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Rapallo: Vom Krieg zum Bündnis

 
     
 
Am 3. März 1918 unterzeichneten die Mittelmächte Deutschland und Österreich-Ungarn in Brest-Litowsk einen Friedensvertrag mit Sowjetrußland, der den Ersten Weltkrieg an der Ostfront beenden sollte.

Damit schien zunächst die Strategie
Deutschlands aufzugehen, durch die Unterstützung der Bolschewiki (Lenin im plombierten Waggon nach St. Petersburg, Finanzhilfe mehr als 180 Millionen Mark) die Revolution auszulösen, mit Rußland Frieden zu schließen und so den Zwei-Fronten-Krieg zu beenden.

Für die Sieger der Oktober-Revolution 1917 waren die Friedensverhandlungen der erste Auftritt auf diplomatischem Parkett. Das ausgeblutete Rußland benötigte dringend Frieden, das hatte der neue Staatschef Lenin gleich nach der Machtübernahme in einem Dekret verkündet. Allerdings wollten die Bolschewiki den Frieden nicht zu billig schließen. Sie hofften darauf, daß der Feuerbrand der Revolution auch Deutschland und Westeuropa erfaßte.

Die Treffen fanden im fast völlig zerstörten Brest-Litowsk statt. Dort hatte die deutsche Armee ihr Hauptquartier an der Ostfront. Sieben Tage nach dem Abschluß des Waffenstillstandes zwischen Deutschland und Rußland am 15. Dezember 1917 begannen die Friedensverhandlungen. Die Mittelmächte waren durch den Staatssekretär des Äußeren, Richard von Kühlmann, durch den österreichisch-ungarischen Außenminister Graf Czemin und den Bevollmächtigten der deutschen Obersten Heeresleitung, General Max Hofmann, vertreten. An den Verhandlungen nahmen außerdem Vertreter Bulgariens und der Türkei teil. Als Nachteil für die Mittelmächte erwies sich, daß sie über keine einheitliche Verhandlungsstrategie verfügten.

Die Bolschewiki entsandten zunächst Adolf Abramowitsch Joffee, später Leo Trotzkij. Trotzkij forderte als Grundlage der Friedensverhandlungen einen Verzicht auf Annexion sowie eine raschestmögliche Räumung der besetzten Gebiete, das Bekenntnis zum Selbstbestimmungsrecht der Völker und schließlich einen Verzicht auf Kriegsentschädigungen. Die Verhandlungen kamen jedoch nur schleppend voran, nicht zuletzt deshalb, weil die Bolschewisten eine Verzögerungstaktik anwandten.

Dies führte dazu, daß es zunächst am 9. Februar 1918 zu einem Friedensschluß zwischen dem Deutschen Reich, Österreich-Ungarn und der Türkei mit der inzwischen unabhängigen Ukraine kam.

Einen Tag nach dem Friedensvertrag mit der Ukraine erklärte Trotzkij, daß Rußland den Kriegszustand als beendet ansehe und demobilisieren werde, ohne die deutschen Friedensbedingungen anzunehmen. Das führte zum Abbruch der Verhandlungen und zu einem neuerlichen deutschen Vormarsch am 18. Februar. Am 3. März 1918 wurde dann doch der Friedensvertrag von Brest-Litowsk unterzeichnet; darin verzichtete Rußland auf Polen, Litauen und Kurland, deren künftige Verhältnisse vom Deutschen Reich im Einvernehmen mit diesen Völkern unter Berücksichtigung des Selbstbestimmungsrechts gelöst werden sollten. Estland und Livland blieben vorläufig von deutscher Polizeimacht besetzt; sie wurden ebenso wie Georgien durch einen Ergänzungsvertrag vom 27. August 1918 vollständig aus dem russischen Staatsverband entlassen. Die Ukraine und Finnland wurden von Rußland ebenfalls als selbständige Staaten anerkannt. Rußland sollte weiter demobilisieren, im Gegenzug verpflichteten sich die Mittelmächte zur Räumung der besetzten Gebiete nach einem allgemeinen Friedensschluß. Weißrußland verblieb unter russischer Herrschaft.

