahrt. Vor und hinter mir Militär- und Rettungsfahrzeuge. Am Straßenrand stehen taktische Zeichen, die den Weg zu Gefechtsständen und Einsatzorten weisen. Dann der Wegweiser zur Operationszentrale (OPZ) in Boizenburg. Ich muß links von der Bundesstraße ab. Polizeikontrolle. "Weiterfahrt nur für Berechtigte": Ich bin berechtigt. Nach einigen hundert Metern kommt das Sportzentrum.

So einen Anblick kenne ich nur noch von den großen freilaufenden Herbstmanövern, die es früher gab, als "der Feind" noch im Osten stand. Um das Sportzentrum, das sich den diskreten Charme des Sozialismus bewahrt hat, wimmelt es von Soldaten und Fahrzeugen. Zwischen den Gebäuden sind Tarnnetze und Planen gespannt, darunter Feldküchen, Meldeköpfe und Sanitätszelte. Hinter der Schule ragen Funkmasten in die Höhe. Schnell finde ich in dem Gewühl meinen Haufen. Nach und nach trudeln die Kameraden ein. Schließlich sind wir 42 Mann. Mehr als die Hälfte der Kompanie also. Kein schlechter Schnitt, schließlich haben wir alle unser Berufsleben. Ich nutze die Zeit und sehe mich um. Hier sind die OPZ und mehrere untergeordnete Gefechtsstände untergebracht. Die Bundeswehr ist federführend bei diesem gewaltigen Katastropheneinsatz. Eine Lehre von 1962. Alle anderen Hilfsorganisationen ordnen sich ihr unter. Unsere Kompanie wird der Panzerbrigade 18 "Holstein" aus Neumünster unterstellt.

In der riesigen Sporthalle ruhen viele Soldaten. Sie haben die Nacht über durchgearbeitet. Die Heereskameraden sehen mich neugierig bis argwöhnisch an. Sie können mit meinen Dienstgrad-abzeichen nichts anfangen. Und Gold auf der Schulter sorgt beim Heer immer für Unruhe (Generalsalarm!). Wohl kaum einer ahnt, daß ich den Rang ihres Bataillonskommandeurs habe. Zu diesem Zeitpunkt bin ich wohl der dienstgradhöchste Marinesoldat in dem gesamten Katastropheneinsatz.

Wir erhalten unseren Auftrag: Marsch nach Dersenow zur Sandsackfüllstelle. Alles Weitere dort. Wir fahren in Zivilkolonne zum Einsatzort. Dort machen wir in einem Feuerwehrhaus Quartier. In der Fahrzeughalle eine Kompanie Panzerleute, im Aufenthaltsraum wir. Dann geht es im Fußmarsch etwa zwei Kilometer durch den Wald. Als wir aus dem Wald heraustreten, reiben wir uns die Augen. Wir stehen am Rand einer riesigen Kiesgrube. Unter uns herrscht ein Gewimmel wie in einem Ameisenhaufen. Kieslaster, Lkw, Gabelstapler und Bagger fahren scheinbar wirr durcheinander. Dazwischen Uniformen jeder Couleur. Bundeswehr, Feuerwehr, THW, Rotes Kreuz und auch viele Zivilisten. Alle schaufeln Sand. Wir melden uns beim "Grubenchef". Er möchte uns in seine Kompanie einbinden, aber wir pochen auf unsere Selbständigkeit. Arbeit im Schichtsystem und nach der Stechuhr liegt uns nicht. Wir besetzen zwei Sandfüllstationen. Findige Kameraden schneiden von Absperrhütchen die Spitzen ab, schon haben wir prima Einfülltrichter. In der Kiesgrube stehen zwei Förderbänder herum. Damit müßte es noch besser gehen. Also werden die Dinger in Gang gesetzt. Die Arbeit ist aber trotz der technischen Unterstützung noch immer schweißtreibend genug. Das Thermometer zeigt über 30 °C. Sack vom Stapel nehmen, Rand umschlagen, Sack unter das Förderband halten, Sack zur Hälfte mit Sand füllen, Rest umschlagen und Sack sauber auf die Palette legen. Das machen wir im Akkord. Pause machen wir nur, wenn ein Bagger herangeholt werden muß, um neuen Sand in den Behälter des Förderbandes zu laden. So füllen wir Sack um Sack. Hunderte. Tausende.

