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Kindheits-Landschaft

 
     
 
Der Vorsatz, am Sonntag länger als bis acht Uhr zu schlafen, scheitert an höhere Gewalt – pünktlich um acht Uhr. Da beginnt auf dem Hof ein Klopfen und Hämmern, da bereits die ganze Woche zu hören war. Und das trotz Papstbesuchs und geheiligte Sonntagsruhe im katholischen Polen!

Notgedrungen steht man auf. Es leuchtet ja auch ein: Bald beginnt die Hauptsaison, un bis dahin müssen die restlichen Urlaubsunterkünfte
im neuen Seitenflügel des Hause verputzt, tapeziert, gestrichen und der Weg davor gepflastert sein. Die Zeit, während de die Leute im Ostseebad Leba im hintersten Hinterpommern ihr Geld verdienen können, is nur kurz. Das Frühjahr kommt spät – noch Mitte Juni blüht der Flieder –, de Sommer endet früh.

Bekannt war Leba schon vor 1945. Zu Beginn der 20er Jahre kam der expressionistisch Maler Max Pechstein hierher und blieb dem Ort bis Kriegsende verbunden. Ein wirklic populäres Seebad aber wurde es erst seit den 1960ern, als die Polen es zum Ferienor ausbauten.

Seit einigen Jahren wird die touristische Infrastruktur vollständig modernisiert. Zwa verstellen auch hier, wie überall in Polen, graue Wohnblöcke als traurige Denkmäler de Sozialismus die Landschaft, aber sie prägen nicht das Bild. Lebas alte Bausubstanz ha den Krieg – wenigstens im Vergleich zu anderen Gegenden Pommerns – glimpflic überstanden. Die Gebäude, die jetzt errichtet werden, passen sich den bescheidene Backsteinhäusern des alten Leba an.

Nach wie vor bezieht der Ort sein Flair hauptsächlich aus dem, was die Deutsche hinterlassen haben. Das böse Wort von der "polnischen Wirtschaft" is unterdessen fehl am Platz. Viele Häuser haben frische Farbe, die Betriebsferienheime sin zumeist umgebaut oder saniert; an ihrem Zustand läßt sich ablesen, wie die einzelne Branchen in Polen florieren.

Leba mit seinen heute rund 4000 Einwohnern (im Jahre 1939 waren es 2846) geht e sichtlich besser als seiner Umgebung. Die zahlreichen neuen Eigenheime sind als Einfamilienhäuser zu groß, die Fremdenzimmer wurden gleich mitgeplant. Über ihr Architektur läßt sich im Einzelfall streiten. Hier wirkt ein Säulenvorbau zu neureich dort ein schmiedeeiserner Balkon zu protzig. Andererseits ist auch das 1913 erbaute, ebe sanierte Kurhaus am Strand mit seinem an eine Ritterburg gemahnenden Turm ästhetisch ei Monstrum.

Ab Mitte Juli wird es schwierig, in Leba eine Unterkunft zu finden, während es in de Vorsaison leicht ist. Bereits im Zug erhält man von Mitreisenden einen Zettel mi Adressen. Man kommt jedoch nicht dazu, diese anzusteuern, weil die Touristen am Bahnho von selbsternannten Reiseführern abgefangen werden.

Es ist unmöglich, einem solchen äußerst beredten Mann zu entkommen, der einem ei "phantastisches" Zimmer offeriert, wobei er die zusammengelegten Fingerspitze seiner rechten Hand an die Lippen führt und mit der Zunge schnalzt. Mei "Reiseführer" geleitet mich in ein Haus an der nach Polens Nationalhelde Tadeusz Kosciusko benannten Hauptstraße. Fünf der zehn kleinen Appartements in rückwärtigen Neubau sind fertig, sie kosten jetzt umgerechnet 20 Mark am Tag. De Botenlohn beträgt 10 Zloty (etwa fünf Mark) – hocherfreut trollt er sich davon.

Leba ist nicht mondän, hat aber alle Möglichkeiten, es zu werden. Seine Lage könnt nicht günstiger sein: Im Norden die Ostsee, im Westen der Leba-, im Osten der Sarbske See, und an dem Ort vorbei fließt der gleichnamige Fluß. Bis 1945 gehörte Leba zu Kreis Lauenburg, der den poetischen Beinamen "Blaues Ländchen" trug. In der Ta legt das Zusammenspiel aus Himmel und Meer, aus Seen und Wäldern einen bläuliche Schimmer über die Landschaft.

Dreißig Kilometer weiter östlich verlief früher die Provinzgrenze zu Westpreußen die nach dem Versailler Vertrag die Reichsgrenze zum polnischen "Korridor" bildete. Durch die Trennung von Westpreußen wurde dem Kreis Lauenburg damals de Lebensnerv durchschnitten, denn Wirtschaft und Infrastruktur waren auf das rund hunder Kilometer entfernte Danzig orientiert.