Trotzdem waren die Gebietseinbußen enorm, da auch Armenien abgetreten werden mußte. Der neue Sowjetstaat verlor insgesamt 1,45 Millionen Quadratkilometer mit 60 Millionen Einwohnern sowie etwa 75 Prozent seiner Eisen- und Stahlindustrie.

Rußland trat so im Westen 34 Prozent seiner Bevölkerung und 32 Prozent seines Ackerlandes ab. Schließlich verpflichtete sich Moskau im Berliner Zusatzvertrag vom 27. August 1918, an Deutschland sechs Milliarden Goldmark an Entschädigung zu zahlen. In Geheimzusätzen wurde ein gemeinsames militärisches Vorgehen gegen die Entente-Truppen in Murmansk und Baku festgelegt. Die Zustimmung der sowjetischen Führung wurde insbesondere durch Lenin erzwungen. Er setzte auf "eine Atempause" für die innere Konsolidierung seiner Herrschaft. Ob er insgeheim bereits mit einer Niederlage der Mittelmächte im Ersten Weltkrieg rechnete, ist nicht klar. Sein Konzept ging jedenfalls weitgehend auf; denn mit dem Waffenstillstand von Compiegne am 11. November 1918 wurden der Friedensvertrag von Brest-Litowsk und der Ergänzungsvertrag von Berlin außer Kraft gesetzt.

Sowjetrußland hatte ihn bereits zwei Tage vorher, am 9. November 1918, für nichtig erklärt. Darüber hinaus gelang es den Bolschewisten, Georgien und Armenien ebenso wieder einzuverleiben wie die Ukraine. Lediglich Polen, Finnland und die baltischen Staaten konnten ihre Unabhängigkeit vorläufig wahren. So blieb Brest-Litowsk eine Episode, ein "vergessener Frieden", wie Historiker schrieben.

Versailles hatte Deutschland politisch wie wirtschaftlich vor unlösbare Aufgaben gestellt, besonders die über viele Jahre zu leistenden Reparationszahlungen in Milliardenhöhe, die von der stark geschwächten Volkswirtschaft kaum zu erbringen waren.

Auch Rußland existierte nach Kriegsende jahrelang am Rande der Katastrophe. Seit der Oktoberrevolution befand sich das ehemalige Zarenreich in einem blutigen Bürgerkrieg. Starken, vom Ausland unterstützten militärischen Kräften war beim Versuch, die Herrschaft der Kommunisten zu stürzen, jedoch kein Erfolg beschieden, Rußland blieb international isoliert.

Der britische Premierminister David Lloyd George hatte schon bald nach 1918 erkannt, daß ohne wirtschaftliche Erholung Deutschlands eine Gesundung ganz Europas nicht möglich sein würde. Deshalb hatte er gegen den Widerspruch Frankreichs auch Vertreter der besiegten Mächte zu einer Weltwirtschaftskonferenz einladen lassen, die vom 10. April bis 19. Mai 1922 in Genua tagte und auf der über das künftige Verhältnis zu Rußland entschieden werden sollte.

Doch der Mißerfolg der Konferenz war programmiert: Auf Druck des französischen Ministerpräsidenten und Außenministers Raymond Poincaré wurden Reparations- und Abrüstungsfragen nicht auf die Tagesordnung gesetzt; die USA waren in Genua gar nicht erst vertreten. Die russische Delegation unter Führung von Außenminister Georgij Tschitscherin wurde besonders hofiert, weil man von ihr einiges erwartete: Frankreich erhoffte die Anerkennung einer Schuld von 30 Milliarden Goldfranken, die es einst dem Zarenreich für Rüstungszwecke zur Verfügung gestellt hatte. Als Gegenleistung versprach Paris, russische Reparationsforderungen an Deutschland zu unterstützen. Dies wäre darauf hinausgelaufen, daß die Deutschen über den Umweg von Reparationszahlungen an Rußland weitere Milliardenbeträge an Frankreich gezahlt hätten.