Nach einigen Stunden fährt ein Feuerwehrfahrzeug in die Kiesgrube. Es kommt von weit her. An Bord hat es große Küchenthermen mit Würstchen. Auch wenn wir keinen Hunger haben, greifen wir zu. Eine alte Landserregel: essen, wenn es etwas gibt, man weiß nie, wann das Verpflegungsfahrzeug wiederkommt.

Am Rand der Kiesgrube haben sich die Sanitäter eingerichtet. Sie sind todmüde. Seit 20 Stunden ohne Pause im Einsatz. Wir verkneifen uns die Sprüche, die Soldaten üblicherweise über die Sanität machen. Denn die Kame- raden leisten gute Arbeit. Sonnenbrand, Quetschungen, Prellungen, Kopfschmerzen, Sonnenstich. Sie behandeln jeden, der zu ihnen kommt. Ich schicke ihnen unseren Sanitäter zur Unterstützung. Jetzt kann sich wenigstens einer von ihnen für ein paar Stunden hinhauen.

Am Abend wird es Zeit für eine Erkundung. Zu dritt fahren wir los. Boizenburg ist ausgestorben. Kaum jemand auf der Straße. "Wie im Krieg", meint ein junges Mädchen, das wir zum Bahnhof mitnehmen. An mehreren Stellen stehen Polizisten. Ihr Auftrag: "Eigentumssicherung". Also die Verhinderung von Plünderung und Diebstahl. Im ganzen Kreis sind fast 800 Beamte im Einsatz. Furchtbarer Job. Stunden- und tagelang bewegungslos in der Sonne stehen. Dann schon lieber Sand schaufeln.

Je näher wir dem Wasser kommen, um so mehr sind die Häuser gegen Hochwasser gesichert. Was die Bewohner so sichern nennen. Wir schütteln den Kopf. Nur wenige Häuser würden überhaupt einem leichten Hochwasser wi-derstehen können. Schon bei stärkerem Hochwasser wären alle Gebäude verloren. Manche Hausbesitzer haben ein paar Sandsäcke vor Türen und Kellerfenster gelegt und fühlen sich jetzt sicher. Wieder andere haben Folie mit Klebestreifen an den Mauern befestigt. Wer hat den Leuten bloß zu solch sinnlosen Maßnahmen geraten?

Wir fahren zu der ehemaligen Werft. Von ihr ist nur noch eine Industriebrache geblieben. Daneben schütten Bagger mit Sand einen behelfsmäßigen Deich auf. Darauf wird eine Folie gelegt. Hunderte zumeist jugendliche Helfer verstärken das Ganze mit Sand- säcken. Wir sind skeptisch. "Wer glaubt, daß das hält, hat noch nie als Kind in den Sand gepinkelt", entfährt es unserem Fahrer. Wir sehen das auch so, halten uns aber mit Kommentaren und Ratschlägen zurück. Direkt an der "Baustelle" steht eine Kneipe. Die Wirtin verteilt alles, was sie hat, an die Helfer. Ihr Laden würde als erstes absaufen, und dann sind die Bestände sowieso futsch. Wir sind beeindruckt, wie sehr die Leute ranklotzen. Die vielgeschmähte Jugend. Sie kann, wenn sie nur will und gefordert wird. Hoffentlich ist ihre Arbeit nicht umsonst.

Das öffentliche Leben ist durch die Evakuierungen vollständig zum Erliegen gekommen. Schulen und Ämter sind geschlossen. Der Personennahverkehr ist eingestellt. Auch die Wirtschaft in der Region macht Pause. Viele Firmen haben ihre Belegschaft komplett zur Hilfeleistung abgestellt. Kaum eine Baufirma oder Spedition, die ihre Fahrzeuge nicht zum Sandsacktransport zur Verfügung gestellt hat. Selbst Lieferwagen und Klempnerautos fahren Sandsäcke durch die Gegend.

