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Londons vermeidbarer Fehler

 
     
 
Ähnlich wie Daniel Goldhagen, der mit seinem Buch "Hitlers willige Vollstrecker" für viel Aufsehen gesorgt hat, hat Niall Ferguson in Deutschland studiert. Der 35jährige Schotte hat jetzt ebenfalls eine historische Studie über Deutschland vorgelegt, von der der Historiker Wolfgang Mommsen glaubt, daß sie "eine Neubewertung der Geschichts
schreibung in Gang" setzen werde.

Doch die interdisziplinäre und internationale Studie Fergusons geht in eine ganz andere Richtung als das Werk Goldhagens, der eine deutsche Sonderrolle postuliert hat. Ferguson behauptet in seinem Buch "Der falsche Krieg", Deutschland hätte den ersten Weltkrieg zügig gewinnen müssen, damit der Welt das millionenfache Abschlachten in den Schützengräben, die Weltwirtschaftskrise und nicht zuletzt die totalitären Regimes erspart geblieben wären. Deswegen sei er mit der britischen Intervention von 1914 unzufrieden und meint, sein Land hätte sich aus dem Kontinentalkrieg heraushalten sollen: "Es war nicht nur eine Tragödie, sondern ein vermeidbarer Fehler."

Am Montag stellte Ferguson im vollbesetzten Audimax der Humboldt Universität, Berlin, das Buch vor. Er entkräftet in wenigen Minuten viele der herkömmlichen Vorwürfe, die die angebliche deutsche Allein- oder Hauptschuld am Ersten Weltkrieg untermauern sollen. So kann er im deutschen Kaiserreich von 1914 keine Gefahr für die Welt oder einen aggressiven Außenseiter erkennen. Nationalismus und Militarismus seien in ganz Europa weit verbreitet gewesen, aber überall auf dem Rückzug, wie die steigenden Wahlergebnisse sozialistischer und sozialdemokratischer Parteien zeigten: 1912 war die SPD mit fast 35 Prozent der Stimmen zur stärksten politischen Kraft im Kaiserreich aufgestiegen. Dagegen sei der Antisemitismus vor dem Krieg in Frankreich viel tiefer verwurzelt gewesen.

Auch im Flottenwettrüsten sieht er keinen zwingenden Grund für den Kriegsausbruch. Deutschland sei eindeutig als Verlierer daraus hervorgegangen, habe Englands Rolle als "Herrscherin über die Meere" niemals ernsthaft bedroht. Auch waren, wie Ferguson hervorhebt, die Rüstungsausgaben in Deutschland und Österreich-Ungarn, gemessen am Sozialprodukt, geringer als in Rußland oder in Frankreich. Es habe zwischen Deutschland und Großbritannien sogar gute Ansätze für eine erfolgreiche Zusammenarbeit gegeben: Der Tausch Helgoland/Sansibar, die Kooperation in China oder das gemeinsame Vorgehen in Venezuela 1902/03 zum Beispiel.

Der eigentliche Grund für den Eintritt der Briten in den Krieg auf seiten der Entente sei vielmehr auf Deutschlands Schwäche, nicht auf seine Stärke, zurückzuführen. Deutschland sei nicht gut gerüstet gewesen. Der Schlieffenplan habe bewiesen, daß Deutschland auf Dauer gar keinen Zweifrontenkrieg führen konnte. Weil der "germanophobe" britische Außenminister Grey aber lieber Zugeständnisse von den starken Mächten wollte, habe er das Bündnis mit der Entente vorangetrieben und 1914 die Verletzung der belgischen Neutralität als Anlaß zur Kriegserklärung genommen. Auch das sieht Ferguson "in einem anderen Licht": Großbritannien selbst habe schließlich auch die Besetzung des neutralen Belgiens in seinen militärischen Konzeptionen vorgesehen.

Eine so deutschfreundliche Perspektive von Kriegsursachen und Kriegsverlauf verschlug den rund 500 Gästen der Gesellschaft zur Förderung der Geschichtswissenschaft beinahe die Sprache. Und die beiden Teilnehmer der Podiumsdiskussion offenbarten sogleich ihre Skepsis angesichts des Fazits Fergusons: "Die angeblichen Alternativen überzeugen nicht", meinte der Historiker August Winkler (SPD).

Dabei gilt der 35jährige Schotte in Großbritannien als einer der erfolgreichsten jungen Historiker. Und er beteuert: "Ich vertrete nicht die Positionen größenwahnsinniger Deutscher, sondern die der britischen Pazifisten von 1914." Das Empire hätte "mit einem siegreichen deutschen Kaiser sehr viel besser leben können als mit Hitler", der nach dem alle Rahmen sprengenden Pariser Vorrortverträgen geradezu zwingend im deutschen Bereich die Macht ergreifen mußte.

Wolfgang Mommsen führt manche Irritationen teilweise auf die Übersetzung des Buches ins Deutsche zurück, woraufhin der ebenfalls anwesende Übersetzer sofort protestiert. Klaus Koch aus Berlin gilt als gewissenhafter Übersetzer. Er hat übrigens vor einem Jahr auch schon Daniel Goldhagens Buch ins Deutsche übersetzt.

 
     
     
 
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