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Im Räderwerk der Macht: Heinrich-George-Biographie erschienen

 
     
 
Dunitschka, unsere Dunitschka hat geschrieben", jubelt der rundliche Postmeister in einer ergreifenden Mischung von Freude, wehem Vaterstolz und banger Vorahnung, daß es mit der Tochter, die den frivolen Verführungskünsten eines charakterlosen Offiziers erlag, vielleicht doch nicht zum besten steht. Immerhin faßt der Postmeister in Alexander Puschkins gleichnamiger Novelle beim Lesen Mut und legt seinen Pferde
n eine Extraportion Heu nach. Man würde wohl kaum das kleine Meisterstück der russischen Literatur so gut kennen, wenn es nicht durch Heinrich George einen so in der Tiefe des Gefühls anrührenden Ausdruck gefunden hätte, wie in Gustav Ucickys Puschkin-Verfilmung von 1940.

Als der wohl bekannteste und populärste Film mit George in der Hauptrolle in den deutschen Lichtspieltheatern lief, stand das Deutsche Reich gleichsam auf der Höhe seiner Macht: Der Frieden mit Moskau dauerte an der Oberfläche noch fort, der mit den Westmächten schien noch einmal einen Funken Lebenshoffnung zu bekommen: Soldaten der Wehrmacht wurden kurzzeitig entlassen, die Wirtschaft war noch längst nicht auf den totalen Krieg umgestellt, das Lebensgefühl zehrte noch von dem Glauben an baldige Waffenruhe. Sechs Jahre später sind die bisher schwersten und blutigsten Schlachten der Menschheit geschlagen, Deutschland zerstört, geteilt und Heinrich George, der wohl größte deutsche Schauspieler, teilt mit seinem Tod das Schicksal von Millionen Menschen, die in das mörderische Räderwerk des Krieges geraten waren.

Freilich jeder Lebensgang ist auf seine Weise einmalig, eigentümlich in seiner Ausformung und in seinen Wechselbeziehungen zu Zeitgenossen und Zeitumständen. Werner Maser, durch zahlreiche zeitgeschichtliche Veröffentlichungen ausgewiesener Historiker und Mithäftling Georges im Konzentrationslager Sachsenhausen, ist dem Leben und Werden des im Urteil von manch gegenwärtigen Zeitgenossen noch immer umstrittenen Mimen nachgegangen, wobei er – naheliegend für einen Wissenschaftler aus der historischen Zunft – das stets brisante Wechselverhältnis von politischer Macht und Künstlertum am Beispiel des 1893 in Stettin unter dem Namen Georg August Friedrich Hermann Schulz Geborenen auszuleuchten trachtet.

George, Sohn eines aus Ostdeutschland stammenden Marineoffiziers und späteren Obersekretärs der pommerschen Landeshauptstadt und einer Gastwirtstochter, durchläuft künstlerische Himmelsflüge und bleibt gleichsam mit der "irdischen" Seite seines Seins in Tuchfühlung mit zwei diktatorischen Systemen, die dieses Jahrhundert zumindest in Europa bis in die Gegenwart nachhaltig bestimmt haben.

Für viele Nachgeborene ist es aus der Fülle der Möglichkeiten einer beruhigteren Zeit heraus allemal ein Leichtes, den Speer der Verdammnis in jene zu stoßen, die in nationalsozialistischer oder bolschewistischer Zeit politisch indifferente oder gar mittuende Künstler waren. Freilich ist es aber auch häufig so, wie Anastasius Grün einmal schrieb: "Manch Urteil ist längst beschlossen, eh’ des Beklagten Worte geflossen."

Als Lenin und Stalin in der Verbannung ihrer sibirischer Lager über ihre Weltverbesserungsthesen brüteten, wären sie vermutlich kaum davon zu überzeugen gewesen, daß dies einmal im beispiellos blutigen Gulag-System enden würde. Als Künstler, Intellektuelle aber auch Arbeiter und ehemalige Frontkämpfer sich in die Hitler-Bewegung eingliederten, dürften sie kaum die Katastrophe von 1945 im Blick gehabt haben, ganz abgesehen davon, daß viele überhaupt keine Möglichkeit besaßen, ihr Schicksal außerhalb Deutschlands sozial oder kulturell auch nur einigermaßen hinreichend akzeptabel neu gestalten zu können. Und gerade hier greift der Ansatz des Historikers Maser hilfreich, aufhellend und wohltuend zuordnend ein, indem er den Schauspieler George in die Umbrüche einer manchmal heute noch kaum nachvollziehbaren Welt stellt, die aber, im vergleichbaren Licht unserer jüngsten Nationalgeschichte betrachtet, so fern nun auch wiederum nicht zu liegen scheint: Wer von den Westdeutschen war es, der den offenkundigen Bedrängnissen von Künstlern und Schriftstellern in der nun so schmählich untergegangenen DDR gegen die Mächtigen in Ost-Berlin oder den bundesdeutschen Zeitgeist beistand? Man denke nur an Rainer Kunze oder Wolf Biermann und werfe dann den ersten Stein auf Heinrich George oder die vielen anderen!