Wir kehren in die Kiesgrube zurück. Die Sonne geht unter. Jetzt wird es angenehm kühl. Mittlerweile sind die anderen Organisationen und die Zivilisten abgerückt. Die Panzerkompanie hat nur noch eine Gruppe im Schichtbetrieb draußen. Wir legen im Scheinwerferlicht noch einen Schlag zu. Das Brummen der Stromaggregate erfüllt die Luft. Es soll uns die nächsten Tage begleiten. Erst weit nach Mitternacht legen wir die Schaufeln aus der Hand. Die Mannschaften hauen sich im Feuerwehrhaus in ihre Schlafsäcke.

Die Kompanieführung bleibt erst einmal wach. Wir fahren noch einmal nach Boizenburg zur Erkundung. Es ist stockdunkel. In der Stadt brennt kaum Licht, die Straßen sind menschenleer. Es ist fast schon unheimlich. Die Polizisten dösen in ihren Fahrzeugen. In einem Vorgarten sehen wir einen alten Mann. Nicht alle Bewohner haben also dem Evakuierungsbefehl Folge geleistet. Wir fragen ihn nach einer Tankstelle. "Weiß nicht, fragen Sie mal die VP!" "Wen?" "Die Volkspolizei." "Ach so, danke." Der Mann hat wohl das Jahr 1989 verschlafen.

Wir sind wieder an der Kiesgrube. Im Feuerwehrhaus die Merkmale einer jeden militärischen Massenunterkunft: Gestank, Schweiß und Geräusche aller Art. Als waschechter Infanterist beschließe ich, lieber im Freien zu schlafen. Und über mir die Sterne ... Ein Fehler, denn ich werde sofort von Mückenschwärmen heimgesucht. Kaum habe ich endlich Schlaf gefunden, dröhnt neben mir ein Lkw. Ein Feldwebel kommt zu mir. "Wir stellen euch ein paar Paletten Mineralwasser hin". "Danke!" Ich könnte den Kerl umbringen. Jetzt bin ich hellwach. Ich wandere herum und "genieße" den Sonnenaufgang. Das war eine grauenvolle Nacht. Ich beschließe, fortan in meinem Auto zu schlafen.

Nach einem feldmäßigen Frühstück legen wir wieder los, füllen Sandsack um Sandsack. Die Sonne brennt erbarmungslos. Die Uniformvorschriften werden sehr großzügig ausgelegt. Wir arbeiten im Unterhemd, manche mit hochgekrempelten Hosenbeinen, auf dem Kopf die Feldmütze, ab und an auch das olive Dreieckstuch als Sonnenschutz. Auch die militärischen Formen lassen nach. Wir gehen zum allgemeinen "du" über, egal ob Soldat, Feuerwehrmann, Polizist oder ziviler Helfer. Alle packen mit an. Der Deich muß halten! Die Kraftfahrer sind am Rande der Totalerschöpfung. Sie sitzen seit vielen Stunden ohne Pause hinter dem Lenkrad. Jetzt müssen sie fast mit Gewalt vom Bock gezerrt werden. Aber die Räder müssen rollen. Fahrer müssen her. "Wer einen Bundeswehrführerschein hat, hebt die Hand." Einige Hände gehen in die Höhe, aber die Führerscheine der Reservisten sind nicht "am Mann". Sie liegen in den Personalakten. Interessiert hier niemanden. "Aufsitzen!" Die Räder rollen wieder.

Wir bekommen Verstärkung. Mehrere Busse rollen in die Kiesgrube und spucken Zivilisten aus. Männer, Frauen, Jugendliche, Alte. Sie kommen aus der Umgebung, aber auch von weiter her. Sie haben sich irgendwo ins Auto oder in die Bahn gesetzt und wollen helfen. In Boizenburg gibt es jetzt einen Pendelverkehr zum Bahnhof, damit freiwillige zivile Helfer trotz der Straßensperren an die Einsatzorte gelangen. Ohne zu zögern, packen sie mit an. Jetzt können wir wenigstens ab und zu eine Pause machen.

