|  | Ist Sachsen-Anhalts     Ministerpräsident Reinhard Höppner ein pathologischer politischer Fall? Nach dem     erneuten Scheitern der von ihm geführten Vorverhandlungen mit der Landes-CDU unter     Christoph Bergner zur Bildung einer gemeinsamen Regierung haben viele deutsche     Zeitungskommentatoren daran kaum noch Zweifel. Denn Höppner verlangte, in einer der     bösartigsten politischen Nachwende-Operationen aus dem Ungeist des prokommunistischen     Antifa-Mythos  , ausgerechnet von der CDU nichts anderes als gemeinsame parlamentarische     Sache mit der linksextremistischen SED-Nachfolgeorganisation PDS  gegen die in den     Landtag gelangte rechtsextremistische DVU. 
 "Bild" nannte Höppner dafür einen "Betonkopf", Norbert Blüm     "machtgeil", die "Frankfurter Allgemeine" qualifizierte den     Magdeburger Regierungschef gar als "herausragendes Beispiel ... politischer     Tölpelhaftigkeit" und Exponenten eines "verkommenen, törichten     ,Antifaschismus". SPD-Kanzlerkandidat Gerhard Schröder schließlich     eliminierte den Mann und den Fall  in einem TV-Gespräch und auf der Basis einer     pikanten Freudschen Fehlleistung  schlicht so, indem er nicht nur kategorisch alle     Varianten einer SPD/PDS-Zusammenarbeit nach der Bundestagswahl im September ausschloß,     sondern auch noch hinzufügte: "Insofern gilt in Deutschland etwas anderes als in     Sachsen-Anhalt oder anderswo".
 
 Daß Sachsen-Anhalt nicht mehr in Deutschland liegen möge und Mecklenburg-Vorpommern     besser auch gleich nicht (weil dort der ebenso "betonköpfige",     "machtgeile" und einen nicht weniger "verkommenen, törichten     ,Antifaschismus" pflegende SPD-Landeschef Harald Ringstorff sitzt und auf seine     Magdeburger Verhältnisse lauert), diesen unbeabsichtigt zu Tage getretenen Herzenswunsch     des deutschen Polit-Kumpels von Tony Blair kann man durchaus nachvollziehen. Ist er doch     Ausdruck der tief sitzenden Furcht eines politischen Marathonläufers, nur wenige     Kilometer vor dem Ziel von einem aggressiven Polit-Virus befallen und gefällt zu werden:     dem Grotewohl-Virus in diesem Fall.
 
 Doch die Zeiten, daß Wünschen, das im Kern ein Wollen ist, noch geholfen hat, sind     schon lange vorbei, und in Deutschland erst recht. Das Bundesland Sachsen-Anhalt mitsamt     seinem Ministerpräsidenten Reinhard Höppner existiert, und es pflegt mit den direkt und     indirekt herrschenden Landesparteikadern von SPD, PDS und Bündnisgrünen auf geradezu     verhängnisvolle Weise eine der berüchtigsten deutschen Traditionen: die der totalen     ideologischen Verblendung.
 
 Die neueste Variante dieser pathologischen Erscheinung  ein aggressiv     verteidigter und intolerant gelebter Aberglaube an einen humanen, weil antifaschistischen     Grundcharakter von SED und DDR  ist aber so neu nicht. Sie hat vielmehr gerade in     den Bundesländern zwischen Werra und Oder spätestens seit April 1946 Tradition      als sich die SPD-Landesorganisationen von     Mecklenburg-Vorpommern,  Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Thüringen und Sachsen     unter Führung von Otto Grotewohl, Max Fechner und Gustav Dahrendorf mit der KPD der     eisenharten Stalinisten Pieck und Ulbricht zur SED zusammenschlossen und sich damit in den     Dienst der zweiten deutschen Diktatur begaben, auch wenn Dahrendorf bald floh und Fechner     eines ihrer prominentesten Opfer wurde. Parallel zum völligen Verschwinden der SPD vor     allem durch eine leninistisch inspirierte organisationstechnische Vernichtung machte der     nicht unbekannte SPD-Politiker der Weimarer Republik, Otto Grotewohl, Karriere in Stalins     deutscher Satrapie und wurde und blieb bis zu seinem Tode im Jahre 1964 erster     Ministerpräsident der "Deutschen Demokratischen Republik". Die sowjetische     Besatzungsmacht hat diesem Verschmelzungsprozeß einer demokratischen mit einer     totalitären Linkspartei durch das bewährte Gemisch aus physischem und psychischem Terror     sowie Korruption per Sachleistungen und Posten gegenüber großen und kleinen     Funktionären der SPD auf die historischen Sprünge geholfen. Das ist geschichtsnotorische     Tatsache. Aber es ändert nichts daran, daß Grotewohl und seine willfährigen Mitgenossen     fortan zu Recht als Verräter an den Interessen und Idealen der deutschen Sozialdemokratie     galten.
 
