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Perspektiven: Vor Periodengattungspolitischer

 
     
 
Im schläfrigen bundesdeutschen Diskurs gibt es eine Faustregel: Wenn der Faschismusvorwurf ertönt, wird es in der Regel interessant. Dan durchzieht garantiert ein frischer Luftzug die vermufften bundesdeutschen Studier- un Redaktionsstuben, was die hier sitzenden Sprach-, Wahrheits- und Gewissensverwalter zu hektischen Abwehrreaktionen veranlaßt. Genauer gesagt, handelt es sich um eine einzige immer dieselbe Abwehrreaktion: das "Faschismus"-Gezeter. Neuestes Beispiel is der Philosoph Peter Sloterdijk. Der hatte sich im Juli im bayerischen Schloß Elmau ei paar grundsätzliche wie ungewöhnliche Gedanken über Humanismus und Bestialisierung über Elite-Auslese und Mehrheitserwartung erlaubt. Mit einiger Verspätung, abe zeitgleich und bevor der Text öffentlich war, hob Anfang September in "Zeit" "Spiegel", "Frankfurter Rundschau
" und "Süddeutsch Zeitung" das übliche Gekeife an.

Gewöhnlich ziehen die Angegriffenen sich dann eingeschüchtert zurück. We Widerspruch wagt, macht die Sache nur noch schlimmer. Bei dem 1947 geborenen Sloterdijk einem ehemaligen "68er", der mit solchen Mechanismen bestens vertraut ist, wa man jedoch an den Falschen geraten. Umgehend trat er mit offenen Briefen in de "Zeit" und einem Interview im 3-Sat-Kanal zur Gegenoffensive an. Statt sich mi gewundenen Erklärungen und Entschuldigungen aufzuhalten, nannte er den Spiritus recto der Medienaktion beim Namen. Jürgen Habermas, der in wochenlangen Intrigen, durc Indiskretionen und Telefonaten "zwischen Hamburg und Jerusalem" sein Büchsenspanner instruiert habe. Habermas sei ein "Denunziant", wofür er Sloterdijk, Beweise vorlegen werde. Mit seiner Herrschaft sei jetzt aber Schluß!

Die "Richtigstellungen", die Habermas in der "Zeit" veröffentlichte, bestätigen die Vorwürfe Sloterdijks. Die schon im Historikerstreit vo Ernst Nolte beklagte Praxis, seine "formellen und informellen Machtpositionen" für "ein Zensorenamt besonderer Art" zu nutzen, nennt er, mit fromme Augenaufschlag, sein "Menschenrecht auf Zeitgenossenschaft". Ja, natürlic tausche er sich mit Freunden über die politischen und intellektuellen Zeitläufe aus. Z diesen Freunden gehöre auch der zuständige "Zeit"-Redakteur, dessen Analyse in übrigen "zutreffend" sei. Ja, natürlich gab es eine "Korrespondenz" mit Jerusalem, doch daß sein israelisches Gegenüber sich von ihm erpreßt fühle, könn er sich "nicht vorstellen". Auch habe er den zuständigen Lektor des gemeinsame Suhrkamp-Verlags gebeten, sich Sloterdijks Text "doch einmal anzuschauen", abe nur aus Sorge, "daß der Verlag in den nächsten politischen Skandal hineinstolper würde". Und leider, leider, habe der "Spiegel"-Artikel – "desse Tendenz mir sonst einleuchtet" – diese Befürchtung bestätigt. Und Sloterdij könne doch nicht für sich selber "adornesk-sensible Rücksichtnahm einfordern" und gleichzeitig seine "journalistischen Kritiker" so rüd behandeln! Als ginge es tatsächlich noch um "Kritik" und nicht um Rufmord!

Nun hat die "Zeit" den standardisierten Sloterdijk-Text abgedruckt. Es geh darin, kurz gesagt, um veraltete Humanismus-Konzeptionen, die auf Vorstellungen von eine "literarischen Gesellschaft" zurückzuführen seien, "in der die Beteiligten durch kanonische Lektüren ihre gemeinsame Liebe" zu bestimmten Texte und ihren Schreibern entdecken. Im 19. und 20. Jahrhundert, im Zeichen eines wachsende Bildungsstandes und konsolidierten Nationalstaates, sei die humanistische Überzeugung die Grundlage der Gesellschaft geworden. Diese Epoche aber sei mit der Etablierung de Massenkultur und neuer Massenmedien nach 1918 und 1945 unwiderruflich abgelaufen. – Bis hierher bietet Sloterdijk kaum mehr als konventionelle Medienkritik in Postmoderne-Vokabular.

Nach 1945 wurde der illusionäre Humanismus der westdeutschen Gesellschaft erneu aufgepfropft. Das war, so Sloterdijk, einerseits verständlich, weil man de "NS-Barbarei die vermenschlichende Macht der Klassiklektüre" entgegensetzen un mit einer "Goethe-Jugend die Hitler-Jugend" vergessen machen wollte. Man hab die Tatsache, daß die Schriftlektüre ihren beherrschenden Einfluß längst verlore habe, damit freilich nur verschleiert. Heute könne man die Medien frei wählen, und d zeige es sich, daß das "Amphitheater" als Ort entfesselter Bestialitä attraktiver sei als der humanisierende Widerstand des Buches dagegen. Das Modell de literarischen Gesellschaft werde unter diesen Umständen der "biologische Offenheit" und moralischen Ambivalenz" des Menschen nicht mehr gerecht.