Später Abend. Unsere Kompanie wird abgelöst. Sie soll ruhen, denn unser nächster Auftrag führt uns auf den Deich. In der OPZ werden wir eingewiesen. Kurze telefonische Rücksprache mit dem Führer vor Ort. Trotz modernster militärischer Fernmeldegeräte kommt die Verbindung erst übers Mobiltelefon zustande. Eine Erfahrung, die die Bundeswehr schon 1997 an der Oder gemacht hat. Das Handy ist in einer Friedenslage das beste Kommunikationsmittel.

Wir hören Nachrichten. Sie widersprechen sich. Mal heißt es, die Flutwelle werde schon am nächsten Tag kommen, dann wieder, die Lage werde erst in drei Tagen kritisch werden. Der Krisenstab des Kreises meldet, das Hochwasser werde bald hier sein. Vermutlich werde es aber unter der Deichkrone bleiben. Also doch Entwarnung? Die Evakuierungen werden jedenfalls fortgesetzt.

Nach einer kurzen und unruhigen Nacht melden wir uns auf dem Boizenburger Elbdeich. Das Wasser hat das gesamte Deichvorland überflutet, von den Bäumen ragen nur noch die Kronen heraus. Die Artilleristen haben hier in der Nacht mächtig geschuftet. Die Deichkrone ist komplett mit Sandsäcken belegt. Für uns gibt es nichts mehr zu tun. Wir warten auf einen neuen Auftrag. Derweil kommt das Verpflegungsfahrzeug. Zeit für ein gutes Frühstück im Sonnenaufgang. Ein alter Freund, Hauptbootsmann in meinem Bataillon, holt einen Campingtisch aus seinem Wagen. Wir setzen uns auf den Sandsackwall und zelebrieren unter den ungläubigen Augen der Heereskameraden ein marinemäßig stilvolles Frühstück.

Der Kommandeur des Artilleriebataillons fährt vor. Er schickt uns zur Boizenburger Festwiese. Alle Sandsäcke aus dem Raum Boizenburg werden hier zentral zwischengelagert und auf Anforderung zu den Deichen transportiert. Palette reiht sich hier an Palette. Ein einziges Kommen und Gehen von Transportfahrzeugen. Dazwischen sausen die Gabelstapler herum. "Sandsack City" hat das THW den Ort getauft. Hier erhalten wir einen neuen Auftrag: "Marschieren Sie nach Horst hart ostwärts Lauenburg. Dort erhöhen Sie die Deichkrone." Wir fahren wieder in Zivilkolonne. Sonderrechte haben wir keine. Also Warn- blinkanlage an und los. Fast 30 Pkw. Die Polizei an den Kreuzungen guckt erst ungläubig, erkennt dann aber, daß wir wohl dienstlich unterwegs sind und winkt uns kopfschüttelnd durch.

Schnell sind wir in Horst. Über dem Einsatzort wabert eine dichte Staubwolke, aufgewirbelt von unzähligen Lkw, Raupenfahrzeugen und Gabelstaplern. Hier arbeiten bereits Panzergrenadiere, Flugabwehrsoldaten und das THW. Das Deichvorland ist hoch überflutet. Von den Bäumen ist nicht mehr viel zu sehen. Alles andere ist ganz verschwunden. Die Elbe rauscht mit hoher Geschwindigkeit an uns vorbei. Wer hier vom Deich ins Wasser rutscht, ist so gut wie verloren.

Unsere Aufgabe scheint fast unlösbar. Auf knapp 2.000 Meter muß die Deichkrone um einen halben Meter erhöht werden. Niemand weiß, wie schnell das Hochwasser hier sein wird. Es geht um Stunden. Wir übernehmen die Spitze. Schuften Sandsack um Sandsack auf den Deich. In Doppelreihen stehen wir den Deich hinauf, jeweils zwei Mann auf Lücke gegenüber. Die Sandsäcke werden im Zickzack nach oben gereicht. Ich weise die Fahrzeuge ein, die in langer Kolonne an den Deich fahren. In unserem Deichabschnitt gibt es nur einen einzigen Gabelstapler. Der Mann fährt und fährt ohne Pause. Ich sehe ihn an diesem Tag nicht ein einziges Mal von seinem Fahrzeug steigen. Der Deich muß halten!