Von Autos fast ungestört, legt man den Weg zur westpreußischen Grenze auf de leidlich geteerten Landstraßen bequem per Fahrrard zurück. Man durchquert ein dünnbesiedelte, weiträumige, leicht hügelige Landschaft mit verschlafenen Dörfern. I den Vorgärten wuchern die Blumen und Gräser; sie haben viel mehr Charme als jede noch s kunstvoll abgezirkelte Blumenrabatte.

An kleinen Feldern glühen Ginster, Mohn und Kornblumen. Die Alleen bilden ei geschlossenes Dach, man wähnt sich in einer grüngoldenen, gleichsam mythische Kindheitslandschaft. Spätestens hier ist zu ahnen, was Deutschland durch den Untergan seines Ostens verloren hat.

Geöffnete Türen und Fenster laden zu einem Blick in alte Bauernhäuser ein, in dene jene prähistorischen Möbel stehen, für die man heute beim Antiquitätenhändle Unsummen zahlt. Man müßte ein ausgesprochener Ignorant sein, um sich in solchen Momente nicht zu fragen, welche Tragödien sich hier 1945 bei Flucht und Vertreibung abgespiel haben.

Einige einsame Häuser und Scheunen sind verlassen und dem Verfall preisgegeben Seltsam, es ist nicht der Ausdruck der Verwahrlosung, der sich bei ihrem Anblic aufdrängt, sondern die Empfindung, daß es die Zeit selber ist, die sich über ein bäuerliche, mehr und mehr anachronistisch gewordene Lebenswelt wälzt. Hinte Wierschutzin, dem östlichsten pommerschen Dorf, in dem bis heute viele Deutsche leben gelangt man durch eine Allee zum Zarnowitzer See, der mit dem Flüßchen Piasnitz die alt Reichsgrenze markiert. Jenseits des Sees erheben sich die Hügel der Kaschubische Schweiz.

Das heutige Leba beginnt seine Geschichte anzunehmen, ohne sich von ihr erdrücken zu lassen. Im Slowinski-Nationalpark auf der Landzunge zwischen Ostsee und Leba-See ist in einem Bunker eine Fotoausstellung über das deutsche Leba zu sehen. Alte und neue Foto sind nebeneinander gestellt. Bis zum Januar 1945 wurde hier an deutsche "Wunderwaffen" gewerkelt, an den Raketen "Rheintochter" un "Rheinbote", deren Wirkung und Reichweite die der V-Waffen noch übertreffe sollte. Andererseits sind Bezeichnungen wie "Drink Bar Malibu" ode "Diskothek Miami Nights" aus dem Zeichenvorrat eines postnationalen Medien- un Tourismusbetriebs entnommen, der keine nationalgeschichtliche Hypotheken kennt.

Die größten Pfunde, mit denen Leba damals wie heute wuchert, sind der unendlic lange, feinsandige, dreißig Meter breite Strand und die 42 Meter hohe Lonske-Düne, die zusammen mit anderen Wanderdünen eine rund 20 Hektar große Sahara am Ende von Pommer bildet. Vor sechzig Jahren übten Rommels Soldaten hier ihren Wüsteneinsatz. Heute lock sie bei schönem Wetter die Touristenströme und Kinderkarawanen.

Oben auf der Dünenkuppe, den Blick wahlweise auf die Ost- oder den Lebasee gerichte und über sich nichts als den Himmel, auf dem Federwolken entlangziehen, liegt es sic allemal besser als auf der schmalen Schlafliege. Überhaupt war es ein Glücksfall, s früh aufgestanden zu sein. Und bei der Rückkehr um acht Uhr abends packen die Handwerke gottlob ihre Sachen zusammen.

Reiseliteratur: Der traditionelle Pommern-Reisende wird sich von Johanne Schultz-Tesmars "Reiseführer Pommern" aus dem Verlag Rautenberg gut bedien fühlen. Wer stärker an der polnischen Gegenwart interessiert ist, dem sei "Polen Norden. Ostseeküste und Masuren" von Kristina Jaath empfohlen. Das vielseitigst Buch ist eine Übersetzung: "Kaschubei und östliches Hinterpommern", erschiene 1998 in Gdingen. Nicht nur, daß die praktischen Ratschläge hier am ausführlichste sind. Der kaschubische Verfasser Jaroslaw Ellwart verfügt auch über ein ausgezeichnete Verständnis für kulturhistorische Zusammenhänge und über ein ungewöhnliche Detailwissen
 
     
     
 
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