Damit bestätige sich, was Heidegger 1946 in seinem "Brief über de Humanismus" festgestellt hatte: Daß der "Humanismus" den Zugang zu de wesentlichen Fragen des Menschseins versperre, wie er den Menschen sowohl zu hoch als auc zu niedrig ansetze. Zu hoch, weil er den Menschen metaphysisch übersteigere, zu niedrig weil er die Dimension des Mensch-Seins nicht erfasse. Denn das Sein ist mehr als die Existenz eines vernunftbegabten Lebewesens, es umfaßt die "Dimension de Ekstatischen der Ek-sistenz". Die "Stille-Hörigkeit", die nötig ist, u den Auftrag des Seins zu erlauschen, erfordere eine weitaus größere Hingabe als alle Schriftgelehrtentum, und die Zähmung des Menschen durch die von Heidegger verlangt "besinnliche Askese" greife ungleich tiefer als alle Humanisierung. De Humanismus erscheine in dieser Perspektive als menschliche Selbstüberhebung, de Bolschewismus, der Nationalsozialismus und der Amerikanismus als Versuche einer humanitä verbrämten Weltherrschaft. Auch der Nationalsozialismus sei eine Kombination au Humanismus und bestialischer Enthemmung gewesen.

Mit Nietzsche bezeichnet Sloterdijk die Humanisierung des Menschen als sein Domestizierung durch die "Verbindung von Ethik und Genetik". Dies sei "da große Ungedachte" des abendländischen Denkens. Sloterdijk sieht künftig "Perioden der gattungspolitischen Entscheidungen" anbrechen.

Daher fordere er, an Platos Staatsideen anknüpfend, "Regeln für den Betrieb vo Menschenparks" aufzustellen. Bei Plato bestehe die Staatskunst de "Expertenkönigtums" und "Hirten" (der hier als Mischung aus de heideggerschen "Hüter des Seins" und einem verantwortungsbewußte Züchtungstechniker interpretiert wird), in der "freiwilligen Herdenwartung ... übe freiwillige lebendige Wesen", "dessen Rechtsgrundlage die Einsicht ist, wi Menschen am besten zu sortieren und zu verbinden wären". Dieser Hirte müsse ei "Über-Humanist" sein und an der "Eigenschaftsplanung bei einer Elite" arbeiten. Man braucht Sloterdijk nicht bis in jede seiner Sprach- und Denkfiguren hinei folgen, man kann seine unbekümmerte Verknüpfung bzw. fehlende Transformationen vo philosophischen, politischen, historischen, ethischen, sozialen und biologische Bedeutungsebenen und -bereichen kritisieren und sogar fragen, ob er den Medien-Skanda nicht sogar wollte. Andererseits gehört die provokante Zuspitzung nun mal zur Struktu eines halbwegs interessanten Diskurses. Es bedeutet keine Absage an Demokratie un Humanität, wenn man ihre Brüchigkeit und inneren Destruktionskräfte aufzeigt und die falschen Sicherheiten, die als Denkvoraussetzungen akzeptiert sind, demontiert. I Gegenteil, was Sloterdijk unübersehbar umtreibt, ist die Sorge, wie Demokratie und ei entbestialisiertes, humanisiertes Leben fernerhin möglich sein sollen. Dabei faßt e auch Probleme und Gefahren ins Auge, die sich angesichts explodierender biogenetischer un medizinischer Möglichkeiten (Samenbanken mit dem Erbgut von Nobelpreisträgern künstliche Auslese durch die Verbindung von vorgeburtlicher Diagnostik und Abtreibung genetische Manipulationen usw.), der wachsenden Kluft zwichen "normalen" un Herrschaftswissen, angesichts des kulturellen Gedächtnisverlustes und des Scheiterns de Idee einer sukzessiven Humanisierung des Menschen auftun. Die Umgangssprache ist auch in diesem Punkt viel ehrlicher als das Feuilleton: Im Topos von den "Schönen un Reichen" ist ganz selbstverständlich die reale Verbindung von ökonomischem politischem, sozialem und biologischem Kapital gespeichert.

Es wirkt natürlich wie ein Schock, durch Sloterdijks Heidegger-Lektüre zu erkennen wie ahnungslos und oberflächlich die Modelle der Zivil-, Risiko- ode Bürgergesellschaften aus bundesdeutscher Ideologieproduktion in Wahrheit sind. Die Abgründe, über die wir heute schon balancieren, sind viel tiefer und dunkler, als ei neuer "deutscher Sonderweg" es vielleicht jemals sein könnte. Wenn nun die "westliche Wertegemeinschaft", als Garant gegen eine neue Barbarei gepriesen als Variante allgemeiner Seinsvergessenheit dasteht, verliert eine politische Theori ihren theologischen Unterbau. Dann beginnt die Götzendämmerung und kündigt sich fü Hohepriester und ihre Ministranten der Verlust von Funktionen und Pfründen an. Übrigens Sloterdijks "Menschen-park" ist allemal humaner als die aktuelle Diskursethik Deren Regeln werden durch Verbots- und Tabutafeln bestimmt, und jeder, der spätesten nach dem dritten Anruf nicht pariert, wird der Isolationsfolter überantwortet, am beste lebenslang. Soviel zum Thema real existierender "Bestialisierung"
Wenn wenigstens darüber ein kurzes Innehalten einsetzte, hätte Sloterdijks Artike schon einen wichtigen Zweck erfüllt.


 
     
     
 
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