Die Sonne brennt erbarmungslos, das Thermometer zeigt fast 40 °C. Schatten gibt es hier nicht. Selbst in den kurzen Pausen liegen wir ungeschützt in der Sonnenglut. Haben wir am Vormittag noch kräftig angepackt, läßt unser Tempo langsam nach. Auch der Abstand zwischen den Pausen wird kürzer. Kein Wunder bei der Hitze. Ein Telefon klingelt. Der Sohn eines Kameraden ist dran. Papa ist kurz angebunden. "Oh, Sch..., mein Sohn hat heute Geburtstag. Hab ich ganz vergessen." Wir unterbrechen unsere Arbeit und singen dem Jungen ein vielkehliges "Happy Birthday".

Ich gehe mehrere hundert Meter den Deich entlang zu unserem Ausgangspunkt zurück. Das Wasser ist in den letzten Stunden schnell gestiegen. Es steht noch deutlich unter der Deichkrone, aber am Deichfuß bildet sich ein See, der merklich größer wird. Seit Tagen drückt das Wasser mit einer Kraft von drei Tonnen pro Quadratmeter gegen den Deich. Der ist langsam durchweicht. Wenn der Deich erst einmal in Bewegung kommt, gibt es keine Rettung mehr. Das THW breitet fieberhaft Planen am Deichfuß aus und legt Sandsäcke darauf.

Auf dem Rückweg sehe ich einen unserer Leute abseits an einem Weidezaun sitzen. Ein Riesenkerl, der auf dem Deich für zwei schafft. Jetzt sitzt er hier ganz allein und heult wie ein Schloßhund. Ich gehe hin. "Na, alles klar, Kamerad?" "Geht gleich wieder. Ist alles so unglaublich." Ich weiß, was er meint. Im Radio sprechen die Politiker von einer nationalen Ka- tatastrophe. Von überall her kommen Menschen, um selbst zu helfen oder die Helfer materiell zu unterstützen. Jeder tut etwas. Der Deich muß halten! Ein gigantisches Rettungswerk ist in vollem Gang. Und wir, wir sind ein Teil davon. Es ist wirklich überwältigend.

Ich bin wieder bei meinen Leuten. Ein Sanitätstrupp der Marine aus Warnemünde stellt sich am Deichfuß auf. Im Schatten des Fahrzeuges erholen sich einige Helfer, denen die Hitze besonders zusetzt. Die Sanitäter gehen regelmäßig den Deich entlang und achten auf Symptome von Sonnenbrand und Sonnenstich. Den einen oder anderen zwingen sie mit sanftem Druck zu einer Pause. "Ihr müßt mindestens sieben Liter Wasser am Tag trinken", ermahnen sie uns und verteilen Elektrolytpulver. Leider hat uns niemand gesagt, daß sich das Zeug nicht mit Kohlensäure verträgt. Wenn sich der brodelnde Vulkan aus der Flasche gelegt hat, ist sie nur noch halb voll. Macht aber nichts, denn Mineralwasser gibt es am Deich genug. Ein riesiger Lastzug eines bekannten Getränkeunternehmens hat palettenweise Flaschen für uns ab- geladen. Ohne diese Getränkespende würden wir vor die Hunde gehen. In so einer Lage will eben jeder seinen Beitrag leisten. Es heißt, sogar bei McDonalds würden Helfer kostenlos verpflegt werden. Ein Bäcker kommt mit seinem Verkaufswagen an unseren Deich gefahren, mit dem er sonst über die Dörfer zuckelt. Er öffnet die Klappe und verteilt alles, was er hat. Brötchen, Kuchen, Kekse. Nach wenigen Minuten ist nichts mehr da. "Danke!" "Wofür? Ist doch selbstverständlich!" Ansonsten füttert die Bundeswehr mittlerweile alle Helfer auf dem Deich durch, egal, woher sie kommen.

Plötzlich erfüllt ein ohrenbetäubender Lärm die Luft. Im Tiefflug donnern zwei Tornados über uns hinweg. Sie machen Infrarotfotos, auf denen die Auswerter undichte Stellen am Deich erkennen können. Die Maschinen ziehen hoch und sind unseren Blicken entschwunden. Sekunden später sind sie wieder da. Sie drosseln das Tempo und wackeln mit den Tragflächen. Wir sind begeistert über diesen Gruß und winken zurück.

