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Pulsschlag

 
     
 
Bekanntlich wächst der Mensch mit seinen höheren Aufgaben, doch wenn nicht alles täuscht, wachsen mit dieser Einsicht auch die Gefahren: Speer, Pfeil und Bogen mußten der Arkebuse weichen, später der Karabiner dem MG. Doch nicht nur die brachiale Gewalt änderte sich, auch die Mittel, um sich der Denkweise und Inneneinsichten anderer Menschen zu versichern, durchlaufen eine Entwicklung.

Wollten sich Heerführer oder Fürsten in früher Zeit Einblicke in die Redlichkeit des Gegenübers verschaffen, so fühlten sie einander bei der Begrüßung den Puls: Schlug dieser ruhig und gleichmäßig, so konnte man getrost auf beiderseitiges Vertrauen hoffen. Geheimgesellschaften prüften später untereinander so, um die strikte Vertraulichkeit zu sichern. Doch im Verlaufe der Zeit änderten sich die Anschauungen hierüber und spätestens mit der Einführung des Telefons konnte man weit über diesen Pulsschlag hinaus auch den gedanklichen Gang eines möglichen Gegners durch sinnreiche Mechanismen verfolgen, abhören.

Was im Einzelfall Geschmacksache oder krankhafte Neigung ist, scheint für den Staat die ideale Gegebenheit zu sein, die Neigungen
und Aversionen, die Zustimmung oder die Feindseligkeit seiner Angehörigen kennenzulernen; er ist in gewisser Weise immer Gegner individueller Bestrebungen, sofern sie sich dem Ungeordneten und Unkontrollierbarem zuneigen. Was nun im Kriegsfall bei Gegnern ganze Divisionen, Schlachtschiffe und Luftgeschwader ersetzen kann und erlaubt und hoch willkommen ist, wird in modernen demokratischen Staaten in Friedenszeiten geächtet: der Lauschangriff auf die Bürger.

Alle Verfassungen garantieren die Unverletzlichkeit der Wohnung und sichern die Wahrnehmung bürgerlicher Grundrechte. Auch in der Bundesrepublik Deutschland gilt dies. Wie wohltuend dieses Gefühl von Rechtssicherheit ist, erweist sich angesichts der immer noch neu aufkommenden Nachrichten über den geradezu maßlosen Mißbrauch staatlicher Macht durch das schmählich untergegangene SED-Regime.

Wenn nunmehr angesichts der wachsenden Zahl von Verbrechen dazu übergegangen werden soll, mittels technisch raffinierter Einrichtungen frühzeitig Kenntnis über Verbrechensplanung zu erlangen, so könnte der redliche Bürger, durch systematischen Polizeischutz in Großstädten ohnehin nicht verwöhnt, zu der beruhigenden Einsicht kommen, daß von nun an den Spitzbuben müheloser das Handwerk gelegt werden kann. Doch, Vorsicht, ist das so? Berufsverbrecher im großen Stil, die heute nur noch selten mit MPI und Sprengstoff operieren, sondern mit dem großen gedanklichen Planspiel, wissen selbstverständlich auch technische Mittel der Polizei auszuschalten oder zu umgehen. Schon ein lautstark eingeschaltetes Radio vermag Abhörwillige empfindlich zu stören.

Da Geistliche bei Beichtgesprächen vom Lauschangriff ausgenommen sind, könnten Beichtstühle, so witzelt Spiegel-Chef-Augstein, zu Treffpunkten von Gaunern werden. Und in der Tat, verwegene Gangster fänden mühelos die abgelegensten Winkel oder unvermutete Plätze (Bundestag?), um ihr schändliches Tun zu bereden und generalstabsmäßig zu planen.

Ganz im Gegensatz dazu Ärzte, die auf ihre Praxen angewiesen bleiben, ebenso Rechtsanwälte und Journalisten, die allesamt gleichsam von Berufswegen mit oben und unten der menschlichen Spezies zu tun haben, was ihnen aber der Gesetzgeber bislang ausdrücklich einräumt und sogar garantiert. Dies soll plötzlich nicht mehr gelten?

Die einzige Möglichkeit für Sonderregelungen stiftet der Krieg, doch dafür sind schon die Notstandsgesetze geschaffen. Für die anderen Fälle, insbesondere die immer sprunghafter ansteigende Kriminalität, ist stärker nach den Ursachen zu fragen. Die zunehmende Verslumung der größeren deutschen Städte hat u. a. ihre Ursache in einer falsch gehandhabten Asylantenpolitik, ebenso das wachsende Analphabetentum, bei dem Unwissenheit mit schlechter Berufsausbildung einhergeht, was zumeist wiederum zu kriminellen Verstrickungen führt. Die Verslumung vergrößert zudem auch die Entfremdung zwischen den Menschen, was zu vergiftendem Mißtrauen aber auch zu bisher nie gekannter Indifferenz gegenüber dem Nächsten führen kann.

Geht so also das Argument Berechtigung für den Lauschangriff weithin in die Leere, so darf die mögliche politisch-rechtliche Gefährdung der Verfassung nicht unerwähnt bleiben. Daß die SPD mit einer gezierten Attitüde nach dem Motto "So nicht" nur Arabesken an das bedenkliche Werk anheften will, mag ihren linken Flügel vielleicht beschwichtigen.

Aber der Gedanke scheint nicht so abwegig zu sein, daß der "Große Lauschangriff" fast wie eine klammheimlich gerittene Attacke in Sachen "Große Koalition" wirkt. Sollte sich aber allein nur dies bestätigen, so wäre es zugleich der Beweis dafür, wie leichtfüßig der Geist der Verbrechensbekämpfung die Front zu wechseln versteht, um als Häscher des politisch freien Geistes in Angriffsstellung zu gehen. Dies wäre freilich der falsche, der unredliche Pulsschlag.

 

 
     
     
 
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