Die Briten hofften, die Russen zur Herausgabe der Ölquellen in der Kaukasus-Region, deren Besitztitel bei britischen Gesellschaften lagen, überreden zu können. In beiden Fällen blieben die Russen jedoch hart. Aus handels-, militär- und außenpolitischen Gründen erstrebten Sowjetrußland und Deutschland seit Anfang 1920 eine Annäherung. Nachdem 1921 ein erstes Wirtschaftsabkommen vorausgegangen war, wurden Verhandlungen über einen politischen Vertrag eingeleitet, durch den die nach dem Krieg unterbrochenen diplomatischen und konsularischen Beziehungen in vollem Umfang wiederhergestellt werden sollten.

Der Versuch des deutschen Außenministers Rathenau, in Genua mit den westlichen Mächten zu einem Übereinkommen über die Milderung der Deutschland aufgebürdeten Reparationslasten zu gelangen, erwies sich indessen als aussichtslos. Unmittelbare Verhandlungen der Westmächte mit der sowjetischen Delegation unter Ausschluß der Deutschen erweckten bei diesen zudem die Besorgnis, daß man sich auf Kosten Deutschlands einigen könnte.

In dieser Zwangslage wurden die Deutschen zu einem erfolgreichen Vertragsabschluß mit den Russen, die längst auf die deutsche Karte gesetzt hatten, geradezu getrieben. In den Morgenstunden des 16. April 1922 rief das russische Delegationsmitglied Adolf Joffe Staatssekretär Maltzan an und bat die deutsche Delegation zu einem Treffen in Rapallo östlich von Genua, wo die russische Delegation untergebracht war.

Um 18.30 Uhr – vor knapp 76 Jahren, am 16. April 1922 – unterzeichneten der deutsche Reichskanzler Josef Wirth und Außenminister Walther Rathenau sowie der sowjetrussische Außenmister Georgij Tschitscherin in Rapallo bei Genua einen Vertrag, in dem Deutschland und Rußland einen Schlußstrich unter ihr durch den Ersten Weltkrieg belastetes Verhältnis zogen. Das Deutsche Reich und die Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik (RSFSR) verzichteten auf gegenseitige Kriegsentschädigungen und Ansprüche, beschlossen die sofortige Aufnahme diplomatischer und konsularischer Beziehungen und vereinbarten die Anwendung der Meistbegünstigungsklausel beim gegenseitigen Handel. Damit wurde auch der Ring der Isolierung, den Frankreich um das Deutsche Reich legen wollte, gesprengt. Heute gilt Rapallo als Symbol der deutsch-russischen Verständigung.

Mit Verblüffung und Verärgerung reagierten die Westmächte auf den Vertrag von Rapallo. Der Mißerfolg der Konferenz von Genua ließ sich nicht mehr verhindern. Lloyd George hatte sich für seine Liberale Partei günstige Auswirkungen auf die im Herbst 1922 anstehenden Unterhauswahlen erhofft, er mußte zurücktreten. Und Poincaré wiederum mußte seine Bemühungen, eine Loslösung des Rheinlandes vom Deutschen Reich zu erreichen, nach Rapallo aufgeben.

Der Vertrag war, wie der Staatsrechtler Norman Paech feststellte, "ein erster Schritt auf dem Weg der Durchsetzung neuer Völkerrechtsprinzipien". Zum ersten Male wurde die Achtung der Souveränität zweier Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnung festgeschrieben. Er leitete eine Periode guter deutsch-sowjetischer Beziehungen auf allen Gebieten ein.

Daß Rapallo auch 76 Jahre später zumindest auf russischer Seite nichts an Symbolkraft eingebüßt hat, zeigt sich in einem besonderen Geschenk, das der russische Präsident Boris Jelzin bei seinem Deutschlandbesuch im April vergangenen Jahres im Gepäck hatte: Als "Geste des guten Willens" im Konflikt um die sogenannte "Beutekunst" brachte er Bundeskanzler Helmut Kohl den persönlichen Nachlaß des ermordeten deutschen Außenministers Walther Rathenau mit. Als Architekt des Rapallo-Vertrages stand der am 24. Juni 1922 getötete Rathenau wie nur wenige deutsche Politiker für die deutsch-russische Annäherung, eine politische Strategie, die sich auch in den kommenden Jahren als durchaus aktuell erweisen könnte.

 
     
     
 
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