Zusammen mit dem Kompaniechef nehme ich Kontakt zu unserem rechten Nachbarn, einer Panzergrenadierkompanie, auf. Dabei überschreiten wir die Landesgrenze nach Schleswig-Holstein. Hier ist der Anschlußpunkt, bis zu dem wir unsere Sandsäcke legen sollen. Noch ist unsere Spitze etwa 1.000 Meter davon entfernt. Früher war hier der Todesstreifen. Nichts mehr davon zu sehen. Und doch überschreiten wir eine Grenze. Auf dieser Seite herrschen andere Zuständigkeiten. Ein unüberwindliches Hindernis, wie wir noch merken sollen.

Ein THW-Mann weist uns in die Lage ein. Die Sicherung der Deichkrone ist hier abgeschlossen. Jetzt wird nur noch mit Raupen Granulat am Deichfuß verteilt. Der Deich ist alt und in Jahrzehnten immer wieder verstärkt worden. Leider hat man dafür Sand und Mutterboden verwendet. Durch den Kapillareffekt dringt unten jetzt das Wasser hindurch. Auf "unserer" Seite, in der ehemaligen DDR, ist die Deichsubstanz wesentlich besser. Hier hat man Lehm genommen.

Wir besprechen uns mit dem Panzergrenadierhauptmann. Er mosert, weil seit einigen Minuten Fahrzeuge von unserer Seite ein kurzes Stück durch seinen Einsatzstreifen fahren. Wir halten ein Fahrzeug an und fragen nach dem Grund. Der Chef der Deichwehr hat Einbahnverkehr angeordnet, um den Deichverteidigungsweg zu schonen. "Das darf der nicht. Das ist ein anders Bundesland und eine andere Brigade", schimpft der junge Offizier. Wir fassen es nicht. Seit Tagen haben wir keine Kompetenzstreitigkeiten, keine Vorschriftengläubigkeit, keine Bürokratie erlebt. Entschlüsse wurden aus der Lage heraus eigenverantwortlich ohne zeitraubende Rückversicherung gefaßt. Jedem ging es nur um die Sache. Und nun das. Unser Kompaniechef nörgelt zurück. Die Nerven liegen blank, beide Hauptleute geraten in Rage. Ich gehe dazwischen, schlage vor, daß die Leitenden beider Seiten Absprachen treffen. Doch davon will der Panzergrenadier nichts hören. Er will den Vorgang seinem Brigadekommandeur melden, damit der sich bei unserem Brigadekommandeur beschwert. Hier ist sie also, die unsichtbare Grenze. Bloß weg hier. Der Spieß will noch wissen, bis wohin wir heute noch mit den Sandsäcken kommen wollen. "Blöde Frage. Bis die Lücke zu euch geschlossen ist, natürlich." "Das schafft ihr nie", höhnt er. "Doch, das schaffen wir", geben wir zurück.

An der "Grenze" steht ein Feuerwehrmann. Er hat über 80 Mann dabei und nach Stunden noch keinen Auftrag. Gute Gelegenheit für uns, den "Heldenklau" zu spielen. Aber Fehlanzeige. Der Mann hat sich bei der OPZ "im Westen" gemeldet. Die hat nun allein Zugriff auf seine Leute. Selbst dann, wenn sie da gar nicht benötigt werden. Und wir könnten jede Hand gebrauchen ...

Unverdrossen legen wir Sandsack um Sandsack. Weil der einzige Gabelstapler mit dem Entladen der Paletten nicht mehr nachkommt, holen wir die Sandsäcke jetzt direkt von den Fahrzeugen. Ein Hubschrauber fliegt dicht über unseren Köpfen. Er wendet und kommt noch tiefer. Die Seitenluke öffnet sich. Ein Soldat steigt nach draußen auf die Kufen und winkt. Wir johlen und winken zurück. Auf dem Wasser patroullieren Boote von Bundeswehr, THW und DLRG.