Daß hierzu Mut gehört und unbequeme Haltung, versteht sich, auch dann, wenn das Leben sich nicht nahtlos in das Klischee einfügen läßt: So war der Weltkrieg I-Teilnehmer George, um einige Eckdaten seines Lebensganges zu beleuchten, entgegen umlaufenden Gerüchten oder gezielten Zweckmeldungen keineswegs beim ersten Schuß "verrückt" geworden, vielmehr wurde er als freiwilliger "Einjähriger" bereits zu Weihnachten 1914 Unteroffizier, nachdem ihm zuvor schon das Eiserne Kreuz II. Klasse verliehen worden war. Bereits Ende 1914 Offiziersstellvertreter, geriet er 1917 in Streit mit einem Leutnant, was mit gönnerhafter Duldung eines musisch interessierten Vorgesetzten nur so noch aufgelöst werden konnte, daß er im März 1917 aus der kämpfen- den Truppe ausschied und entlassen wurde.

Die von Georges Ehefrau Berta Drews und später von den offenbar davon beeinflußten Peter Laregh und Mesalla, derzeitiger Generalintendant des Schleswig-Holsteinischen Landestheaters, aufgebrachte These, wonach George durch die Kriesgserfahrungen von 1915 in die "Irrenanstalt Kückenmühle" verbracht worden sei, verbleibt trotz hochgelehrter Dissertation im Bereich der Fabel. Hierzu gehört auch die völlige Abstinenz Georges in Sachen nationalsozialistischer Organisationen: Er sympathisierte, wie viele seiner Künstlerkollegen auch, mit der kommunistischen Bewegung, mit Piscator, Brecht und Otto, freilich ohne auch hier Mitglied zu werden oder kollektivistische Ansätze für Kunst und Theater zu billigen. Drastisch formulierte er gegen den Geist des damaligen Theaters, es dürfe weder zu einem "Abort" noch zu einer "Latrine für die Genietruppen" geraten, gleichwohl aber war er erfüllt vom Seelenhunger einer umbrechenden Zeit. Vielleicht sah George anfänglich auch in den nationalsozialistischen Thesen bestimmte Wünsche und Hoffnungen ansatzweise erfüllt, die sein künstlerischer Geist schwärmerisch im Sinne seiner Vorstellungswelt ausweitete, wobei nur der falsch darauf reagiert, der nicht weiß, daß auch die NSDAP eine Linkspartei gewesen ist.

George, der nie der NSDAP oder einer ihrer Gliederungen angehörte, hat sich über parteipolitisches Kalkül und Polit-Thesen nie geäußert, dazu war er dem engeren Feld der Bühnen- und Filmkunst allzusehr verhaftet. Tatsache bleibt jedenfalls, daß er alsbald die insbesondere im Bühnenmilieu wirksame antisemitische Haltung des Goebbels-Ministeriums durch aktive Hilfe konterkarierte, Spielverbote aufhob, unterlief oder jüdischen Mitbürgern bei der Ausreise behilflich war und bis zuletzt sind in seinem "Judenstall", wie Goebbels das Theater einmal verbittert genannt hatte, rund ein Dutzend jüdischer Kollegen angestellt gewesen. Daß sein Leben schließlich in einem Lager jener Kräfte endete (da den hohen Mächten, die das Schicksal bestimmen, offenkundig der Sinn auch für groteske Tragödien nicht abgeht, sei kurz angezeigt, was Maser dann in seinem Buch ausführlich tut, daß nämlich u. a. der NKWD-Zuarbeiter Wolfgang Harich in der Sache George eine maßgeblich negative Rolle spielte und den überzeugten Kommunisten eine Dekade später seinerseits für viele Jahre in das Räderwerk der Ulbrichtschen Stasi brachte), mit denen er in den späten zwanziger Jahren sympathisiert hatte, gehört vielleicht zu jenen exemplarischen Lebensgängen, die zugleich das Geschick der europäischen Mitte in diesem Jahrhundert ausmachen. Deutschland in seiner Mittellage, immer zwischen den Anschauungsfronten des Westens und des Ostens, immer selbst gefährdet, immer selbst gefährdent, George, in gewissem Einklang mit den bestimmenden, aber verfälschten und verfehlten Ansätzen einer einst revolutionären Bewegung, schließlich Täter und Opfer eines Künstlertums, das im Räderwerk der Macht Preise abverlangt, die zu zahlen artistische Akteure wohl zu zahlen bereit wären, wenn es denn lohnte. Leider taten sie es nicht.

Hier das solide historische Rüstzeug eines Wissenschaftlers zum Zwecke der Aufhellung und der Wirkweise von Macht und Geist, Tradition und Umwälzung als Elle und Maßstab angelegt zu haben, macht das George-Buch Masers so lesenswert, denn nichts sollte den Historikern wichtiger gelten als das Ziel, Geschichte so darzustellen, wie sie war. Peter Fischer

Werner Maser: Heinrich George. Mensch aus Erde gemacht. Die politische Biographie, edition q der Quintessenz Verlags GmbH, 463 Seiten mit 127 Fotos und Dokumenten, Hardcover mit Schutzumschlag, ISBN 3-86124-351-2, DM 44,–

 
     
     
 
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