 Und es war der legendäre erste Nachkriegsvorsitzende der SPD, Kurt Schumacher, der dem     damals einsetzenden Antifa-Mythos der eben gegründeten SED sogleich und mit der ihm     eigenen Unmißverständlichkeit entgegentrat: "Die Sozialdemokratie wendet sich gegen     die unwahrhafte Darstellung, als ob es das Fehlen der organisatorischen Einheit gewesen     sei, das den historischen Schuldanteil der deutschen Arbeiterklasse am Aufkommen des     Nazismus verursacht hat. Sie lehnt es ab, auf der Grundlage gegenseitigen gleichwertigen     Verschuldens die Aussprache zu führen, denn dazu ist das geschichtliche Verschulden zu     eindeutig auf einer Seite. Die geschichtliche Schuld der deutschen Arbeiterklasse beruht     darin, daß der kommunistische Teil die klassenpolitische Rolle der Demokratie verkannt     und zusammen mit den Nazis, den Deutschnationalen und anderen kapitalistischen Feinden der     Demokratie den Parlamentarismus sabotiert hat. Ohne diese kommunistische Haltung wären     die Nazis nicht an die Macht gekommen." Auf diesem historischen Kenntnisstand, was     die Geschichte der SPD und Nachkriegsdeutschlands betrifft, hat sich der im     linksprotestantischen Laien- und Synodalfunktionärsmilieu des Bundes der evangelischen     Kirchen der DDR aufgestiegene Mathematiker Reinhard Höppner nie befunden. Vielmehr     gehört er zu jener Spezies von evangelischen Revolutionschristen, die nicht nur einer     sozialistisch gestimmten, an der Bergpredigt des Neuen Testaments orientierten     Gesellschaftsethik folgen und damit für radikale Kapitalismuskritik anfällig sind (was     im Kern durchaus Sinn ergibt und deshalb legitim ist); ungleich verhängnisvoller ist ihre     unkritische Bereitschaft, dem kommunistisch-stalinistischen Zentral-Ideologem der Weimarer     Jahre zu folgen, nach dem der Faschismus eine logische Folge des Kapitalismus und der     Kapitalismus wiederum eine Ausgeburt aller konservativen Ideale ist.
 
 Diese intellektuell ebenso unredliche wie politisch-moralisch tödliche Gleichung ist     der genetisch harte Kern des Grotewohl-Virus, der in Magdeburg nun voll ausgebrochen ist.     Seine von 1949 bis 1989 vier Jahrzehnte dauernde Inkubationszeit sorgte für eine heutige     Stärke, denn solange wie die DDR existierte, wurde der ideologische Krankheitserreger     tagtäglich über den Propagandaapparat der SED-Diktatur in die Köpfe der ausgelieferten     Menschen initiiert. Der Vorgang ist inzwischen, und nicht nur für die DDR, unzählige     Male historisch beschrieben und psychologisch analysiert worden, einen der genauesten und     deshalb berühmtesten Texte, die das Phänomen untersuchen, schrieb der polnische Dichter     und spätere Literaturnobelpreisträger Czeslaw Milosz: "Verführtes Denken", so     der Titel.
 
 Im Rahmen der DDR-spezifischen "Verführungs"-Variante wurden Politiker wie     Adenauer oder Kiesinger zu "klerikalfaschistischen" Antisozialisten oder     potentiellen Kriegstreibern und Westdeutschland zu einem radikalkapitalistischen     Ausbeutungshort der Junker und Schlotbarone.
 
 Ulbricht, Pieck und Honecker dagegen, die brutalsten deutschen Politterroristen nach     Hitler, mutierten langsam, aber sicher zu primär den Weltfrieden liebenden Naturen,     moralisch legitimiert durch ihren Kampf gegen den "Faschismus" und  bei     aller Kritik an der Ausführung  für ein sozialistisches Deutschland.
 
 Dieses Westdeutschland-Bild, ein pures Propaganda-Gemälde, das aber mit     kampagneartiger Regelmäßigkeit von SED und Stasi aufgefrischt und angereichert wurde,     sitzt tief in den Köpfen von Politikern wie Höppner oder Ringstorff, und hier nistet     auch ihr kaum verhohlener Haß auf alle jene Ost-Politiker, die mit ihrem Über- oder     Eintritt in die CDU den inneren antifaschistischen DDR-Konsens "verraten" haben,     der Basis für die ebenso eingebildete wie inzwischen inflationär behauptete     "Ost"-Identität ist, die Höppner & Co. angeblich so hartnäckig     verteidigen. Was sie tatsächlich verteidigen, sind aber nur die ziemlich durchschaubaren     Lebens- und Überlebens-Lügen einer Schicht von Menschen, die irgendwann ihren inneren     Frieden mit der zweiten deutschen Diktatur gemacht hat.
 