Immer mehr Zivilisten jeden Alters kommen auf den Deich, um zu helfen. Der Integrationswille des zugewanderten Teils unserer so vielgepriesenen multikulturellen Gesellschaft indes scheint in dieser Katastrophe an ihre Grenzen zu stoßen. Mitbürger afrikanischer Herkunft oder solche von südländischer Erscheinung suchen wir auf dem Deich vergebens. Aber auch die müssen doch hier wohnen. Einige haben wir auf dem Hermarsch sogar gesehen. Sie standen an der Straße, tranken Bier und amüsierten sich über uns.

Unter den zivilen Helfern sind auch viele junge Mädchen. Ihre Kleidung haben sie dem Wetter angepaßt. Wären die Umstände anders, würde diese geballte Ansammlung kaum verhüllter weiblicher Schönheit bei den Soldaten ein ungehemmtes Balzverhalten auslösen. In dieser Situation aber sind sie sogar für weibliche Reize unempfänglich. Sie interessiert nur eines: der Deich muß halten! Etwa 20 Mitarbeiter ei-ner Sicherheitsfirma aus Schwerin kommen auf den Deich. Sie lassen sich kurz einweisen und legen los. Wir erfahren: alles ehemalige Soldaten und BGS-Angehörige. Außerdem werden wir durch einen Zug Berliner Bereitschaftspolizei verstärkt. Mehr als die Hälfte davon junge Mädchen. Sie ächzen unter der Last der schweren Sandsäcke, leiden unter der Hitze. Aufgeben tun sie nicht. Ein Kieslaster bringt 2.000 Sandsäcke aus Rostock. Dort hat ein Bauunternehmer seine Leute einen Tag lang schippen lassen. Der Fahrer ist dann einfach drauflos gefahren. Immer Richtung Elbe. Bis er bei uns gelandet ist.

Die Sanitäter sind mittlerweile "ausverkauft". Sie haben keine Sonnencreme, kein Insektenschutzmittel und keine Kopfschmerztabletten mehr. Sie fahren zu einer Apotheke zur "dezentralen Beschaffung". Der Apotheker gibt ihnen die Sachen gratis mit. Alle helfen eben. Die Fälle von schwerem Sonnenbrand häufen sich. Aber niemand gibt auf. Für diejenigen, die es besonders schwer getroffen hat, basteln die Sanitäter aus Schutzfolien, wie sie sonst für Brandverletzte benutzt werden, schützende Kapuzen. Immer mehr Helfer laufen mit den silbernen Dingern herum. Eigentlich bieten sie damit einen lächerlichen Anblick, aber niemand käme auf die Idee, sich über sie lustig zu machen.

Wir arbeiten Stunde um Stunde. Langsam kommt der Anschlußpunkt in Sicht. Das NDR-Fernsehen sendet live von unserem Deichabschnitt. Schließlich sind es nur noch 50 Meter, bis die Lücke geschlossen ist. Am Anschlußpunkt fahren noch die Raupen des THW. Ich frage einen der Fahrer, wann unsere Fahrzeuge hier bis an den Deich heranfahren können. "In 20 Minuten." Doch die Helfer wollen keine Pause, wollen nicht warten. Das Ziel ist zu nah. Eine Doppelreihe wuchtet die Sandsäcke von den Lkw auf die Deichkrone, von wo aus sie Hand über Hand zum Anschlußpunkt durchgereicht werden. Obwohl alle am Ende ihrer Kräfte sind, steigert sich die Schlagzahl. Dann ist es geschafft. Der letzte Sandsack wird gelegt. Ein toller Augenblick. Genau zwölf Stunden, nachdem wir hier mit der Arbeit begonnen haben, kommt die Meldung: "Lücke geschlossen."

Wir werden nach Dersenow in Ruhestellung verlegt. Doch wir haben noch zu tun. Einer unserer Kameraden wohnt in Geesthacht. Sein Haus ist vom Hochwasser bedroht. Immer wieder hat seine Frau angerufen. Wir fahren hin. Die Nachbarn staunen. Sie haben die arme Frau schon gehänselt, weil ihr Mann sie in der Gefahr im Stich lassen würde. Seine Kinder rennen stolz durch die Straße. "Da kommt unser Papa mit seinen Freunden. Wir haben doch gesagt, daß die uns helfen." Vor dem Haus liegen mehrere Kubikmeter Sand. Wir spucken in die Hände, füllen Säcke und legen einen doppelten Sandsackdamm in seinem Garten. Eine Fingerübung, weiter nichts.

Geesthacht. Da ist man fast schon zu Hause in Hamburg. Wir beschließen, lediglich ein Nachkommando nach Dersenow zu schicken. Der Rest wird nach Hause entlassen. Falls ein neuer Auftrag kommt, sind wir ja in einer Stunde wieder vor Ort. Es ist bald Mitternacht. Ich fahre nach Hause. Die Lichter und der Mittelstreifen verschwimmen vor meinen Augen. Meine Familie erwartet mich trotz der späten Stunde. "Erzähl doch mal". "Heute nicht mehr."

Am nächsten Morgen. Ich sitze übermüdet am Schreibtisch.

Es geht mir wie einem Fronturlauber. In Gedanken bin ich "vorn" bei meinen Kameraden. Immer wieder rufe ich in

Dersenow an. Noch immer kein neuer Auftrag, aber weiter Alarmbereitschaft. Am nächsten Tag das gleiche. Ich halte es nicht mehr aus und fahre los. Ab Lauenburg ist die B 5 für den Zivilverkehr gesperrt, die Bevölkerung weiträumig evakuiert. Die Uniform verschafft mir überall Durchlaß. Zwei Bergepanzer donnern mit Höchstgeschwindigkeit an mir vorbei. Auf einem flattert eine Hamburg-Fahne im Fahrtwind. Nach wenigen Minuten kommen sie zurück. Die Kameraden lachen und winken. Große Jungs.

Das Hochwasser hat seinen Höchststand erreicht. "Unser" Deich bei Horst hält. Die Deichsohle macht stark Wasser, aber die Gefahr scheint gebannt. Das THW und eine Gruppe Soldaten gehen ständig Streife. Unsere Mühe hat sich gelohnt. Ich fühle Stolz und Zufriedenheit.

Auch Boizenburg hat Glück. Der Pegel steht bei etwa sechs Meter, aber das Wasser bleibt noch unter der Deichkrone. Der provisorisch aufgeschüttete Deich neben der Werft mit den vielen von uns gefüllten Sandsäcken hält ebenfalls. Wenn die Elbe mehr Wellengang hätte oder es länger regnen würde, würde alles davonschwimmen. Dann wäre die Stadt verloren.

In Dersenow werden jetzt keine Sandsäcke mehr gefüllt. Die Kameraden langweilen sich. Ich habe Kuchen mitgebracht. Davon ist aber schon genug vorhanden. Es ist Wochenende, und die Bevölkerung hat ihre Soldaten an der Kiesgrube nicht vergessen. Ich frage in der OPZ nach. An der "Front" ist alles ruhig. Kein neuer Auftrag in Sicht. Wir melden uns ab. Nach sechs Tagen ist unser Einsatz beendet. Der Deich hält. Es war jede Mühe wert!

Jetzt kommt das große Aufräumen. Im Elbe-Katastrophengebiet sind 40 Millionen Sandsäcke verbaut worden. Allein in unserem Abschnitt zwischen Dömitz und Lauenburg liegen an die 17 Millionen Sandsäcke auf dem Elbdeich. Das entspricht 20.000 Lkw-Ladungen mit einem Gewicht von fast einer halben Million Tonnen. Wer räumt die bloß wieder weg?

 

Schwerstarbeit: Helfer, soweit das Auge reicht, schleppen Sandsäcke Fotos (4): Heitmann

Wo kommt der viele Sand her? Aus der Kiesgrube Dersenow stammte die Füllung so manches rettenden Sackes auf den strapazierten Deichen des nördlichen Teilstücks der Elbe

In der Mitte entspringt ein Fluß: Schutzwall vor Boizenburg

Gemeinsam stark: Bundeswehrsoldaten und Zivilisten arbeiten Hand in Han
 
     
     
 
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