 Ihre moralische Unfähigkeit, dies offen und öffentlich einzugestehen, ist das     eigentliche Unglück der Nation, dementiert es doch nicht nur den radikalen Bruch, den die     Wählermassen des 18. März 1990 mit dem SED-System und seinen ideologischen Grundlagen     vollzogen haben. Es rehabilitiert auch in menschenverachtender Weise die     Nachfolgeorganisation jener Partei, die SED hieß und für zahlreiche politische Morde an     der innerdeutschen Grenze, für jahrzehntelange politische Verfolgungsorgien gegen     Andersdenkende und Anders-leben-Wollende sowie gigantische ökonomische, ökologische und     kulturelle Verheerungen zwischen Werra und Oder verantwortlich zeichnen: die PDS.
 
 Allerdings wäre es unredlich, an dieser Stelle zu unterschlagen, daß diese spezielle     Rehabilitierung der zweiten deutschen Diktatur von Politikern wie Reinhard Höppner nur     deshalb so erfolgreich vorangetrieben werden kann, weil ihr im Westen Deutschlands     zwischen 1969 und 1989 sowohl argumentativ wie auch politisch-praktisch energisch     zugearbeitet wurde. Im Rahmen der ideologischen Absicherung der Entspannungs-Politik     sozialliberaler Bundesregierungen durch Politikwissenschaftler, Zeithistoriker, Theologen     und Journalisten wurde die DDR schließlich zu jenem bloß "anderen deutschen     Staat", auf den Höppner sich heute beruft, wenn er mit der ihm eigenen Fähigkeit zu     dialektischer Apologetik behauptet: "Daß in der DDR Unrecht geschehen ist, wird     niemand bezweifeln. Aber das zeichnete diesen Staat nicht aus. Wer wollte unterstellen,     daß es in der ehemaligen Bundesrepublik kein Unrecht gegeben hätte? Ab wieviel Unrecht     ist ein Staat ein Unrechtsstaat? Die DDR war mehr als nur ein Unrechtsstaat. Er war für     eine schwer zu beschreibende Gruppe von Menschen auch der Versuch, eine gerechtere     Gesellschaft zu gestalten als die, die sie in der ersten Hälfte des Jahrhunderts erlebt     hatten. Daß der Versuch gescheitert ist, diskreditiert nicht unbedingt diejenigen, die     auf diesem Wege nach einer gerechteren Gesellschaft suchten." Geht der Höppnersche     neue Versuch, einer "gerechteren Gesellschaft" mit Hilfe leicht verschleierter     Kommunisten entgegenzugehen, in Magdeburg mehr oder weniger glatt, dann werden wir das     dortige Pilotprojekt bald als mitteldeutsches serielles Ereignis vor Augen haben:     Mecklenburg-Vorpommerns SPD ist wild entschlossen, das Land zusammen mit den Alt-Genossen     von der Einheitspartei auf Vordermann zu bringen; und der saarländische SPD-Import für     Thüringen, Landesinnenminister Drewes, hat schon vor längerer Zeit das ideologische     Spiel mit der SED-Nachfolgeorganisation angepfiffen. Volksfront-Gelüste allenthalben, da     sieht Gerhard Schröder, der neue Mitte-Mann der SPD, auf einmal furchtbar anachronistisch     aus.
 
 Wie sehr, das hat ihm der heimliche Präsident der neuen deutschen Republik, die da von     links am Horizont heraufdämmert, gerade gezeigt: Richard von Weizsäckers Plädoyer in     der "Süddeutschen Zeitung" vom 14. Mai für eine Koalition zwischen SPD und PDS     ist auch ein Plädoyer für den antifaschistischen Konsens aller deutschen Linken, das     heißt: für die ideologische Grundierung der "Berliner Republik" mit dem     Ungeist des Antifa-Mythos. Er soll den antitotalitären Konsens der westdeutschen     Nachkriegsgesellschaft um jeden Preis ablösen.
 
 Wie wenig weit das hergeholt ist, kann man einer erst jüngst erschienenen Ausgabe der     Hamburger Zeitung "Die Woche" entnehmen. Sie triumphiert angesichts der     Vorgänge von Magdeburg und den darin innewohnenden Perspektiven auf der Titelseite mit     der Schlagzeile: "Die Berliner Revolution", um danach festzustellen: "Die     Berliner Republik wird Koalitionen mit der PDS erleben; wer weiß, vielleicht sogar eines     Tages den Anschluß der PDS an die SPD. In Berlin hat ein halbes Jahrhundert Flucht aus     der Geschichte ein Ende." Das mag sogar stimmen. Nur, käme es so, wie hier auf der     Basis harter Fakten fröhlich spekuliert, handelt es sich um eine Flucht im Kreis und wir     würden als Nation und Staat wieder dort stehen, wo wir einst gestanden haben: in     totalitärem Gelände.
 
 
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